Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 21. März 2020

Heute wollten wir groß feiern. Meine Tochter und ich haben kurz hintereinander im März Geburtstag, und sie schlug vor, dass wir beide Geburtstage in einen legen und Familie und Freunde einladen, ihre und meine. 100 Leute wären gekommen. Am 12. März haben wir das Fest abgesagt. Im Sommer wollen wir es nachholen. Der Sommer ist weit weg, aber dürfen wir uns dann wieder in größerer Zahl unter freiem Himmel oder unter Dächern frei versammeln? Wann ist der Spuk vorbei? Die Angst, die Ungewissheit, die Beklommenheit? Wann können wir die abgesagten Kurzreisen nach Dublin, Tel Aviv, Lissabon nachholen? Fahren wir überhaupt in Urlaub? Wann beginnt die Zukunft?

Corona bannt uns in die Gegenwart. Dass Markus Söder vorgeprescht ist, verursacht gewaltigen Ärger in der Bundesregierung. Typisch Söder, typisch Macho-Gehabe, typisch Bayern, der will sich nur als Kanzler profilieren, wüten sie in der CDU. Die alten Reflexe sind also nicht außer Kraft gesetzt, eher im Gegenteil. „Bild“ feiert das Markige, „Bild“ feiert Söder. 

Mein Sohn lebt mit seiner Familie in München. Er schickt uns ein Video, auf dem ein Polizeiauto durch Haidhausen fährt und eine Stimme über Megaphon streng und monoton die Bürger dazu auffordert, in der Wohnung zu bleiben, Zuwiderhandlungen würden mit harten Strafen geahndet. Das Adjektiv „hart“ schnarrte der Mann heraus, er sprach es mit mindestens 3 r tiefbayerisch aus: wird mit harrrten Strafen geahndet. Ungute Assoziationen.

Zum ersten Mal beschleicht mich das Gefühl: Das geht zu weit, das ist eins zu viel. Ausgangssperren mit genau umschriebenen Ausnahmen sind schlimm genug. Wenn sie im polizeistaatlichen Ton verkündet werden, wenn sie von Söder damit begründet werden, die Bürger müssten auch vor sich selber geschützt werden, regt sich in mir Widerspruch. Und bestimmt nicht nur in mir.

Die Kanzlerin hat in ihrer Ansprache einerseits um Verständnis für besondere Maßnahmen geworben und andererseits an die Vernunft der Bürger appelliert. Sie drohte nicht mit Weiterungen, behielt sie sich aber vor. Ihr Sprecher Steffen Seibert sagte hinterher, die Kanzlerin habe „mit Grund“ nicht von Notstand gesprochen. Er war so zu verstehen und wollte auch so verstanden werden, dass man mit noch mehr Restriktionen vorsichtig sein sollte und auch Worte genau wägen müsste. Nicht nur Söder ist da schneller mit Worten und Taten. Emmanuel Macron sagte in seiner Ansprache an die Franzosen, das Land sei im Krieg mit dem Virus. Donald Trump nahm Corona zuerst nicht ernst und erklärte dann, es handle sich um einen ausländischen Virus, wobei er weniger China als Europa die Schuld zuschob. Boris Johnson machte seine Witzchen und verschenkte damit wertvolle Zeit. Das britische Gesundheitswesen ist berüchtigt für sein Klassensystem und angeblich ähnlich effizient wie das italienische.

Die Kanzlerin wartet ab, beobachtet das Feld und entscheidet irgendwann. Wie jemand redet und handelt, hängt nun einmal eng mit seinem Charakter und seiner Haltung zusammen. Angela Merkel hat vorsichtigen Umgang mit ihren Pappenheimern gelernt. Im Jahr 2005 hätte sie fast die Wahl verloren, weil sie zu erkennen gab, dass jetzt der Westen mit den Reformen dran ist, die dem Osten auferlegt worden waren. Wäre richtig gewesen. Kam aber nicht gut. Wir im Westen wollten das nicht, schließlich hatten wir gewonnen, schließlich wollte die DDR unbedingt Teil von uns werden, was sollte da an uns falsch sein? Bei der Wahl verabreichten wir der Kandidatin Merkel einen Denkzettel.

Anstatt die ausgezehrte, autoaggressive Schröder-SPD abzuhängen, landete die Union damals nur einen Prozentpunkt vor ihr. Sensationell unverschämt der letzte große Auftritt von Gerhard Schröder, der ihr bedeutete: Du kannst es nicht, du wirst es nicht. Eine Demütigung durch den amtierenden Kanzler für die knappe Wahlgewinnerin, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Daraus zog Angela Merkel die Schlussfolgerung: Sei vorsichtig, überforder bloß nicht diese Deutschen, sie sind höchstens für kleine Schritte zu haben, nicht für große. So wurde sie zu der zögernden, absichernden Angela Merkel, die wir kennen.

