Stimmen aus dem Jenseits

Nebeneinander habe ich zwei merkwürdige Bücher gelesen, die mich noch immer beschäftigen, ohne dass ich Spaß am Echo, das sie in mir auslösen, finden könnte. Der Grund ist die Perspektive, aus der die beiden Autoren erzählen. Sie erzählen aus dem Jenseits.

Das eine Buch hat Ian McEwan geschrieben: „Nussschale“. Eigentlich ist es ein Kriminalroman, denn ein Mord geschieht, begangen von der Ehefrau und ihrem Geliebten, der zugleich ihr Schwager ist. Der Geliebte ist ein Schwachkopf. Was sie an ihm fasziniert, wird beschrieben auf vielen Seiten: der Sex. Über Sex verständigen und bestätigen sie sich. Denn davor und danach pesten sie sich, können nichts miteinander anfangen und leben mit viel Alkohol in den Tag hinein. Nur wenn sie über den Mord an dem Gatten und Bruder phantasieren, sind sie sich nahe. Das heruntergekommene große Haus, das eigentlich dem Gatten gehört, wollen sie nach dem Mord verkaufen und vom Erlös ausschweifend leben.

Der Gatte ist schwach. Er schreibt erfolglos Gedichte, die er im Eigenverlag druckt. Er liebt noch immer die untreue Ehefrau. Immer mal wieder kommt er vorbei, liest ihr eines seiner neuen Gedichte vor, schaut sie hungrig an, hofft darauf, dass er bleiben darf und lässt sich dann von ihr wie ein lästiger Vertreter für Geschirrhandtücher aus dem Haus komplimentieren. Sie fühlt sich gut, sie lebt auf, wenn sie ihn demütigen darf.

Sie ist ein Miststück, er ist ein lieber Kerl. In ihr wachsen Mordphantasien. In ihm reifen Gedichte. Am Ende seines Lebens winkt ihm eine Glückssträhne. Seine Gedichte sind für den Auden-Preis nominiert. Beschwingt rafft sich auf, er trifft Entscheidungen. Er will in das Haus einziehen und es renovieren. Seine Frau und sein Bruder sollen schleunigst ausziehen. Bei seinem letzten Besuch ist eine junge Frau an seiner Seite. Seine Muse, folgert die plötzlich eifersüchtige Ehefrau messerscharf.

Der Schwächling zeigt Stärke. Er muss sterben. Die beiden inszenieren den Mord als Selbstmord. Er stirbt am Steuer seines Autos. Die beiden Mörder sind nicht schlau genug für den perfekten Mord, wen wundert’s. Die Polizei fährt vor.

Shakespeare lässt grüßen. Der Bruder raubt dem Bruder die Frau. Gemeinsam bringen sie den Ehemann um. Die Aussicht auf Mord zwingt sie zusammen. Die Ausführung treibt sie auseinander. Außer Lust hält sie nichts zusammen.

Die Perspektive, aus der die „Nussschale“ erzählt wird, ist ungewöhnlich. Das Jenseits ist das ungeborene Kind. Es redet, kommentiert und reflektiert wie ein Erwachsener. Bangt um den Vater, findet den Onkel schrecklich, der ständig mit der Hochschwangeren Sex haben will, was ihr mindestens genauso gut gefällt, aber den Fötus einengt. Ihm graut davor, in diese Welt geworfen zu werden. Er liebt und hasst seine Mutter. Als die Polizei läutet, platzt die Fruchtblase. Es gibt kein Entrinnen vor dem Leben.

Dass ein werdendes Kind zum Erzähler wird, ist ein literarischer Kniff. Man kann ihn gut oder schlecht finden, gelungen oder misslungen. Ich finde ihn nur halbwegs gelungen. Konventionell erzählt, hätte daraus ein richtig gutes Buch werden können. Die künstliche Perspektive lenkt nur ab. Das Kind im Leib der Mutter berichtet vom unangenehmen Druck des Penis, von der berauschenden Ankunft des Weins, vom ungestillten Hunger und der Angst vor dem Leben. Was soll’s?

Das andere Buch heißt „Post Mortem“, Michael Jürgs hat es todkrank geschrieben. Er war ein vorzüglicher Geschichtenfinder, ein unermüdlicher Geschichtenerzähler. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber gut genug, um von ihm beeindruckt zu sein. Wenn ich ihn traf, hatte er immer schon alles gelesen, gesehen und gehört und teilte gern.

Dieses Buch handelt vom Tod und vom Leben im Jenseits danach. Dort erfährt Michael Jürgs von seinem Bruder, warum der sich damals umgebracht hat, da war er 20 Jahre alt. Er hört zu, als Roger Willemsen ein Gespräch mit Henri Nannen, Rudolf Augstein, dem Senator Burda und Axel Springer moderiert. Er trifft Gutenberg (den Buchdrucker) und Einstein, Picasso und Steve Jobs. Er trifft viele, die zu seiner Zeit lebten und vor ihm gegangen waren.

Das ist kapitelweise amüsant, aber der wehe Spaß an der Lebenskraft im Dahinsterben verging mir dann doch. Ich fühlte mich schlecht dabei, pietätlos, ich wollte ihm die epische Ausschweifen gönnen. Ich dachte mir, dass die Erinnerungsseligkeit auch ein großer Schmerz gewesen sein muss. So viel Verlust, so viele gestorbene Freunde oder auch Feinde. Dazu das Wissen, dass er ihnen bald folgen wird – und zugleich dieser letzte Triumph über den Gevatter Tod, dem er das Schreiben abrang, 270 Seiten lang. Auf ihnen konstruiert er sich ein irgendwie geartetes Jenseits, weder Himmel noch Hölle, nur ein Sammelort zur Einkehr für die Verstorbenen. Dort will er hin, wenn sich das Sterben schon nicht vermeiden lässt.

Dass sich Michael Jürgs eine Geschichte für sein Leben nach dem Tod ausdachte, ist typisch Jürgs. Aber ich hätte liebend gerne konventionelle Memoiren aus seiner Feder gelesen. Nachkriegsgeschichte von einem, der 1945 geboren wurde, alles erlebt und alle gekannt hat. Ein politischer Mensch sondergleichen, Spurensucher und Interviewkünstler. Schade, dass er lieber über andere schrieb und sie im Irgendwo zu treffen gedachte, die Weggenossen, die noch eitler waren und in aller Selbstverständlichkeit größer von sich dachten als er, was nun wirklich nicht gegen ihn spricht.

Heute Abend läuft auf Arte „Drei Tage in Quiberon“. Ich schaue mir den jungen Herrn Jürgs an, der die schöne, traurige Romy Schneider im Jahr 1981 eigentlich nur interviewen soll, aber daraus entsteht etwas anderes: eine Lebensbeichte, eine Seelenschau. Und daraus wiederum entsteht Jahre später ein beeindruckendes Buch über Romy Schneider. Doch das ist eine andere Geschichte.

In Angela Merkels Schuhen

Gestern waren wir im Sonnenschein am Teltow-Kanal spazieren. Ein Schlepperverband fuhr leer vorbei, und wir dachten schon, er liege zu hoch, um durch den Brückenbogen zu passen, war aber nicht so. Zwei Radfahrer überholten uns, eine ganze Reihe Motorboote lagen eingemottet am Gegenufer. Auf dem Rückweg durch den Wald fanden wir einen kleinen See, an den eine ausladende Wiese grenzte. Drei Menschen saßen auf einem Baumstamm, den Zeichenblock vor sich, und malten dieses Idyll, konzentriert und schweigsam. Ein Hund sprang ins Wasser und holte den dicken Ast mit kläffender Begeisterung heraus.

Die Welt kann seltsam friedlich sein. Unwirklich. Unheimlich. Die Diskrepanz ist ja auch zu grell. Der Himmel so blau und das Virus so tödlich. Spazierengehen in Gottes freier Natur und täglich neue Horrorzahlen. Ich zähle zu den Risikopatienten, denen das Virus schwer zusetzen kann, wenn es mich heimsucht. Ich hatte als Jugendlicher Tuberkulose und verbrachte ein halbes Jahr in einem Lungenheilsanatorium. Das vergisst man nie mehr, das steckt tief im Gemüt, auch bei mildem Sonnenlicht und dem blauesten Himmel. Mir macht es keinen Spaß, die Quarantäne einzuhalten, aber besser als der Tod ist Selbstdisziplin allemal.

Die dritte Woche im Ausnahmezustand ist vorüber. Auf den Balkonen singen und klatschen sie nicht mehr, wie schade. Die Spontanität hat sich ein bisschen erschöpft, ist eben so. Immerhin schlagen die Tageszeitungen unverdrossen ganze Seiten frei und stellen  Alltagshelden vor, die das Land am Laufen halten: die Altenpflegerin, den Lkw-Fahrer, die Ärztin, den Restaurantbetreiber, der die Speisekammer weg kocht und das Essen unentgeltlich an Krankenhäuser oder Polizeistationen ausliefert. 

Nach wie vor lassen sich etliche Menschen einiges in der Not einfallen, was das Herz wärmt. Die Soziologen, die Experten für gravitätische Begriffe sind, sagen dazu: Die Zivilgesellschaft tritt in die Lücke ein, die der Staat lässt. Ist gut so, muss so sein, diese Nachbarschaftshilfe ist wunderbar –  österlich ausgedrückt: diese christliche Nächstenliebe im Ausnahmezustand.

Die Geduld hält an, so sieht es zumindest aus. Klaglos standen am Samstag in Berlin lange Schlange vor dem Schlachter, dem Bäcker,  dem Obstladen, dem Supermarkt. Polizeiautos fuhren durch die Gegend, inspizierten Spielplätze, Parks und Wochenmärkte. Kein Aufruhr, wenig Ärger, Abstand und Anstand. Die Obstfrau auf dem Winterfeldmarkt verabschiedete ihre Kunden mit einem flotten Spruch, der zm Nachdenken einlädt: Bleiben Sie gesund und demokratisch!

