Friedrich Merz wird Bundeskanzler, der zehnte seit 1949. Eine geringe Zahl, ein Zeichen der Stabilität für dieses Land, das sollten wir nicht gering achten. Italien bringt es auf 31 Regierungschefs im selben Zeitraum, Großbritannien auf 15.
Der Gegenwärtige, mit dem sich der Künftige gestern Abend ein ebenso lebhaftes wie zähes TV-Duell lieferte, wird dann Vergangenheit sein. Olaf Scholz gehört mit Ludwig Erhard (1963-66) und Kurt-Georg Kiesinger (1966-69) zu den Kurzkanzlern der Nachkriegsrepublik.
Wie lange wir mit Friedrich Merz leben werden, hängt einerseits von ihm selber ab, andererseits von der Koalition, die er bilden darf. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er säumig geblieben wäre. Der Hau-Ruck-Versuch, schärfere Immigrations-Gesetze mit Hilfe der AfD durch den Bundestag zu jagen, schlug fehl, stürzte ihn aber nicht unter 30 Prozent in den Meinungsumfragen wie befürchtet. Der Zweck des Manövers bestand darin, der AfD übergelaufene CDU-Wähler abspenstig zu machen.
Jetzt möchte Merz die FDP fleddern, die ziemlich sicher unter 5 Prozent bleiben wird. Mit einer gewissen Schnödigkeit empfiehlt er den liberalen Restwählern, ihre Stimmen doch bitte gleich der CDU zu geben, damit sie nicht verloren gehen.
Das Graben an anderen Parteien ist ebenso verständlich wie auch eine Verlegenheitslösung. Denn der Bald-Kanzler erfreut sich als Persönlichkeit keiner hinreichenden Popularität. Er zieht nicht freischwebende Wähler an, die jeder Kandidat dringend benötigt. Er ist nur unwesentlich beliebter als Olaf Scholz. Darin liegt ein großes, womöglich wahlentscheidendes Problem.
Es kommt also darauf an, ob er mit einer oder zwei Parteien eine Koalition bilden kann. Einem neuen Dreier-Bündnis fehlen sowohl Charme als auch Überzeugungskraft. Nach der Ampel will das niemand mehr. Wird Merz dazu gezwungen, ist sein Radius als Kanzler gering und der Binnenkonflikt in der Regierung programmiert. In Österreich ging dieses Experiment so schief, dass die FPÖ jetzt den Kanzler stellen kann.
Merz’ Möglichkeiten hängen also letztlich davon ab, wie viele Parteien im Bundestag vertreten sein werden. Die Höchstzahl wäre 7 (Linke/BSW/FDP/Grüne/SPD/AFD/Union). Die geringste Zahl wäre 4 (Grüne/SPD/AfD/Union). Wonach sieht es derzeit aus?
Die FDP kann man getrost abschreiben. Christian Lindner scheint sich so gut wie sicher verzockt zu haben. Ihm kommt das Verdienst zu, seine Partei einst aus dem Nirwana zurück ans Licht geführt zu haben. Nun kehrt sie zurück ins Dunkle. Sie wird sich zur Rehabilitation neu erfinden müssen.
Das BSW hat seinen Höhenflug vielleicht schon hinter sich. Es wäre kein Wunder, denn Sahra Wagenknecht ist weniger eine Parteiführerin als eine Egomaschine. Sie versteht es blendend, ihre schlichten Botschaften – USA böse, Russland gut, Immigranten nicht gut – in Talkshows als Endlosschleife zu verbreiten.
Gesetzt dem Fall, es bliebe bei 4 Parteien im Parlament, entsteht ein trickreiches Rechenexempel, unter welchen Umständen Union und SPD überhaupt eine Koalition bilden könnten. Denn dann müsste der Abstand zwischen CDU/CSU und AfD größer sein als der Abstand zwischen SPD und AfD. Nach der neuen Umfrage liegt Merz 9 Prozentpunkte vor Weidel, die SPD aber nur 7 Prozentpunkte hinter der AfD. Nur unter diesen Umständen könnten Union und SPD gemeinsam regieren.
Auf ein Ergebnis dieser Art muss Friedrich Merz hoffen. Einzig die Nach-Scholz-SPD bietet sich ja zum Bündnis an. Die Grünen fallen aus Gründen, die nur Markus Söder versteht, als Option aus.
Aber da gibt es eine Partei, die das ganze schöne Vierer-Gebilde zum Einsturz bringen kann. Mit ihr hat eigentlich niemand mehr gerechnet. Sie war abgeschrieben, gerupft durch die Renegatin Sahra Wagenknecht, als Resterampe zurückgeblieben.
Es handelt sich um die Linke, die gerade eine seltsame Wiederauferstehung feiert. Ihr laufen scharenweise neue Mitglieder zu. Sie hat in Sabine Reichinnek plötzlich eine Spitzenkandidatin, die Reden hält, die im Gedächtnis bleiben und auf TikTok viral gehen. Und da ist ja auch noch das Trio aus Silberlocken, das auf Rettungsmission ausschwärmt.
Gregor Gysi (77), Bodo Ramelow (68) und Dietmar Bartsch (66) bemühen sich um drei Direktmandate, die ihre Partei auf jeden Fall in den Bundestag hieven würden. Ihre Auftritte sind amüsant, selbstironisch und egogetrieben, was denn sonst.
20 Tage noch bis zur Wahl. Viel kann da passieren. Ein neuer Anschlag, ein schwerer Fehler, ein Lachen am falschen Ort, weitere Krisenbotschaften aus Wirtschaft und Industrie. Aber auch ohne neuerlichen Erregungs- und Empörungszyklus sieht es nicht danach aus, als bekäme Deutschland die starke Regierung, die es dringend braucht.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.