Die erste Phase der Corona-Zeit haben wir hinter uns. Es gab kein Gezeter, keine Wutbürger, keinen Aufstand. Es gab Verständnis, Wohlwollen, Wohlverhalten. Darauf will die Kanzlerin aufbauen, anstatt noch mehr zu verordnen, anzuweisen und zu verbieten. Sie lehnt Ausgangssperren ab, sie behält sie sich vor, na klar, aber nur für den Fall, dass ihr entscheidende Appell nicht fruchtet: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“

Die bürgerlichen Parteien setzen eigentlich immer auf Vernunft und das ist einer liberalen Demokratie durchaus angemessen. Die Grünen sind im Kern die Erziehungspartei mit einem Hang zu schwarzer Pädagogik. Die SPD, vor allem in ihrer linken Variante, wozu im weiteren Sinn auch die Wagenknecht/Bartsch-Linke gehört, ist negativ fixiert auf die Reichen und will sie schröpfen.

Es passt zur Merkel-CDU, dass sie den Bürgern einen Vertrauensvorschuss gewährt. Bislang bekommt sie das Vertrauen zurück, wie das Echo auf ihre Rede zeigte. Besonders interessant finde ich im Nachhinein diesen Satz: „Lassen Sie mich versichern: Für jemanden wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen.“

Die Bundesrepublik darf nicht zur DDR werden, das ist ihre persönliche Einstellung. Demokratisch gewählte Regierungen dürfen nicht ins Autoritäre abgleiten. Zum liberalen Charakter eines Landes gehören mündige Bürger, um deren Verständnis man werben kann. Polizeiautos, die durch Straßen fahren, sollten den Bürgern nicht mit harrten Strafen drohen.

Alte Konflikte brechen neu aus. Die Merkel-CDU ist eben liberaler als die Söder-CSU. Die Grundhaltung der Kanzlerin ist biographisch vom abschreckenden Beispiel ihres Lebens in der DDR geprägt. Für Söder ist das ewige Vorbild Franz-Josef Strauß, der Bayern als geistig überlegene Bastion gegen jede Bundesregierung verstand, egal wer sie regierte, und erhob auch kleinliche Demonstrationen der Überlegenheit in den Rang seiner überragenden Staatskunst.

Nüchtern betrachtet ist Politik eine Form der Kommunikation, die auf Vertrauen fußt. Vertrauen will gepflegt sein. Vertrauen ist ein kostbares Gut. Vertrauen ist schnell verspielt und Verspielen ist die Vorstufe zum Verlieren. Und Vertrauen kann in dieser Krise durch verschärfte Massnahmen, die unzureichend begründet sind, rasch wieder bröckeln.

Auch ohne förmliche Ausgangssperre gibt es ja Kontaktsperren in vielen Einzelfällen. Sie haben herzzerreißende Konsequenzen, wenn der Ehemann seit über 60 Jahren seine kranke oder demente Frau im Pflegeheim nicht mehr an jedem Tag besuchen darf und jetzt ferngehalten wird; wenn Großeltern die Enkel nicht übernehmen können und sich deren Eltern zwischen Betreuen und Arbeiten zerreiben; wenn Herzkranke auf Anraten ihres Arztes in Selbstquarantäne bleiben und nicht einmal engste Freunde sehen.

Die Kanzlerin, so beschreibt Nico Fried in der „Süddeutschen“ die Genesis ihrer Rede, hege größte Bedenken gegen die Steigerung der Einschränkungen zu Ausgangssperren: „Die Kanzlerin fürchtet, dass eine Ausgangssperre immer mehr Menschen in verzweifelte Situationen führen könnte, in völlige Isolation, Familien in häusliche Streitigkeiten, Menschen, die um ihre Arbeit fürchten und dem physischen Druck nicht standhalten können, in den Kontrollverlust. Merkel will vermeiden – und sinngemäß sagt sie das auch in kleiner Runde – , dass es am Ende mehr Tode durch Suizide in der Einsamkeit und Gewalt hinter verschlossenen Türen gibt als durch das Coronavirus.“  

Ich finde, solche Überlegungen ehren Angela Merkel. Die Nüchterne, Sachliche, Abwägende behält die Konsequenzen ihres Handelns im Blick und die Menschen, welche die Krise und die Einschränkungen ihres Alltags ertragen müssen. 

Auch Markus Söder will die Bürger schützen, aber er sieht in ihnen nicht in erster Linie Wesen, denen er im Zweifelsfall vertrauen kann, sondern unsichere Kantonisten, die er unter Kuratel stellen muss. Für Politiker der Marke Söder ist ihre Entschlossenheit entscheidend, die Exekutive, die er verkörpert, und die möglichen Auswirkungen auf die Menschen, wie sie Angela Merkel berücksichtigt, werden in dieser Perspektive zweitrangig. Und nicht zufällig ist sich der Ministerpräsident in München mit dem grünen Amtsträger in Stuttgart in der Sache ungemein einig.

In einer Demokratie wird er immer Menschen geben, die die Dinge nicht ernst genug nehmen oder für ein Spiel halten oder die Regierenden verachten oder aus Eigensinn oder aus Dummheit so tun, als sei nichts geschehen, was ihnen Anlass geben könnte, keine Corona-Partys zu feiern oder so lange wie möglich in Restaurants abzuhängen oder in großer Clique bei schönem Wetter an der Isar oder Elbe oder der Spree zu liegen. All das gibt es in München und Berlin, Hamburg und Köln und all das ist ein Ärgernis, was denn sonst. Ein Massenphänomen scheinen die Menschen, die sich nichts sagen lassen, aber nicht zu sein, und die Frage bleibt, ob sich Ausgangssperren mit ihnen hinreichend begründen lassen.