Gesundheit ist Glückssache, kein Verdienst. Man steckt sich an oder nicht. Man stirbt oder nicht. Das Leben kann auch Lotterie sein. Das Virus trifft, wen es trifft. Es trifft nicht, wen es nicht trifft. Eine 101 Jahre alte Frau überstand die Lungenkrankheit, habe ich gestern gelesen, wunderbar. Würde ich sie überstehen?

Demokratisch bleibt das Land ganz bestimmt. Oder haben Sie Zweifel? Ich kenne eigentlich niemanden, der nicht in aller Ruhe davon ausgeht, dass wir uns irgendwann wieder öffentlich mit vielen Leuten treffen können – dass wir tun und lassen können, was wir wollen, ohne dass uns die Obrigkeit auseinander treibt. An Angela Merkel war noch vor ein paar Wochen mehr zu kritisieren als momentan, aber autoritärer Anwandlungen hat sie niemand bezichtigt.

Jetzt steht die vierte Woche an. Am Mittwoch schalten sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten zusammen und  entscheiden darüber, wie es weiter geht. Auflockern oder weiter so, das ist die Frage. Wenn Geduld und Vertrauen nicht bröckeln sollen, muss die Bundesregierung weiterhin so klug handeln, wie sie bislang gehandelt hat. Der Rat der Wissenschaftler ist wichtig, aber die politische Entscheidung ist komplexer. So ist das eigentlich immer, aber diesmal hängt noch gewaltig mehr vom richtigen Timing ab.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Kanzlerin und müssen sich durch dieses Labyrinth bewegen: Mittelstand und Industrie mahnen zur Eile. Kleine Geschäfte wie Friseure, Buchläden, Cafés, Boutiquen gehen pleite oder stehen kurz davor. Die Mitarbeiter raten Ihnen, Sie sollten sich nicht unter Druck setzen lassen. Das Reden überlassen Sie an Ostern dem Bundespräsidenten, der die Krise zur Charakterfrage erklärt.

Die Virologen raten von einer Lockerung ab, da die Pandemie ihren Höhepunkt noch nicht überschritten hat. Armin Laschet, der Sie beerben will, gibt seine abweichende Meinung zu erkennen und profiliert sich auf ihre Kosten. Die beiden SPD-Vorsitzenden verlangen Steuererhöhungen für die Reichen, der bayerische Ministerpräsident ist für Steuersenkungen nach Corona, um den Konsum zu erleichtern und damit die Wirtschaft anzukurbeln.

In den Talkshows hagelt es Meinungen, was in Deutschland auf dem Spiel steht. Intellektuelle sagen mit gewichtigen Worten, das Land halte dieses künstliche Koma nicht lange aus.

Und dazu Tag für Tag mehr Infizierte und mehr Tote.

Schwieriger kann eine Entscheidung gar nicht sein. Niemand ist zu beneiden, der sie treffen muss. Selten ging es in den letzten Jahrzehnten um so viel wie heute. Da können wir nur Glück für das richtige Timing wünschen, in unserem eigenen Interesse.

Veröffentlicht an Ostermontag auf T-Online.

Im Mainstream, ausnahmsweise

Ich habe eigentlich etwas gegen Mainstreams. Mir fällt dann immer ein, was dagegen spricht. Ich vermute notorisch, dass einige aus Denkfaulheit, Opportunismus oder Apathie mitmachen. Das war so, als Lustangst wegen des bevorstehenden Nuklearkriegs kursierte, als der Wald starb oder die Inflation nach der Weltfinanzkrise 2007/8 drohte und der Euro platzen sollte oder die Rechte die übernächste Bundestagswahl gewinnen würde, ganz bestimmt und unabänderlich.

Wir alle wissen nicht, ob die Einschränkungen unserer Freiheit so dringend notwendig waren, wie sie eingeführt wurden. Wie die Regierung in Gestalt von Kanzlerin/Finanzminister/Gesundheitsminister argumentierte, klang es mir plausibel. Ja, ich habe Vertrauen in die Regierung. Mir macht sie nicht den Eindruck, dass sie unter totalitären Anwandlungen leidet. Ich verlasse mich darauf, dass die Maßnahmen so schnell wie möglich aufgehoben werden, meinetwegen Schritt für Schritt.

Diesmal bin ich aus Überzeugung in dem Mainstream, der mit dem Vorgehen der Regierung in Zeiten von Corona einverstanden ist und Geduld übt und den Frühsommer dort draußen genießt und dabei Abstand hält und das Beste aus dem Schlechten macht.

Natürlich schaue ich mich nach anderen Meinungen um, ob ich etwas übersehe, ob mir was entgeht, ob ich falsch liege mit meinem skeptischen Optimismus. Im „Spiegel“ dieser Woche steht ein Streitgespräch zwischen Katja Suding (FDP) und Karl Lauterbach (SPD). Katja Suding hatte diesen Satz getwittert, mit dem sie die erhoffte Aufregung auflöste: „Was ist das Leben wert, wenn wir uns die Freiheit zum Leben nehmen lassen?“ Sie spielte nicht etwa auf einen Artikel, einen Essay oder ein Buch über den Widerstand unter Hitler an. Was wie Hannah Arendt klingt, ist O-Ton-Suding und ein Kommentar zur Lage der Nation im Bann von Corona.

Als ich den Satz zum ersten Mal las, dachte ich, sie meint: lieber tot als unfrei. Meinte sie aber nicht. Im Grunde meinte sie gar nichts, was ihr aber zu einem Streitgespräch im „Spiegel“ verhalf, in dem sie dann anderes gemeint haben wollte, was sie eingehend interpretierte, womit sie sich zwar immer weiter vom ursprünglich Satz entfernte, aber egal. Sie sagte, sie wollte nur mal darauf hinweisen, dass ökonomisch gesehen Existenzen auf dem Spiel stehen und Ungewöhnliches mit unseren Grundrechten passiert, was umgehend wieder zurechtgerückt werden muss. Als hätte irgendjemand bezweifelt, dass die Rückkehr zur demokratischen Normalität mit freiem Zugang zur Öffentlichkeit dem jetzigen Zustand vorzuziehen wäre.

Es ist ja auch nicht einfach für die Parteien, die in der Opposition sind. In der Stunde der Exekutive, die von einer überragenden Mehrheit mit Vertrauen bedacht wird, fallen sie nicht auf. Die FDP ist ohnehin übel dran, weil sie zwei schwere Fehler begangen hat: Ihr hängt das Platzen der Jamaika-Koalitionsverhandlungen an und auch Erfurt, als sich einer der Ihren in aller Naivität von der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Beide Fehler sorgen für ziemlich starken Schwefelgeruch.

Die Linke hält sich zurück. Vielleicht nutzt sie die Pause zur Selbstbesinnung oder jedenfalls zur Selbstbetrachtung. Den Charme des Underdogs mit besonderer Pflege der DDR hat sie eingebüßt. Im Osten fällt sie inzwischen unter Establishment, ein Umstand, der sie nicht amüsiert. Schließlich stellt sie die stärkste Partei und den Regierungschef in Erfurt, wenn auch auf Abruf.

Am meisten haben die Grünen zu verlieren. So schön waren sie auf dem aufsteigenden Ast, so schön profitierten sie von der Schwäche der Volksparteien, die längst keine mehr sind, aber mit dem Akzeptieren Schwierigkeiten haben. In der verloren gegangenen Normalität trieben die Grünen unter Habeck/Baerbock schier unaufhaltsam nach oben, aber nichts ist unaufhaltsam, auch wenn die Ereignisse nicht abzusehen sind, die plötzlich vieles unter neuem Licht erscheinen lassen. Was tun? Freundlich bleiben. Pragmatisch bleiben. Die Regierung loben. Good governance einfordern. Abwarten. Hoffen.

Die AfD hat es am Schwersten, was ich bestimmt nicht bedaure. Ihr ist der Feind abhanden gekommen. Sie kann nicht sagen, was sie am liebsten sagt: nein und alle weg und alles muss anders werden. Den starken Staat, den sie liebt, gibt es jetzt. Und weil die Rechte keine Beachtung findet, beschäftigt sie sich mit sich sich selber. Jörg Meuthen hat ausgesprochen, worum es geht. Vermutlich kommt es jetzt noch nicht zur gewünschten Spaltung, aber der Spaltpilz sitzt in der AfD und wird seine Wirkung entfalten, darauf kann man sich einigermaßen verlassen.

Ostern steht bevor. Das Wetter wird schön und warm. Am 19. April wissen wir mehr darüber, wie lange der Ausnahmezustand anhalten wird und wann wir zur Normalität übergehen. Österreich beginnt vorsichtig damit. Wir bald auch, oder?

Wie verhindern wir die nächste Pandemie?

Während wir uns in Geduld üben, um die uns die Bundeskanzlerin bittet, und uns fragen, ob wir denn wenigstens in den Sommerurlaub fahren können, schreiben bestimmt schon etliche Menschen an Büchern über das Leben mit Corona: in Romanen wie in Sachbüchern. Die Rechte an einem Augenzeugenbericht aus Wuhan, der Quelle des Virus, sind schon verkauft.Über die Symptome wissen wir Bescheid, weil wahrscheinlich jetzt schon jeder jemanden kennt, den es erwischt hat oder der es es überstand. An jedem Morgen erfahren wir, wie viele Menschen seit gestern erkrankt und wie viele davon gestorben sind. Wirklich gespenstisch, wirklich surreal das alles.

