Was dem Olli so einfällt

Der FC Bayern hat geruht, den Trainer zu entlassen. Die Vereinsführung um Oliver Rolf Kahn ertrug es nicht, dass Julian Nagelsmann in Leverkusen verlor. Das Argument lautet so: Der hervorragende Kader sei Wankelmut und Unstetheit anheimgefallen, was nicht am Kader gelegen habe, sondern am Trainer. Die Sport-Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“ brachte es in ihrem Manierismus fertig, einen Zusammenhang zwischen der changierenden Kleidung des Trainers und der Unbeständigkeit der Mannschaft herzustellen, eine feine intellektuelle Leistung. Auf diese Beobachtung kommt nicht jeder. m

Schauen wir uns deshalb doch mal den herausragenden Kader an: Upamecano und Pavard verursachten zwei Elfmeter in Leverkusen. Wenn es ein Sinnbild für das Auf und Ab des FCB gibt, dann ist das Upamecano, der eine großartige Gabe besitzt, aber immer gut für einen Elfmeter ist. Damit erinnert er mich an Jérōme Boateng, der in seinen jungen Jahren auch so eine loose cannon war. Weiter: Alphonso Davies: irrwitzig schnell, im Vorwärtsdrang manchmal grandios, als reiner Verteidiger eher Durchschnitt. Er wiederum erinnert mich an Achraf Hakimi, den eben deshalb der auch junge Trainer Edin Terzić beim BVB ins Mittelfeld stellte. Oder Sané und Gnabry: Sind womöglich ewige Talente, weil sie nicht erwachsen werden. Gnabry experimentiert mit seinen Frisuren und wirkt auf mich wie jemand, der sich beständig im Spiegel beobachtet. Sané, der sein Gesicht mit Härchen umrankt, ist auch so ein Spieler, der zwischen Atemberaubend und Sinnlos hin und her schwankt. Oder Mané: Kann gut sein, dass er gar nicht richtig in diese Mannschaft passt. Choupo-Moting wiederum ist das beste Beispiel für das Auge eines richtig guten Trainers. Dass er in Leverkusen verletzt ausfiel, brachte das Mannschaftsgefüge durcheinander und trug zum Mangel an Durchschlagskraft bei.

Ja, Nagelsmann hat Fehler gemacht. Öffentliche Massregelung einzelner Spieler fällt darunter. Aber plausible Gründe, den Trainer im Sturzflug zu entlassen, gab es nicht. Die Herren Salihamidzić und Kahn sind höllisch darauf bedacht keinen Fehler zu begehen, und wer das so sehr nicht will, begeht sie eben. Und wie es sich fügte, lebt Thomas Tuchel in München und stünde vermutlich morgen nicht mehr zur Verfügung, weil ihn genügend Vereine für sich gewinnen wollen.

So kam es zu einer Entscheidung, für die es eigentlich keine immanente Begründung gibt. Und am Ende wird Julian Nagelsmann am meisten von dieser Sturzgeburt profitieren, zum Beispiel wenn er bei Real Madrid oder in Chelsea landet. Ich würde mich für ihn freuen.

Die Unbeugsame

Vor ein paar Tagen ist Antje Vollmer gestorben. Sie war eine kleine Frau mit leiser, leicht zittriger Stimme, einem klaren Kopf und ziemlich ausgeprägter Bildung. Sie gehörte zur Gründergeneration der Grünen im Bundestag und hat es länger durchgehalten als Waltraud Schoppe, Marieluise Beck-Overbeck oder Jutta von Ditfurth oder gar die früh gestorbene/ermordete Petra Kelly. Diese Frauen kamen nicht gegen die Männer auf, die durchwegs Machos waren: Joschka Fischer, Jürgen Trittin, Dani Cohn-Bendit, Trampelt/Ebermann usw. Antje Vollmer hieß die Große Grüne, das war im Spaß gesagt und im Ernst gemeint, denn an Verstand und Vernunft machte ihr keiner was vor. Die Grünen im Bundestag nannte sie später „eines der kritischsten Psycho-Gebilde der Republik“. Jürgen Leinemann, der zu den besten Reportern seiner Zeit gehörte, schrieb im September 1994 über sie: „Dass auch sie bei den dynamischneurotischen Prozessen in den eigenen Reihen nicht immer nur mit Edelmut und Opfersinn tätig war, weiß Antje Vollmer heute. Sie bedauert manches. Vieles wirkt nach.“

Das Leben trieb es wild mit ihr. Lebenskrisen gehörten für sie dazu, tiefe Krisen, Blicke in den Abgrund. Sozialismus gepaart mit Christentum. Leidenschaft und Opfer-Pathos. Empfindsamkeit und schneidende Kälte. Solche Gegensätze muss man erst einmal aushalten. Sie können zerreißen, aber auch empor tragen. Meistens hängt der Ausgang von den Umständen ab. In der Politik kommt alles zusammen, das Existentielle mit dem Pragmatischen, das Freundliche mit dem Feindlichen. Der Einsatz für die inhaftierten Terroristen der RAF und das Kümmern um den von einer Messerstecherin schwerverletzten Oskar Lafontaine.