Ausgangssperren sind gewaltige Eingriff in den Alltag – in die vom Grundgesetz garantierten Grundrechte. Wer sie verordnet, müsste eigentlich das Ende in Aussicht stellen. Welche Umstände könnten zur Aufhebung der Sondermaßnahmen führen?

Es macht einen großen Unterschied, ob Menschen etwas freiwillig tun oder erzwungenermaßen. Die meisten Menschen haben die Einschränkung ihres Radius hingenommen, als Museen und Konzerthäuser, Kinos und Klubs, Kitas, Schulen und Universitäten schlossen. Auch hält sich die überragende Mehrheit an das Abstandsgebot, ziehen sich in ihre Wohnungen oder Häuser zurück, haben Urlaube und Kurzreisen, Feste und Feiern abgesagt und nicht über die Schließung der Grenzen geklagt.

Was freiwillig aus Einsicht in die Notwendigkeit erfolgt, wird durch die Ausgangssperre zum Verbot. Freiheit wird mit Unfreiheit durchsetzt. Wer radikale Maßnahmen verhängt, muss damit rechnen, dass die Stimmung sich auch verändern kann. Bisher ist sie gedämpft, aber gefasst. Was entsteht daraus, wenn der Radius auf Arbeiten und Besorgungen und Spazierengehen schrumpft?

Das große Bayern und das kleine Saarland bilden jetzt das Soziallabor, in dem die Kanzlerin unerwünschte Nebeneffekte befürchtet. Wenn sich morgen in Berlin die 16 Länderchefs mit der Kanzlerin beraten, stoßen die beiden unterschiedlichen Grundhaltungen pro und contra Ausgangssperre aufeinander. Ich fände es nicht schlimm, wenn Berlin und Nordrhein-Westfalen und andere bei ihrer Zurückhaltung blieben und Bayern nicht folgten. Im föderalen System sind Regierungschefs in unterschiedlichen Lagen, haben unterschiedliche Überzeugungen und Einschätzungen, das ist der Normalfall, der keinem weh tut.

Egal wie sie entscheiden, endet hiermit die erste Woche unseres Lebens unter dem Einfluss von Corona.

In dieser Phase gaben die Virologen den Takt vor. Christian Drosten war der heimliche Bundeskanzler. Seine Argumente wurden zu Begründungen politischen Handelns. Drosten sagte, wir müssen die Ausbreitung des Virus verlangsamen und wie aus einer Echokammer erscholl es bei Spahn/Merkel/Scholz/Söder/Laschet/Kretschmann, wir müssen alles dafür tun, das Virus zu verlangsamen. Drosten sagte, es ist jetzt wohl doch nicht so, dass das Virus durch Wärme geschwächt wird und alle sprachen ihm nach. Drosten sagte, die Zahl der Toten hänge auch von der Qualität des Gesundheitssystems ab und beschleunigte damit die Vorbereitungen in den Krankenhäusern auf Notfälle.

Drosten gelang es, die Politik mit seinen Kenntnissen zu füttern. Politik war nunmehr wissenschaftsbasiert.

Drosten ist als Wissenschaftler ebenso wie die Physikerin Merkel an der Sache orientiert und nicht vordergründig auf seinen Ruhm bedacht. In einem seiner täglichen Podcasts unterscheidet er präzise zwischen Wissenschaft und Politik: Es gibt nicht genügend wissenschaftliche Erfahrung damit, dass Ausgangssperren einen entscheidenden Durchbruch bedeuten, sagt er sinngemäß. Ob sie verhängt werden oder nicht, ist also eine genuin politische Entscheidung, die unter dem emotionalen Eindruck des überlasteten Gesundheitssystems wie in Italien oder Frankreich getroffen wird und aus Angst vor der zunehmenden Zahl an Toten.

Wissenschaft kann der Politik nur eine bestimmte Wegstrecke lang Argumente liefern und Begründungen erleichtern. Wo sie aufhören, beginnt das politische Handeln innerhalb eines limitierten Horizonts, der unter anderem von der öffentlichen Wirkung der Ereignisse und den begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems bestimmt werden. Dabei hängen die Maßnahmen der Regierungen stark vom Bestreben ab, Panik unter allen Umständen zu vermeiden und die Kontrolle zu behalten. Wobei die Kontrolle vom Vertrauen in die Angemessenheit der Maßnahmen abhängt. Vertrauensverlust führt zu Kontrollverlust führt zu Panik.

Heute sind 16 662 Menschen in Deutschland mit dem Virus infiziert, das sind 2705 mehr als gestern. 46 sind an der Lungenkrankheit gestorben, 20 mehr als gestern.

In die deprimierende Flut von Nachrichten platzt eine Hoffnung spendende: Der Chef des Tübinger Biotech-Unternehmens Curevac hält es für möglich, dass es schon im Herbst einen Impfstoff gibt.