Deutschland ist gut daran, aber das kann uns auch nicht beruhigen, weil der Infektions-Höhepunkt erst bevor steht, wie uns die Wissenschaftler vorwarnen. Vor Ostern? Nach Ostern? Unsere Regierung hat die richtigen Vorkehrungen getroffen, wir halten die neuen Regeln meistens ein, wir haben ein vorzügliches Gesundheitssystem, wir flachen die Kurve ab, aber das Virus verschont uns trotzdem nicht. Nicht leicht, geduldig zu bleiben.

Wir bleiben im Bann der Lungenkrankheit, solange kein Medikament gefunden wird, das helfen kann. Wann wird es gefunden Bis Weihnachten? Bis nach Weihnachten? Wissenschaftler weltweit fahnden nach einem Impfstoff. Es dauert, sagen sie uns, es zieht sich hin. Und immer sollen wir uns in Geduld üben.

Spätestens dann, wenn alles vorbei sein wird, wird es um Prävention fürs nächste Mal gehen: Wie lassen sich solche Viren vermeiden?

Wie sie entstehen, wissen wir: Sie springen von anderen Säugetieren auf den Menschen über. So war es bei Sars vor 18 Jahren. Tierkrankheiten werden zu Menschenkrankheiten, an denen Menschen sterben.

Donald Trump hat in seiner Ich-nehme-das-nicht-so-ernst-Phase getwittert, Corona sei ein chinesisches Virus. Er meinte damit, Amerika müsse sich nicht davor fürchten. Aus den falschen Gründen hatte er Recht.

Vom Tier auf den Menschen werden Viren auf den Wildtiermärkten übertragen, die in China eine lange kulturelle Tradition haben. Dort werden getötete oder gefangene Tiere verkauft, die von den Käufern meistens gegessen werden. Sars fand im Jahr 2002 seinen Weg über Larvenroller, das sind kleine fleischfressende Wildkatzen, hinüber zum Menschen. Die Larvenroller hatten sich zuvor bei Fledermäusen mit Sars infiziert, bevor sie auf den Markt kamen.

Meine Weisheiten verdanke ich einem Aufsatz, den der Evolutionsbiologe Jared Diamond mit dem Virologen Nathan Wolfe in der „Washington Post“ schrieb und den die „Süddeutsche Zeitung“ nachdruckte. Diamond erlangte im Jahr 2012 mit seinem Bestseller „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ Weltruhm.

Wildmärkte gibt es nicht nur in China, sondern aus anderswo in Asien und darüberhinaus in Afrika. Ebola entstand im Jahr 2006 unter ganz ähnlichen Umständen in Westafrika. „Es gibt dort lebende Tiere, also liegen dort überall Fäkalien herum. Es gibt Blut, weil die Leute sie dort zerhacken“, sagt Peter Daszak, der Leiter der Organisation EcoHealth Alliance zu den Gepflogenheiten. Das globale Reisen und der globale Handel tragen dazu bei, dass sich eine Infektion sehr viel schneller ausbreitet. China ist ein Sonderfall wegen seiner schieren Bevölkerungszahl. 

Noch gibt es keine wissenschaftliche Beweise dafür, dass Covid-19 sich genauso wie Sars verbreitete. Aber die chinesische Regierung geht schon mal davon aus. Denn sie schloss diese Märkte und verbot den Handel mit Wildtieren. Auch das ist ein starker Eingriff in Lebensgewohnheiten. Wildtiere sind für viele Chinesen eine Delikatesse.

So weit, so gut. Allerdings gebe es eine zweite Bezugsquelle für den Handel mit Wildtieren: die traditionelle chinesische Medizin, schreiben Diamond/Wolfe. In ihr sind zum Beispiel die Schuppen des Schuppentieres beliebt, das ist ein kleines ameisenfressendes Säugetier, dem hemmende Wirkung gegen Fieber, Hautinfektionen und Geschlechtskrankheiten zugesprochen wird. Ideale Bedingungen, schreiben die beiden Autoren, dass tierische Mikroben den Menschen infizieren und krank machen und sterben lassen.

An Sars starben weniger als 1000 Menschen, an Ebola rund 11 000. Und an Covid-19?

Die Zahl wird höher liegen, viel höher, das wissen wir heute schon. Und Covid-19 hat viel tiefer in das Gefüge der Welt eingegriffen als jede andere Pandemie. Die langfristigen Auswirkungen können wir heute nur erahnen: politisch und wirtschaftlich, sozial und kulturell. Der Blick und die Zukunft fällt bei Diamond/Wolfe niederschmetternd aus: „Es gibt keinen biologischen Grund, warum zukünftige Epidemien nicht mehrere Hundert Millionen Menschen töten und den Planeten in eine jahrzehntelange Depression stürzen könnten.“

Muss nicht so kommen, geht auch anders. Wird der Handel mit wilden Tieren dauerhaft verboten, wird das Risiko enorm gesenkt. Die chinesische Regierung müsste eigentlich ein Interesse daran haben, denn sonst entsteht in ihrem Land die nächste Pandemie, die auf andere Kontinente überspringt.

Veröffentlicht bei t-online, heute.

Kindheit in Kaiserslautern

Zu den eindrucksvollsten Büchern der letzten Zeit gehört: „Ein Mann seiner Klasse“, geschrieben von Christian Baron, der für den „Freitag“ arbeitet und vorher nicht als Schriftsteller aufgefallen war. Er schildert eine Kindheit, wie sie noch nicht geschildert worden ist. In Armut, wirklicher Armut, zu der Schimmel gehört, der in der kleinen, schäbigen Wohnung an den Wänden wuchert, und den der kleine Junge nach zwei Wochen Hungers abschabt und isst.

Die Stadt der Kindheit ist Kaiserslautern. Der FCK ist in der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre ein stolzer Verein. Die US-Armee hat hier den größten Militärstützpunkt außerhalb Amerikas. Das Viertel, in dem die Familie Baron lebt, ist das zweitschlimmste der Stadt.

Der Vater ist ein gewalttätiger Alkoholiker. Er schlägt den Kopf seiner Frau im Suff gegen die Wand und prügelt die Kinder grundlos. Den größten Teil des Geldes, das er als Möbelpacker verdient, trägt er in die Kneipe, die seinen Lebensmittelpunkt bildet. Er ist alles, was ein Vater nicht sein sollte, weshalb ein Kind ihn hassen oder verachten oder jedenfalls nicht lieben sollte. Aber die wahre Tragik in dieser Autobiographie des Elends besteht darin, dass der Sohn, also Christian, seinen Vater liebt, ihm nacheifert, ihn schützt, entschuldigt.

Wie kann das sein? Eine Erklärung gibt es nicht. Es ist, wie es ist. Der Junge findet diese absurde Vaterliebe in sich vor und kann nichts dagegen ausrichten und wird vielleicht sogar irre daran, wer weiß. Den Freispruch für den Vater liefert der Buchtitel: Er ist eben ein Mann seiner Klasse.

Die Mutter hätte aus der Unterschicht aufsteigen können. Sie war schön, intelligent, scheu. Als Schülerin schrieb sie Gedichte. Eines Tages, da ist sie 16, soll sie ein Gedicht in der Klasse vorlesen. Da hat nicht Goethe oder Heine oder wer auch immer geschrieben, sondern ein junger Mensch, der ein ausbaufähiges Talent für Wörter und Sätze besitzt. Das Gedicht, das sie zitternd vorträgt, geht so:

„Glaube mir, es gibt noch Elfen, / nicht nur in deinen Träumen. / Lass dir von ihnen helfen, / du wirst sonst viel versäumen. / Glaube mir, es gibt noch so viel zu entdecken, / Du solltest deine Gefühle nicht verstecken. / Glaube mir, wenn auch manchmal die Sonne / untergeht, / dann bin ich der Mensch, der immer zu dir steht.“

Was macht der Lehrer? Er dreht sich um, hebt die Arme, als wollte er Gott zum Zeugen anrufen, und prustet los vor Lachen. Die ganze Klasse stimmt ein. Diese Demütigung reicht so tief, dass sie die Schule schmeißt. Anstatt Abitur zu machen und zu studieren, bleibt sie in der Schicht, aus der sie nicht herauskommen soll. Ihre Sonne geht unter, ohne dass jemand zu ihr steht.

Seltsamerweise erzählt Baron die tragische Geschichte seiner Mutter eher tonlos. Dabei ist eigentlich sie die Hauptfigur, weil ihr, im Unterschied zu ihrem unbeherrschten Mann, ein anderes Leben offen stand. Hätte sie einen verständnisvollen Lehrer gehabt, der ihre Begabung erkannt und gefördert hätte, wäre sie aus dem Schlamassel heraus gekommen, in den sie mit ihrem Säufer- und Schläger-Mann vollends versinkt. Sie liefert sich Schlachten mit ihm. Sie säuft mit. Sie wird zur Zynikerin mit einem wütenden Lachen. Zwischendurch verfällt sie in Depression, bleibt im Bett, kümmert sich nicht um die Kinder. Im falschen Leben fehlt es ihr an Kraft. Sie stirbt jung.

Unterschicht bleibt Unterschicht. Ohne Hilfe bleibt unten, wer unten ist. Wer den Kopf hebt, braucht ein bisschen Hilfe, um ihn oben zu behalten. Einen Lotsen, der früher der Pfarrer war oder ein Onkel oder ein Lehrer. Die Mutter wird zurückgestoßen. Sie setzt sich nicht zur Wehr, sondern gibt auf und versteckt ihre Gefühle, weil es nichts zu entdecken gibt. Sie führt ein Leben, das nicht ihres ist.

Als sie stirbt, sind die Kinder noch klein. Eine Tante nimmt sich ihrer an. Sie verbannt den Vater so weit wie möglich aus ihrem Leben. Die Tante hat das Scherbenviertel hinter sich gelassen. Ein bisschen Ordnung, ein bisschen Normalität erleben die Kinder jetzt. Ohne Gewalt. Ohne Prügel. Fast ohne Saufen.