In Antje Vollmers Gemüt ist manches tiefer hineingefallen als bei Joschka oder Otto. Politisch fand sie Ruhe und Sicherheit im zeremoniellen Amt der Vizepräsidentin des Bundestages. Menschlich und theologisch fand sie Respekt und Anerkennung bei so unterschiedlichen Menschen wie Richard von Weizsäcker und Oskar Lafontaine. Der Bundespräsident mit seiner aristokratischen Noblesse mag in ihr die kluge, gefährdete Frau geschätzt und umsorgt haben. Lafontaine lebte diese tiefenscharfe innere Unruhe, die auch sie erfüllte, viel stärker aus, menschlich wie politisch, als es ihr je möglich gewesen wäre.

Antje Vollmer und die anderen grünen Frauen ihrer Generation suchten ihre Rolle jenseits der Macht, welche die Machos wie selbstverständlich an sich rissen. Aber ohne diese Frauen wären die Frauen von heute nicht so weit gekommen, wie sie gekommen sind. Ich weiß gar nicht, ob Annalena Baerbock öfter noch Antje Vollmer begegnet ist und etwas aus ihrem Lebensverständnis mitgenommen hat. Waltraud Schoppe ist im Film „Die Unbeugsamen“ zu sehen. Von ihr ist eine Rede im Bundestag am 5. Mai 1983 in Erinnerung, als sie bei einer Debatte über Abtreibung über von der „fahrlässigen Penetration“ beim Sex und dem alltäglichen Sexismus im Parlament redete. Wie recht sie hatte, bewiesen wütende Zwischenrufer, die geiferten, früher seien Weiber wie sie als Hexen verbrannt worden. So ging es zu, vor 40 Jahren im ehrenwerten deutschen Parlament, das von Schlipsträgern beherrscht war.

Antje Vollmer gehörte zu den Unbeugsamen. Sie leisteten die Vorarbeit, sie ebneten den Weg für die Außenministerin, die Umweltministerin, für Grün-Schwarz wie in Baden-Württemberg, für den Feminismus. Geht es mit einigermaßen rechten Dingen, sind sie dankbar für diese Pionierinnen.

Dann macht mal, jetzt

Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll der Anteil an Sonnenstrom in Deutschland bei 30 Prozent liegen. Die Hausbesitzer gehen munter voran und setzen Solarmodule auf ihre Dächer. Da sie Nachahmer finden, sieht es gut aus. Bei Umfragen, ob sie Photovoltaik erwägen, sagten vier von fünf Befragte, sie wollten demnächst entweder Strom durch Paneele erzeugen oder Wärme durch Solarthermie.

Daran gefällt mir, dass sie einfach machen, weil es sinnvoll ist, und natürlich trägt dazu bei, dass der Staat den Sonnenstrom steuerlich fördert. Worauf es ankommt: Sie müssen nicht dazu gezwungen werden.

Bei Unternehmen sieht es weniger rosig aus. Investitionen auf Firmendächern oder in Solarparks auf freien Flächen sollen sich binnen acht Jahren amortisieren, so lautet die Kalkulation, was unter den herrschenden Bedingungen aber nicht nicht möglich erscheint. Wirtschaftsminister Robert Habeck arbeitet an einer neuen Solarstrategie, die er Anfang Mai vorstellen will. Darauf warten sie nun, die Unternehmer, und zwischen ihnen und Habeck scheint sogar Wohlwollen zu herrschen.

Sieh mal einer an, so geht es also auch. Der Staat setzt Anreize, das schon, und daraus folgen Schritte in die richtige Richtung, wobei Privat vorangeht und Unternehmen gerne folgen dürfen.

Meist laufen die Dinge ja anders. Geht es nach Robert Habeck, werden ab dem Jahr 2024 Öl- und Gasheizungen verboten. Ab dann sollen neue Heizungen zu 65 Prozent aus erneuerbaren Energien Wärme herstellen. Also werden Gasheizungen für eine Zeit neben Wärmepumpen existieren und zugleich gilt Wasserstoff als langfristige Alternative. Ziemlich ehrgeizig, aber immerhin beginnt jetzt die zielgerichtete Diskussion über Optionen und Stufen in der Transformation.

Oder Cem Özdemir: Der Ernährungsminister verlangt nach einem Werbeverbot für Fastfood zum Schutz der Kinder. Rund 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, fast sechs Prozent sind adipös.

Einen Minister, der für Ernährung zuständig ist, können solche Phänomene nicht kalt lassen. Freiwillige Selbstverpflichtung der Werbewirtschaft wäre eine Alternative, führe aber eben zu nichts, sagt Özdemir. Also Verbot. Die FDP ist dagegen, aus Prinzip. Entmündigung der Bürger ist des Teufels aus ihrer Sicht. Das reicht ihr als Argument. Aber reicht es?

Ehrlich gesagt, schwanke ich selber oft genug, ob sich der Staat heraushalten oder einmischen soll. Ob er besser fixe Fristen setzt oder auf den Erfindergeist der Techniker vertraut, denen rechtzeitig schon was einfallen wird.