Anders als die Mutter schafft es der Sohn heraus aus der Unterschicht. Er ist ein kleines, schwächelnden Kind, aber intelligent und findet Förderer. Zu Hause machen sie sich lustig über ihn. Sie hänseln ihn: Denkst wohl, du bist was Besseres! Biste nicht! Die Sogkraft der Brüder und des Vaters ist enorm. Sie ziehen und zerren an ihm. Er soll nicht raus, nicht weg. Wenn es ihm gelingt, kein Mann seiner Klasse zu sein, was sollen dann sie sagen und wo bleiben sie? Andererseits: Wer will schon Vater und Brüder verlieren? Sie haben nur sich, sie haben keine Freunde, sie sind isoliert.

Der Sohn geht mühsam seinen Weg. Er führt kein Drama auf, er gibt nicht an, er wendet sich auch nicht von seiner Familie ab, aber er macht Abitur und studiert. Er lässt Kaiserslautern zurück, aber natürlich steckt Kaiserslautern in ihm. Er darf das Leben führen, das seiner Mutter versagt blieb.

Christian Baron hat eine interessante Erzählform gefunden, mit der er seine Kindheit in Kaiserslautern umkreist. Mal erzählt er aus der Sicht des Kindes, das er war. Mal erzählt er aus der Gegenwart, in der er mit seiner Tante die Stätten der Kindheit aufsucht. Er fragt sie aus, er macht sich klar, wie es damals war, denn nur auf das eigene Gedächtnis ist kein Verlass. So entsteht ein bemerkenswertes Buch, in dem der Autor schonungslos mit sich umgeht, weil ihn die Sehnsucht nach dem Vater nie verlässt.

Mit verstörenden Gedanken an den Vater klingt das Buch aus: „Mit all meinem Zorn und all meinem Glück, mit all meinem Schmerz und all meiner Überraschung, mit all meiner Angst und all meiner Liebe, mit all meinem Hass und all meiner Hoffnung, mit allen Zweifeln werde ich kurz vor meinem Tod dieses eine Wort aussprechen, das mein Vater sein Leben lang nie von mir zu hören bekam: Papa.“

Der Wal, der die Welt rettet

Jeder hat sein Buch, in dem er in diesen seltsamen Tagen blättert, damit er besser versteht, was vorgeht. Meines heißt „Der Wal und das Ende der Welt“. Gut geschrieben (bzw. übersetzt), poetisch und nachdenklich, geradeaus erzählt und in der tiefsten Provinz angesiedelt, die mit London, dem Zentrum der Finanzwelt verbunden ist, sehr menschlich und dann auch noch ein happy ending! Geht mehr?

Eines Morgens fallen den Fischern und den Frühmorgenspaziergängern an einer abgelegenen Küste zwei Dinge auf: ein Wal, der nahe kommt und wieder verschwindet und sich in den nächsten Wochen immer wieder sehen lässt und so zum vertrauten Anblick wird, zum Ehreneinwohner des Dorfes.

Der Wal hat offenbar einen nackten jungen Mann an Land geworfen, der dort wie tot liegt, aber von den findigen, witzigen Dorfmenschen gerettet wird. Der längst pensionierte Arzt nimmt den Mann auf, pflegt ihn und wartet ab, wann er und was er von sich erzählen wird, was er nach und nach auch tut. Er heißt Joe Haak und ist irgendwann von London ans Ende der Welt gefahren, hat seinen Wagen geparkt, seine Kleidung abgelegt und ist ins Wasser gegangen, ins kalte Wasser. Mehr weiß er nicht. Nur so viel: Der Wal hat ihn gerettet, ausgerechnet der Wal.

Den Autor kannte ich nicht. Er heißt John Ironmonger, hat Zoologie studiert, was seinem Buch bekommt, und hat in der IT-Branche gearbeitet, in die er auch Joe Haak versetzt, und lebt ungefähr dort, wo er sein 300-Seelen-Kaff zu Leben erweckt. Ironmonger ist belesen, keine Frage, und gibt die Lektüre wieder, die ihn beeinflusst: besonders Thomas Hobbes mit seiner grundpessimistischen Gesellschaftsphilosophie oder Jared Diamonds Dystopie „Kollaps“. Er kombiniert die Schwere mit dem märchenhaften Motiv des Wals und stellt am Ende Hobbes auf den Kopf.

Joe Haak war Analyst in einer Investmentank. Er entwickelte Cassie, einen Algorithmus, den er aus sämtlichen Artikeln in sämtlichen Finanz- und Wirtschaftserzeugnissen speist. Cassie sagt ziemlich genau voraus, wo sich Geld machen lässt. So erfolgreich Joe auch ist, so viel Geld er auch verdient, hält er dem Stress, der mit der Jagd auf die nächste Baisse, mit der sich Millionen scheffeln lassen, nicht stand. Du bist zu anständig, sagt die Therapeutin, eines Tages wirst du einfach alles stehen und liegen lassen, und wegfahren, weit weg fahren und nicht wieder kommen.

Den Grund für die Flucht ans Ende der Welt ist die Pandemie, von der er weiß, dass sie die Menschheit heimsuchen wird. Ihren Anfang nimmt sie in Indonesien und Indien. Sie ist eine Neuauflage der Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs. Sie rafft junge Menschen hin, nicht aber alte. Da die Versorgung mit Öl aus dem Persischen Golf zusammenbricht, fällt in England alsbald die Elektrizität aus. Die Menschen sterben in Massen, die Regierung ruft den Notstand aus. Weil es keinen Strom gibt, wissen die Menschen im Dorf des Wals nicht, was ein paar Kilometer entfernt los ist, geschweige denn, was in London los ist, und welche Maßnahmen die Regierung ergreift.

Joe Haak hat vorgesorgt. Rechtzeitig füllt er die normannische Kirche mit ungeheuren Mengen an Lebensmitteln. Damit rettet er das Dorf, das ihn gerettet hatte. Der Wal schaut vorbei, als wollte er wissen, ob es hier noch Leben gibt. Anders als mit Hobbes gedacht, fallen die Hungernden nicht übereinander her. Im Gegenteil sind sie solidarisch, anstatt sich zu töten und zu beklauen. Am Ende der Welt findet ein großes Weihnachtsfestmahl statt, zu dem Joe Haak die Nachbarn aus den umliegenden Dörfern einlädt.

Die Pandemie fordert eine riesige Zahl an Opfern, aber die Menschheit überlebt dank ihrer Solidarität. Hobbes liegt falsch. Idealisten wie Joe Haak liegen richtig.

Wir leben in der dritten Woche mit unserer Pandemie, die Alte hinwegrafft und Junge, so sie gesund sind, verschont. An Solidarität mangelt es nicht, abgesehen von Diebstählen an Masken und Handschuhen und Betrügereien mit den Anträgen für Kredite oder Zuschüsse. Wir halten uns an die Regeln. Wir ertragen Einschränkungen und bleiben auf Abstand. Wir vertrauen Angela Merkel und Olaf Scholz und Christian Drosten, dem verständlich formulierenden Virologen. Wir hoffen darauf, dass bekannte Medikamente auch gegen die Lungenkrankheit helfen. Wir reden wie selbstverständlich über Impfstoffe, die es noch nicht gibt, aber bestimmt im Herbst oder zu Weihnachten oder eben in einem Jahr.

Ostern kommt. Kein Wegfahren in die Umgebung, an die Ostsee, nach Mallorca oder auf die Malediven. Kein Eieranmalen, kein Eiersuchen mit den Enkeln und Nichten. Nichts, nichts, nichts. Zu Hause sitzen, kochen, lesen, fernsehen. Facetime mit der Familie in Rodenberg oder Kreuzberg oder München. Wann werden wir ungeduldig?

In „Der Wal und das Ende der Welt“ ist die Pandemie irgendwann einfach vorbei. Davon erfährt das Dorf, in dem Joe Haak heimisch geworden ist, durch Zufall. Das Leben geht weiter. Joe Haak umwirbt die junge, flirtige Frau des Pfarrers. Vergeblich. Sie will, dass er geht und nie wiederkehrt. Sie liebt ihn, aber nicht genug.

Ohne großen Abschied bereitet Joe seine Abfahrt vor mit dem Segelboot, das der Arzt ihm schenkt. Bevor er die Leinen kappt, steht da die junge schöne Frau, die ihn damals am Strand beatmete und ins Leben zurückholte. Von ihr ist im Dorf bekannt, dass sie beim Sex sehr laut ist, worauf sie Joe sicherheitshalber noch einmal hinweist. Aber außer dem Wal hört draußen auf dem Meer ja eh keiner zu.

Wie lange noch?

Meine Lieblingsbuchhandlung hat noch offen, wie gut. Die kleine Bäckerei gegenüber besorgte mir Hefe, damit ich Brot backen kann. Ich gehe täglich spazieren, natürlich auf Abstand, koche, lese und schaue spätabends einen Film. Das ist mein Alltag in Corona-Zeiten und wie jeder Alltag beruhigt er, weil ich weiß, was ansteht, und zugleich geht mir die Gleichförmigkeit auf den Wecker.

Wir leben in der zweiten Virus-Phase. Sie wird sich hinziehen, sie ist zäh. Eher ereignisarm, jedenfalls was das Regierungshandeln anbelangt. Wer ein Geschäft oder Unternehmen hat, wartet auf die versprochenen Zuschüsse oder abgesicherten Kredite. Wer in einer kleineren Wohnung lebt, dem fällt die Decke jetzt schon oder in Kürze auf den Kopf. Wir haben uns mit dem Freiheitsmangel eingerichtet. Die Umfragen beweisen die Einsicht der Deutschen in die Notwendigkeiten. Trotzdem will jedermann wissen, wann das endet.

Die Kanzlerin bittet uns nicht zufällig um Geduld. Mir fällt sie leichter, als meinem Freund Sascha, der ein Restaurant leitet, oder Gyven, meinem Friseur. Ich hoffe, beide überstehen die destruktive Kraft des komatösen Kapitalismus und bekommen das nötige Geld aus einem der Fonds, welche die Bundesregierung aufgelegt hat.

Die Einschläge kommen näher. Ein Bekannter ist gestorben. In Bayern und Baden-Württemberg sterben auffallend viele Menschen an Corona, gefolgt von Nordrhein-Westfalen. Wenn es stimmt, dass 60 bis 70 Prozent von uns sich den Virus zuziehen, und wenn es stimmt, dass die Kurve seit Einführung von Kontaktsperre und Ausgangssperre abflacht, dann bleiben wir länger im Bann der Pandemie. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Wann trifft es mich? Wann hört dieses surreale, reduzierte Leben in unserem Land auf?

Frage 1: Mich trifft es, wenn es mich trifft. Über statistische Wahrscheinlichkeit lässt sich nicht grübeln. Entweder fällt man drunter oder nicht. Und wenn ich darunter falle, wehrt sich mein Körper erfolgreich oder nicht. Für die Zeit bis dahin scheint mir Fatalismus die angemessene Haltung zu sein. Ich lege sie mir nicht zurecht, ich finde sie in mir vor.

Frage 2: Momentan haben sich so ziemlich alle Länder in Quarantäne begeben. China  hat das Schlimmste hinter sich, Italien ist mitten drin in der Katastrophe, Amerika und Großbritannien haben Zeit verloren und fahrlässig schlechte Gesundheitssysteme. Der globale Kapitalismus bleibt in Schockstarre. Wie lange noch?

China hat die Pandemie nach eigener Definition bewältigt. Der Binnenkapitalismus bewegt sich allmählich wieder. Vorsichtig beginnt die Abkehr von Anomalie, vorsichtig gewinnt die alte Normalität an Kraft. Und der allgewaltige Xi Jinping muss darauf hoffen, dass sich die USA so schnell wie möglich erholt.

Amerika geht normalerweise robust mit Krisen vor. 400 000 Menschen sind jetzt schon in der Opioid-Epidemie gestorben, hinweggerafft durch die Abhängigkeit von legalen Schmerzmitteln mit fatalen Auswirkungen. Der gewaltigen Aufschrei, der zu erwarten gewesen wäre, blieb aus. Der Staat spendete 6 Milliarden Dollar an Hilfe, ein Klacks vergleichen mit den Corona-Hilfspaketen. An der Lungenkrankheit sind bislang rund 2 100 Amerikaner gestorben und weltweit 31 000 Menschen. Kaum zu glauben, dass Corona auch nur annähernd so viele Menschen tötet wie die synthetisch hergestellten Opioide.

Auf Amerika werden wir schauen, sobald Ostern vorbei ist und der April ausklingt. Von Donald Trump erwarten die anderen Länder das Startsignal, das weniger von Infektions- und Todesfällen abhängen dürfte als vom Ausmaß des antizipierten Schadens für die Weltwirtschaft. Der Präsident steht vor einer Wahl im November, was die Sache für ihn nicht einfacher macht. Wie gut oder schlecht er handelt, entscheidet über seine Verweildauer im Weißen Haus.

Ich kenne niemanden, der die Regierungschefs um die Aufgabe beneidet, vor uns zu treten und zu sagen: Liebe Leute, es ist genug, wir sind einigermaßen mit der Pandemie durch, und wenn wir nicht unwiederbringlich weit mit unserer Volkswirtschaft zurückfallen wollen, dann müssen wir den Kleinbetrieben, dem Mittelstand und den Konzernen wieder erlauben, zu produzieren und ihre Produkte auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Also, lasst uns die Maschinen anwerfen und wieder an die Arbeit gehen.

Vieles im Leben ist eine Sache der Abwägung. Entscheidungen fallen nur zu oft mit 51 zu 49 aus. Nichts ist in Stein gemeißelt, Unsicherheit bleibt immer. Ungefähr drei von 10 Urteilen erweisen sich hinterher als zu kurz gegriffen und revidierbedürftig oder falsch. Aber die Entscheidung über das Ende des Ausnahmezustandes darf keinesfalls zu kurz greifen oder zum falschen Zeitpunkt erfolgen.

Der wiederauferstandenen Kanzlerin traue ich am ehesten zu, dass sie verantwortungsvoll handelt. Momentan ist ihre Stärke, die gerade noch eine Schwäche war, ein Segen: Sie sammelt Informationen und wägt ab, bis sie handelt. Ich glaube aber nicht, dass sie abwarten kann, bis die ominösen 60 bis 70 Prozent aller Deutschen infiziert gewesen sind. Das Flachziehen der Infektionskurve dient ja der Funktionstüchtigkeit unseres Gesundheitssystems, das irgendwann doch kollabieren wird, und ändert nichts an der Zahl der Kranken und Toden.

Die Exit-Strategie muss in dieser zweiten Corona-Phase bedacht und organisiert werden. Über das Ende zu entscheiden ist noch schwieriger als die Entscheidung über den Anfang des Ausnahmezustandes. Vom Gefühl, denn Wissen ist es ja nicht, für das richtige Timing hängt verdammt viel ab: für uns genau so wie für China, Amerika und für die anderen stillgelegten Länder.

Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 22. März 2020

Angela Merkel begibt sich in Quarantäne. Sie ließ sich impfen und der Arzt wurde positiv getestet. Die Phantasie ist in diesen Tagen leicht erregbar, merke ich. Ich male mir aus, dass sie vom Virus gepackt wird. Geschwächt wie sie ist, fällt sie aus, liegt im Bett, kämpft um ihre Gesundheit, ihr Körper ist durch 15 Jahre Selbstausbeutung erschöpft. Hat sie neulich nicht mehrmals gezittert, musste sie nicht sitzen, anstatt eine Parade abzulaufen?

Was würde passieren, wenn sie ausfiele? Im auferlegten Stillstand ist sie absolut unentbehrlich. Wir brauchen sie, sie darf nicht ausfallen. Ihre Stärken sind ein Segen für das Land. Sie ist die Merkel, die wir schätzen. Was wäre, wenn – meine reizbare Phantasie bricht ab, bevor ich den Horizont ganz abschreiten kann.

Von unseren Kanzlern wollen wir normalerweise wissen, wie es ihnen geht. Sie sollen da sein, regieren, funktionieren. Wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, geht es um Macht: Wer sie ärgert, wen sie ärgert, wer sie Seehofer-mäßig demütigt und wie sie Brüsseler Nächte eisern durchsteht und Donald Trump abtropfen lässt.

Als sie zur mächtigsten Politikern des Erdkreises ausgerufen wurde, war ich stolz auf sie. Als sie sagte, wir schaffen das, hat sie mir imponiert. Dass sie große Reden für eine große Zumutung hielt, fand ich bescheuert. Seit 15 Jahren ist sie da, unübersehbar.

Politikerinnen wie sie sehen wir weniger als Mensch und mehr als Maschine. Angela Merkel hat am 17. Juli Geburtstag und wird dann 67. War sie jemals in diesen 15 Jahren als Kanzlerin richtig und länger krank? Glaube nicht, weiß ich nicht. Das Zittern vor einigen Monaten erregte gewaltiges Aufsehen. Sehr fürsorglich haben wir nicht reagiert. Fürsorge für die Regierenden gehört nicht in unser Repertoire. Sie trinkt zu viel, ging das Gerücht in Berlin um, von interessierter Seite kolportiert. Oder leidet sie vielleicht an Parkinson im Anfangsstadium? Ferndiagnosen können die Pest sein, egal wer sie anstellt.

Was sie macht und wie sie es auf der Pressekonferenz darstellt, kommt auch an diesem Sonntag gut an. Per Videokonferenz hat sie sich mit 14 Länderchefs und 2 Länderchefinnen auseinander. Der Beelzebub war Markus Söder, der mehrmals beleidigt auf den Ausknopf drücken wollte. Der Anti-Söder ist Armin Laschet, der ihm sagt, was die übergroße Mehrheit denkt: Vorprescher, damischer, was soll das, gab’s nicht Verabredungen, warum hältst du dich nicht dran? Sie zahlen es ihm heim, indem sie ihm erst jetzt darüber informieren, was sie sich untereinander ausgedacht haben und in ein Papier gegossen haben, das morgen Gesetz werden wird, woraufhin Markus S. noch erboster mit Ausschalten droht, wobei es aber bei der Drohung bleibt.

Das Argument lautet: Die Leute wollen einheitliche Regelungen haben, in Stuttgart soll es zugehen wie in Berlin oder Buxtehude. Ist wahrscheinlich so, die Gleichheit der Lebensverhältnisse ist ein deutscher Traum. Warum dürfen die mehr als wir, ist ungerecht, typisch Merkel, könnte die Stimmung kippen und das vermutlich ohnehin fragile Vertrauen schwinden. Dann macht es doch einfach so wie wir in Bayern, geht die Söder-Logik. Machen wir nicht, sagen die anderen. Von uns geht ein Gebot aus, von dir ein Verbot.

Ausgangssperren bringen nicht mehr als Kontaktsperren, lautet das Gegenargument, bekräftigt durch den heimlichen Bundeskanzler Christian Drosten. Der Unterschied ist einerseits marginal und andererseits gewaltig. Ich lebe in Berlin nicht anders, als mein Sohn in München. Die Regeln sind dieselben hier wie dort. Ich muss mich aber nicht rechtfertigen, er schon. Mir bleibt prinzipiell die Freiheit, für die er sich rechtfertigen muss. Psychologie ist in Krisenzeiten noch wichtiger als in Normalzeiten.

Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 21. März 2020

Heute wollten wir groß feiern. Meine Tochter und ich haben kurz hintereinander im März Geburtstag, und sie schlug vor, dass wir beide Geburtstage in einen legen und Familie und Freunde einladen, ihre und meine. 100 Leute wären gekommen. Am 12. März haben wir das Fest abgesagt. Im Sommer wollen wir es nachholen. Der Sommer ist weit weg, aber dürfen wir uns dann wieder in größerer Zahl unter freiem Himmel oder unter Dächern frei versammeln? Wann ist der Spuk vorbei? Die Angst, die Ungewissheit, die Beklommenheit? Wann können wir die abgesagten Kurzreisen nach Dublin, Tel Aviv, Lissabon nachholen? Fahren wir überhaupt in Urlaub? Wann beginnt die Zukunft?

Corona bannt uns in die Gegenwart. Dass Markus Söder vorgeprescht ist, verursacht gewaltigen Ärger in der Bundesregierung. Typisch Söder, typisch Macho-Gehabe, typisch Bayern, der will sich nur als Kanzler profilieren, wüten sie in der CDU. Die alten Reflexe sind also nicht außer Kraft gesetzt, eher im Gegenteil. „Bild“ feiert das Markige, „Bild“ feiert Söder. 

Mein Sohn lebt mit seiner Familie in München. Er schickt uns ein Video, auf dem ein Polizeiauto durch Haidhausen fährt und eine Stimme über Megaphon streng und monoton die Bürger dazu auffordert, in der Wohnung zu bleiben, Zuwiderhandlungen würden mit harten Strafen geahndet. Das Adjektiv „hart“ schnarrte der Mann heraus, er sprach es mit mindestens 3 r tiefbayerisch aus: wird mit harrrten Strafen geahndet. Ungute Assoziationen.

Zum ersten Mal beschleicht mich das Gefühl: Das geht zu weit, das ist eins zu viel. Ausgangssperren mit genau umschriebenen Ausnahmen sind schlimm genug. Wenn sie im polizeistaatlichen Ton verkündet werden, wenn sie von Söder damit begründet werden, die Bürger müssten auch vor sich selber geschützt werden, regt sich in mir Widerspruch. Und bestimmt nicht nur in mir.

Die Kanzlerin hat in ihrer Ansprache einerseits um Verständnis für besondere Maßnahmen geworben und andererseits an die Vernunft der Bürger appelliert. Sie drohte nicht mit Weiterungen, behielt sie sich aber vor. Ihr Sprecher Steffen Seibert sagte hinterher, die Kanzlerin habe „mit Grund“ nicht von Notstand gesprochen. Er war so zu verstehen und wollte auch so verstanden werden, dass man mit noch mehr Restriktionen vorsichtig sein sollte und auch Worte genau wägen müsste. Nicht nur Söder ist da schneller mit Worten und Taten. Emmanuel Macron sagte in seiner Ansprache an die Franzosen, das Land sei im Krieg mit dem Virus. Donald Trump nahm Corona zuerst nicht ernst und erklärte dann, es handle sich um einen ausländischen Virus, wobei er weniger China als Europa die Schuld zuschob. Boris Johnson machte seine Witzchen und verschenkte damit wertvolle Zeit. Das britische Gesundheitswesen ist berüchtigt für sein Klassensystem und angeblich ähnlich effizient wie das italienische.

Die Kanzlerin wartet ab, beobachtet das Feld und entscheidet irgendwann. Wie jemand redet und handelt, hängt nun einmal eng mit seinem Charakter und seiner Haltung zusammen. Angela Merkel hat vorsichtigen Umgang mit ihren Pappenheimern gelernt. Im Jahr 2005 hätte sie fast die Wahl verloren, weil sie zu erkennen gab, dass jetzt der Westen mit den Reformen dran ist, die dem Osten auferlegt worden waren. Wäre richtig gewesen. Kam aber nicht gut. Wir im Westen wollten das nicht, schließlich hatten wir gewonnen, schließlich wollte die DDR unbedingt Teil von uns werden, was sollte da an uns falsch sein? Bei der Wahl verabreichten wir der Kandidatin Merkel einen Denkzettel.

Anstatt die ausgezehrte, autoaggressive Schröder-SPD abzuhängen, landete die Union damals nur einen Prozentpunkt vor ihr. Sensationell unverschämt der letzte große Auftritt von Gerhard Schröder, der ihr bedeutete: Du kannst es nicht, du wirst es nicht. Eine Demütigung durch den amtierenden Kanzler für die knappe Wahlgewinnerin, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Daraus zog Angela Merkel die Schlussfolgerung: Sei vorsichtig, überforder bloß nicht diese Deutschen, sie sind höchstens für kleine Schritte zu haben, nicht für große. So wurde sie zu der zögernden, absichernden Angela Merkel, die wir kennen.

Die erste Phase der Corona-Zeit haben wir hinter uns. Es gab kein Gezeter, keine Wutbürger, keinen Aufstand. Es gab Verständnis, Wohlwollen, Wohlverhalten. Darauf will die Kanzlerin aufbauen, anstatt noch mehr zu verordnen, anzuweisen und zu verbieten. Sie lehnt Ausgangssperren ab, sie behält sie sich vor, na klar, aber nur für den Fall, dass ihr entscheidende Appell nicht fruchtet: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“

Die bürgerlichen Parteien setzen eigentlich immer auf Vernunft und das ist einer liberalen Demokratie durchaus angemessen. Die Grünen sind im Kern die Erziehungspartei mit einem Hang zu schwarzer Pädagogik. Die SPD, vor allem in ihrer linken Variante, wozu im weiteren Sinn auch die Wagenknecht/Bartsch-Linke gehört, ist negativ fixiert auf die Reichen und will sie schröpfen.

Es passt zur Merkel-CDU, dass sie den Bürgern einen Vertrauensvorschuss gewährt. Bislang bekommt sie das Vertrauen zurück, wie das Echo auf ihre Rede zeigte. Besonders interessant finde ich im Nachhinein diesen Satz: „Lassen Sie mich versichern: Für jemanden wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen.“

Die Bundesrepublik darf nicht zur DDR werden, das ist ihre persönliche Einstellung. Demokratisch gewählte Regierungen dürfen nicht ins Autoritäre abgleiten. Zum liberalen Charakter eines Landes gehören mündige Bürger, um deren Verständnis man werben kann. Polizeiautos, die durch Straßen fahren, sollten den Bürgern nicht mit harrten Strafen drohen.

Alte Konflikte brechen neu aus. Die Merkel-CDU ist eben liberaler als die Söder-CSU. Die Grundhaltung der Kanzlerin ist biographisch vom abschreckenden Beispiel ihres Lebens in der DDR geprägt. Für Söder ist das ewige Vorbild Franz-Josef Strauß, der Bayern als geistig überlegene Bastion gegen jede Bundesregierung verstand, egal wer sie regierte, und erhob auch kleinliche Demonstrationen der Überlegenheit in den Rang seiner überragenden Staatskunst.

Nüchtern betrachtet ist Politik eine Form der Kommunikation, die auf Vertrauen fußt. Vertrauen will gepflegt sein. Vertrauen ist ein kostbares Gut. Vertrauen ist schnell verspielt und Verspielen ist die Vorstufe zum Verlieren. Und Vertrauen kann in dieser Krise durch verschärfte Massnahmen, die unzureichend begründet sind, rasch wieder bröckeln.

Auch ohne förmliche Ausgangssperre gibt es ja Kontaktsperren in vielen Einzelfällen. Sie haben herzzerreißende Konsequenzen, wenn der Ehemann seit über 60 Jahren seine kranke oder demente Frau im Pflegeheim nicht mehr an jedem Tag besuchen darf und jetzt ferngehalten wird; wenn Großeltern die Enkel nicht übernehmen können und sich deren Eltern zwischen Betreuen und Arbeiten zerreiben; wenn Herzkranke auf Anraten ihres Arztes in Selbstquarantäne bleiben und nicht einmal engste Freunde sehen.

Die Kanzlerin, so beschreibt Nico Fried in der „Süddeutschen“ die Genesis ihrer Rede, hege größte Bedenken gegen die Steigerung der Einschränkungen zu Ausgangssperren: „Die Kanzlerin fürchtet, dass eine Ausgangssperre immer mehr Menschen in verzweifelte Situationen führen könnte, in völlige Isolation, Familien in häusliche Streitigkeiten, Menschen, die um ihre Arbeit fürchten und dem physischen Druck nicht standhalten können, in den Kontrollverlust. Merkel will vermeiden – und sinngemäß sagt sie das auch in kleiner Runde – , dass es am Ende mehr Tode durch Suizide in der Einsamkeit und Gewalt hinter verschlossenen Türen gibt als durch das Coronavirus.“  

Ich finde, solche Überlegungen ehren Angela Merkel. Die Nüchterne, Sachliche, Abwägende behält die Konsequenzen ihres Handelns im Blick und die Menschen, welche die Krise und die Einschränkungen ihres Alltags ertragen müssen. 

Auch Markus Söder will die Bürger schützen, aber er sieht in ihnen nicht in erster Linie Wesen, denen er im Zweifelsfall vertrauen kann, sondern unsichere Kantonisten, die er unter Kuratel stellen muss. Für Politiker der Marke Söder ist ihre Entschlossenheit entscheidend, die Exekutive, die er verkörpert, und die möglichen Auswirkungen auf die Menschen, wie sie Angela Merkel berücksichtigt, werden in dieser Perspektive zweitrangig. Und nicht zufällig ist sich der Ministerpräsident in München mit dem grünen Amtsträger in Stuttgart in der Sache ungemein einig.

In einer Demokratie wird er immer Menschen geben, die die Dinge nicht ernst genug nehmen oder für ein Spiel halten oder die Regierenden verachten oder aus Eigensinn oder aus Dummheit so tun, als sei nichts geschehen, was ihnen Anlass geben könnte, keine Corona-Partys zu feiern oder so lange wie möglich in Restaurants abzuhängen oder in großer Clique bei schönem Wetter an der Isar oder Elbe oder der Spree zu liegen. All das gibt es in München und Berlin, Hamburg und Köln und all das ist ein Ärgernis, was denn sonst. Ein Massenphänomen scheinen die Menschen, die sich nichts sagen lassen, aber nicht zu sein, und die Frage bleibt, ob sich Ausgangssperren mit ihnen hinreichend begründen lassen.

Ausgangssperren sind gewaltige Eingriff in den Alltag – in die vom Grundgesetz garantierten Grundrechte. Wer sie verordnet, müsste eigentlich das Ende in Aussicht stellen. Welche Umstände könnten zur Aufhebung der Sondermaßnahmen führen?

Es macht einen großen Unterschied, ob Menschen etwas freiwillig tun oder erzwungenermaßen. Die meisten Menschen haben die Einschränkung ihres Radius hingenommen, als Museen und Konzerthäuser, Kinos und Klubs, Kitas, Schulen und Universitäten schlossen. Auch hält sich die überragende Mehrheit an das Abstandsgebot, ziehen sich in ihre Wohnungen oder Häuser zurück, haben Urlaube und Kurzreisen, Feste und Feiern abgesagt und nicht über die Schließung der Grenzen geklagt.

Was freiwillig aus Einsicht in die Notwendigkeit erfolgt, wird durch die Ausgangssperre zum Verbot. Freiheit wird mit Unfreiheit durchsetzt. Wer radikale Maßnahmen verhängt, muss damit rechnen, dass die Stimmung sich auch verändern kann. Bisher ist sie gedämpft, aber gefasst. Was entsteht daraus, wenn der Radius auf Arbeiten und Besorgungen und Spazierengehen schrumpft?

Das große Bayern und das kleine Saarland bilden jetzt das Soziallabor, in dem die Kanzlerin unerwünschte Nebeneffekte befürchtet. Wenn sich morgen in Berlin die 16 Länderchefs mit der Kanzlerin beraten, stoßen die beiden unterschiedlichen Grundhaltungen pro und contra Ausgangssperre aufeinander. Ich fände es nicht schlimm, wenn Berlin und Nordrhein-Westfalen und andere bei ihrer Zurückhaltung blieben und Bayern nicht folgten. Im föderalen System sind Regierungschefs in unterschiedlichen Lagen, haben unterschiedliche Überzeugungen und Einschätzungen, das ist der Normalfall, der keinem weh tut.

Egal wie sie entscheiden, endet hiermit die erste Woche unseres Lebens unter dem Einfluss von Corona.

In dieser Phase gaben die Virologen den Takt vor. Christian Drosten war der heimliche Bundeskanzler. Seine Argumente wurden zu Begründungen politischen Handelns. Drosten sagte, wir müssen die Ausbreitung des Virus verlangsamen und wie aus einer Echokammer erscholl es bei Spahn/Merkel/Scholz/Söder/Laschet/Kretschmann, wir müssen alles dafür tun, das Virus zu verlangsamen. Drosten sagte, es ist jetzt wohl doch nicht so, dass das Virus durch Wärme geschwächt wird und alle sprachen ihm nach. Drosten sagte, die Zahl der Toten hänge auch von der Qualität des Gesundheitssystems ab und beschleunigte damit die Vorbereitungen in den Krankenhäusern auf Notfälle.

Drosten gelang es, die Politik mit seinen Kenntnissen zu füttern. Politik war nunmehr wissenschaftsbasiert.

Drosten ist als Wissenschaftler ebenso wie die Physikerin Merkel an der Sache orientiert und nicht vordergründig auf seinen Ruhm bedacht. In einem seiner täglichen Podcasts unterscheidet er präzise zwischen Wissenschaft und Politik: Es gibt nicht genügend wissenschaftliche Erfahrung damit, dass Ausgangssperren einen entscheidenden Durchbruch bedeuten, sagt er sinngemäß. Ob sie verhängt werden oder nicht, ist also eine genuin politische Entscheidung, die unter dem emotionalen Eindruck des überlasteten Gesundheitssystems wie in Italien oder Frankreich getroffen wird und aus Angst vor der zunehmenden Zahl an Toten.

Wissenschaft kann der Politik nur eine bestimmte Wegstrecke lang Argumente liefern und Begründungen erleichtern. Wo sie aufhören, beginnt das politische Handeln innerhalb eines limitierten Horizonts, der unter anderem von der öffentlichen Wirkung der Ereignisse und den begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems bestimmt werden. Dabei hängen die Maßnahmen der Regierungen stark vom Bestreben ab, Panik unter allen Umständen zu vermeiden und die Kontrolle zu behalten. Wobei die Kontrolle vom Vertrauen in die Angemessenheit der Maßnahmen abhängt. Vertrauensverlust führt zu Kontrollverlust führt zu Panik.

Heute sind 16 662 Menschen in Deutschland mit dem Virus infiziert, das sind 2705 mehr als gestern. 46 sind an der Lungenkrankheit gestorben, 20 mehr als gestern.

In die deprimierende Flut von Nachrichten platzt eine Hoffnung spendende: Der Chef des Tübinger Biotech-Unternehmens Curevac hält es für möglich, dass es schon im Herbst einen Impfstoff gibt. 

Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 20. März 2020

Was immer die Bundesregierung und die Länderregierungen, die Regierungspräsidenten und Landräte, die Oberbürgermeister und Bürgermeister uns an Verboten auferlegen, wird zu Regel und Gesetz nach langen Erörterungen. Jede Maßnahme ist beispiellos, egal ob die Bundesliga den Spielbetrieb einstellt, Kinderspielplätze schließen oder Milliarden Euro für Kleinunternehmen zur Verfügung gestellt werden.

Unfassbar beispiellos ist aber vor allem dies: Die Grundlage für politische Entscheidungen dieser enormen Reichweite ist schmal. Sie beruht auf vorläufigem Wissen, dass wenig mehr ist als eine Ahnung über die Beschaffenheit des Virus. Zuerst hieß es, wir müssten es einigermaßen glimpflich in die Wärme schaffen, dann werde sich die Krankheitskurve abflachen. Jetzt heißt es, stimmt nicht, Covid-19 ist wärmeresistent.

Willkürlich sind die Daten, die herumschwirren. Die nächste Etappe erreichen wir nach den verlängerten Osterferien, heißt es zunächst. Können die Kinder danach in die Schule gehen und die Studenten an die Unis zurückkehren? Und wie lange steht die Volkswirtschaft den systematischen Stillstand durch? Weder Politiker noch Virologen stellen Prognosen über die Dauer des Ausnahmezustandes. Können sie nach eigener Auskunft ja auch nicht. Also kann die Rückkehr zur Normalität irgendwann nur ebenso willkürlich gesetzt werden wie die Abkehr davon.

Was ist das Kriterium? Wenn der Staat alles Geld in Groß- und Kleinunternehmen gepumpt hat, die Finanzämter auf Steuerzahlungen bis zum Anschlag verzichtet haben und Industrie, Wirtschaft und Mittelstand der Bundesregierung bedeuten: Von jetzt an wird der Schaden unermesslich, hört auf damit, Bedenken hin oder her, die Rezession ist schon da und die Aktienkurse sind sowieso im Keller?

Solche Entscheidungen trifft niemand freiwillig, geschweige denn gerne, wahrscheinlich nicht einmal Markus Söder. Wie gut, dass die Kanzlerin noch Angela Merkel heißt. Ihr traut man am ehesten die richtige Entscheidung im richtigen Moment zu. Ihr traut man. Noch.

Wie skeptisch man auch immer sein mag, so dürften doch nur hochgradig Anfällige für wilde Verschwörungstheorien Merkel und den anderen niedrige Beweggründe für ihre radikalen Unterbrechungen der liberalen Demokratie  unterstellen. Sie wollen Gutes tun oder wenigstens das Richtige und wandeln auf einem schmalen Grat. Sie folgen den Virologen, von denen ein Prachtexemplar wie Christian Drosten zum Ratgeber der Regierung aufgestiegen ist, ein sympathischer Wuschelkopf, der in verständlichem Deutsch komplexe Prozesse erläutern kann. Er arbeitet auf der Basis von Studien, die im Corona-Ursprungsland China und im europäischen Menetekel Italien entstanden sind und entstehen. Das Wissen wächst und Drosten lässt uns an der Vermehrung der Kenntnisse teilhaben. Sein Podcast „Coronavirus Update“, in dem ihn eine NDR-Redakteurin interviewt, sind zum Kult geworden.

Italien übertrifft mit 3 405 Toten China mit 3133 Toten, lernen wir, gefolgt von Iran (1 284). 35 000 Italiener haben sich bislang infiziert. Woran sie starben, untersuchte das italienisch Institut für Gesundheit an 2000 Opfern. Die Mehrheit von ihnen litten unter hohem Blutdruck oder an Diabetes, an Herz-Kreislau-Schwäche oder Nierenproblemen. Die Hälfte der Toten hatten eine Vorgeschichte mit sogar drei schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt bei 79,5 Jahren. Bis heute sind nur 17 Menschen unter 50 an der Krankheit gestorben. Nur 3 von allen 2000 waren vor Corona beschwerdefrei gewesen, das sind 0,8 Prozent. Oder wussten sie nur nichts von organischen Schwierigkeiten?

In Deutschland haben sich bis heute 15 320 Menschen infiziert, 44 sind gestorben und 113 sind schon wieder genesen. Lothar Wieler vom Robert- Koch-Institut unterbreitet uns täglich die neuen Zahlen, schränkt sie aber immer wieder ein, weil es offizielle Zahlen sind. Salvatorische Klauseln sind also angebracht, die mit „angeblich“ oder „vermutlich“ oder „wahrscheinlich“ beginnen, und somit sind Informationen immer nur relativ sicher. Südkorea und Japan testen angeblich eifrig und flachen angeblich so den Kurvenverlauf ab. Amerika fängt jetzt erst richtig mit dem Testen an, wobei Kalifornien schnell Ausgangsbeschränkungen auferlegt. Stand heute, offiziell, gibt es weltweit 200 000 Infizierte, Tendenz steigend, was sonst.

Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wir bekommen irgendwann italienische Verhältnisse, sagt Herr Wieler mit seiner sonoren Stimme möglichst unaufgeregt. Muss ich mich jetzt sorgen? Ich bin gerade 70 geworden, fühle mich bestens, spiel Tennis und gehe ins Fitness-Training, habe einen Bandscheibenvorfall hinter mir und nahm meine Grippe im November. War das in Wirklichkeit Covid-19? Woher soll ich das wissen. Meine Frau ließ sich sicherheitshalber testen, negativ, sie ist Intendantin des rbb und eine Infektion würde die gesamte Leitungsebene des Senders zu häuslicher Quarantäne verdammen. Meinen Geburtstag habe ich mit wenigen Freunden und Familie gefeiert, wir waren 11, und uns war klar, dass wir so zahlreich (11!) nicht so schnell wieder zusammen kommen würden.

Zahlen jagen uns. Ihnen sind wir hörig. Wir vergleichen uns mit Italien und sagen: Ist doch klar, Anarchie und Korruption, kann ja nichts werden, kaum eine Chance gegen Corona. Andererseits drohen uns mit unserem besseren Gesundheitssystem und unserem Organisationstalent italienische Verhältnisse, wie Herr Wieler trocken sagt? Uns?

In resignativer Stimmung sage ich mir: Zahlen, die ohnehin nicht stimmen, kann ich genau so gut ignorieren. Statistiken sagen alles und auch nichts. Wenn nur 0,8 Prozent der Toten keine Krankeitsvorgeschichte hatten, ist das schön für alle anderen, aber was nützt es mir, wenn ich zu den 0,8 gehöre? Und sind 200 000 Infizierte weltweit eigentlich nicht ungeheuer wenig? 10 031 Tote: Was bedeutet diese Zahl – viel oder wenig? Sterben nicht so viele Menschen jedes Mal auf Gottes Erdboden, wenn die Tage schlimm sind, in heißen Sommern und in trüben November?  Oder in Syrien? Und sage ich nicht sonst immer: Ich glaube nur an die Statistik, die ich selber aufstelle – oder auch, die ich selber gefälscht habe?

Ich verwandele mich im Schnellverfahren aus einem Ignoranten in einen Halbinformierten aus zweiter Hand. Mir geht Covid-19 flüssig von den Lippen. Ich weiß, das erzählt mir Herr Wieler gerade aufs Neue, dass trockener Husten ein starkes Symptom ist, und dass rund 40 Prozent der Erkrankten Fieber bekommen. Ich schaue mir die interaktive Online-Karte an, die auf Daten der Weltgesundheitsbehörde WHO, der nationalen Behörden zur Seuchenprävention und Gesundheitsämtern beruht, die in Echtzeit aktualisiert wird. Das alles trägt die Johns Hopkins Universität in Baltimore zusammen. Ich schaue auf die Charts, wie ich sonst morgens 

nachschaue, wie die Dallas Mavericks in der Nacht gespielt haben. 

Ich weiß über Corona mehr, als ich je wissen wollte. Ich nerve mich selber damit, dass ich wie ein Schwamm Halbwissen aufsauge, das für die wenigen Gespräche mit den wenigen Menschen ausreicht, die ich noch treffe. Abend für Abend sitze ich auf meinem Sofa und schaue Sendungen, die ich sonst nicht gucke. Bei Anne Will imponiert mir eine Infektologin namens Susanne Herold, weil sie klug und schön ist. Bei Sandra Maischberger höre ich sogar Karl Lauterbach zu, dessen näselnden Welterklärungssingsang ich an normalen Tagen kaum ertrage. Und wieder schaue ich wohlgefällig auf Susanne Herold, die ein Klinikchef aus Eschweiler sinnvoll ergänzt. Markus Lanz rückt Finanzminister Scholz mit seinen frettchenhaften Fragen auf die Pelle, die der ruhig und souverän beantwortet.

Talk Shows werden zu Informationsshows. Die Geladenen labern nicht. Sie reden zur Sache. Eitelkeiten halten sie im Zaum. Der Moderator oder die Moderatorin stellt eine verständliche Frage und die Gäste antworten verständlich. Wer redet, redet so lange, bis die Frage beantwortet ist. Kein Moderator muss sich gegen lärmendes Stimmengewirr lauthals durchsetzen. Jeder Moderator ist erstaunlich gut vorbereitet. Das Setting ist Corona angemessen. Weniger Gäste als sonst sitzen sehr viel weiter auseinander als sonst. Mehr Wissenschaftler als Politiker sitzen im Studio und die Politiker sitzen in ihrer Eigenschaft als Handelnde da und nicht als Kandidaten für den CDU-Vorsitz (wie Armin Laschet) oder als eingefleischter Sozialdemokrat (wie Karl Lauterbach). Das Virus verwandelt Politik-Maschinen in kundige Minister und besorgte Ministerpräsidenten, wie angenehm.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, über den sich viele Menschen aus vielen Gründen blendend aufregen können, erlebt Sternstunden in dieser Krise. Es ist eben ein enormer Vorteil, wenn ein Land ein Fernseh- und Radiosystem besitzt, auf das sich die Menschen in Krisen verlassen können, egal ob an 9/11, beim Tsunami in Japan oder der Weltfinanzkrise und nun eben Corona. Die neue Sachlichkeit beginnt mit den Nachrichten und den darauf folgenden Sondersendungen, die in den dritten Programmen regional fortgesetzt werden. Die Kanzleriden-Ansprache sahen ZDF im 19.30 Uhr fast 9 Millionen Zuschauer, genauso viel wie später in der ARD. Tagesschau/Tagesthemen und heute-Sendungen haben viel höhere Quoten als üblicherweise.

Ich kann jetzt Sport in meiner Wohnung mit RadioEins um 9.30 treiben. Ich bekomme nach Belieben Corona-Updates im Netz. Die Fernsehsender streamen online Konzerte mit Igor Levitt oder Lang Lang, sie übertragen Carmen, sie lassen sich was einfallen, ja wirklich, sie entfalten ihre Stärke und sind glücklich darüber, dass es kein Staatssekretär für sinnvoll hält, von den Intendanten Gehaltskürzung zu verlangen.

Wenn in der Demokratie die Öffentlichkeit eingeschränkt ist, werden öffentliche Rundfunksender umso wichtiger. Sie sind schneller, natürlich. Mir blutet das Herz als Printmensch, wenn ich sehe, wie alt die Zeitungen sind, wenn sie im Briefkasten stecken. Ja, ich lese Hintergründiges, aber meistens weiß ich schon mehr am Morgen, als am Abend in den Druck ging. Schlimmer noch ergeht es meinem Blatt, dem „Spiegel“, der sich redlich müht, seine Titelgeschichten in die kommende Woche zu projizieren, aber von der gewaltigen Dynamik der Ereignisse überrollt wird. Ich bin froh, dass ich an diesem Rad nicht drehen muss.

Gerade waren es noch Mitterteich und Wunsiedel. Jetzt schränkt Freiburg als erste deutsche Großstadt die Bewegungsfreiheit seiner Bürger ein. Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Markus Söder rügen aufs Schärfste die Corona-Partys, die offenbar überall statt finden. Gleich darauf  geht Bayern vom Androhen zum Verwirklichen über und verhängt eine Ausgangssperre mit genau definierten Ausnahmen: Wer Sport betreibt oder mit seiner Familie spazieren geht, darf das. Wer arbeiten oder zur Apotheke oder zum Arzt gehen muss, darf das. Eine halbe Stunde später folgt das Saarland, das in einer Sonderlage ist mit der offenen Grenze zu Frankreich, über die Menschen wegen ihres Jobs pendeln. 

Übermorgen, am Sonntag kommen alle 16 Regierungschefs mit der Kanzlerin zusammen. Wenn es ein Land tut, dann müssen es alle Länder tun, das ist die bayerische Logik. Ich muss noch ein paar Bücher kaufen. Frischobst wäre gut. Darf ich in Berlin dann noch joggen, wo doch Hundebesitzer Gassi gehen können?

Ich werde sentimental. Im Radio läuft „You’ll never walk alone“ von Gerry and the Pacemakers“, der zurecht vergessenen britischen Band aus den Sechzigern. Ich singe es normalerweise im Stadion von Borussia Dortmund mit 80 000 Zuschauern vor Spielbeginn und liebe das Lied wie jeder Fußballanhänger. Um 8.45 Uhr spielen 180 Radiosender in 30 europäischen Ländern die Hymne, die ursprünglich 1945 für ein kitschiges Musical geschrieben worden war. Ich drehe das Radio auf und singe aus vollem Hals mit und mir kommen die Tränen. Corona spielt mit meinen Gefühlen.

Ich überlege mir, ob ich um 21 Uhr auf den Balkon zum Klatschen gehen. Ist das neue Ritual. Wir klatschen für die Ärzte, Pfleger und Schwester, für Polizisten und Altenpflegern. Für alle, die wir sonst übersehen und jetzt das Ganze am Laufen halten. Machen sie überall in Europa. Ist eigentlich schön. Oder handelt es sich um Corona-Kitsch? Oder ist es schön und kitschig zugleich? Wie werden wir über uns denken, wenn alles vorbei ist? Und wann ist es vorbei? Mein Held Christian Drosten, sagt: vielleicht in einem Jahr. Echt jetzt?