Beide Grundhaltungen sind idealtypisch in der FDP und bei den Grünen vertreten. Verkehrsminister Volker Wissing machte sich gerade unbeliebt, weil er die Einigung der EU, ab dem Jahr 2035 Verbrenner-Motoren zu verbieten, unterlaufen möchte. Er argumentiert, klimaneutrale Mobilität lasse sich bis dahin womöglich auch durch synthetischen Kraftstoff erreichen. Der Markt möge dann entscheiden.

Klingt gut, klingt erhaben. Niemand spricht so beschwingt vom Markt wie die Liberalen – als wäre er eine reale Schönheit oder zumindest Adam Smiths unsichtbare Hand

Die SPD steht in der Mitte zwischen Grünen und FDP. Dabei ist sie im Übermaß mit der Selbstfindung in der neuen Weltordnung beschäftigt, da Entspannung durch Wandel keine Zauberformel mehr ist. Früher haben Sozialdemokraten mal gesagt, man müsse Ökologie und Ökonomie miteinander versöhnen. Man möchte ihr jetzt zurufen: Dann macht mal, wenn nicht jetzt, wann dann?

Die Konflikte zwischen den Parteien und den handelnden Personen sind echt, nicht taktisch hochgespielt. Der Gegensatz der Interessen prägt sich stärker aus, als es der Dreier-Koalition gut tut. Die Auseinandersetzungen um den Bundeshaushalt sind ein Spiegelbild der Probleme. Dass der Finanzminister den Kabinettsbeschluss verschoben hat, ist ein Alarmzeichen, auch wenn jetzt alle so tun, als sei es halb so schlimm, weil es sich ja nur um Eckpunkte handelt. In Wahrheit ist die übliche Prozedur für den Haushalt 2024 unterbrochen.

Nicht zufällig blockiert sich die Regierung selber. Christian Lindner muss die Schuldenregel einhalten, wie es das Grundgesetz vorsieht. Dazu sind die Zinsen so enorm gestiegen, dass die Mehreinnahmen an Steuern nicht dagegen aufkommen. Das sind Umstände, die ins Gewicht fallen. Und dann will jeder Minister das Meist für sein Ressort herausholen, was denn sonst. Vor allem der Verteidigungsminister hat die Logik auf seiner Seite.

Deutschland wird in den nächsten Jahren auf ganzer Linie transformiert. Lange genug ist nur davon geredet werden, jetzt werden die notwendigen Entscheidungen getroffen und deshalb brechen die unvermeidlichen Konflikte über Abfolge und Geschwindigkeit auf. Am Ende kommt es auf den Kanzler an, auf wen denn sonst. Darauf sind wir jetzt gespannt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Mein Kettenbrief

In letzter Zeit bin ich von einem Buch zum nächsten getragen worden, organisch, wie bei einem Kettenbrief. Darüber bin ich glücklich.

Es fing an mit „Feuer der Freiheit“, einem schönen Buch von Wolfram Eilenberger über vier Philosophinnen, deren Werdegang er von 1928 bis zum Kriegsende verfolgt. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, was die Erkenntnisse vervierfacht, die sich daraus gewonnen lassen. Die Vier sind: Simone de Beauvoir, Simone Weil, Hannah Arendt und Ayn Rand. Die beiden Französinnen sind nahezu gleich alt, kennen sich, sind sich jedoch alles andere als nahe; lebensgeschichtlich wie philosophisch trennen sie Welten. Hannah Arendt ist ebenso eine Einzelgängerin wie Ayn Rand. Beide landen in Amerika, wobei die eine vor den Nazis aus Berlin flieht und die andere vor den Kommunisten aus Petersburg. Mehr haben sie nicht gemeinsam.

Alissa Rosenbaum, die sich Ayn Rand nannte, ist die Älteste, Jahrgang 1905, mit 21 kam sie nach New York. Sie ist auch die erfolgreichste Schriftstellerin mit einer Auflage von 37 Millionen für ihre beiden Bücher „The Fountainhead“ (1943) und „Atlas Shrugged“ (1957). Die Prosa dient ihr als Alibi, um ihre politische Philosophie unterzubringen. Für sie ist jede Form des Kollektivismus (natürlich hat sie die Sowjetunion im Sinn, sieht aber ebensolche Züge in der amerikanischen Gesellschaft) des Teufels und radikaler Subjektivismus die Lösung des Problems, wobei sie ihren Hauptfiguren, zum Beispiel dem Architekten Howard Roark in „Fountainhead“, Züge von Nietzsches Herrenmenschen als Inbegriff geistiger und kultureller Unabhängigkeit verleiht; Nietzsche ist ihr Zentralgestirn. In der Dystopie dieser Welt kann nur der Einzelne überleben, indem er sich aus eigenem Recht unbeirrbar und kompromisslos als als Freigeist definiert. Ayn Rand war die literarische Schwester von libertären Ökonomen wie August von Hayek oder Milton Friedmann.

Der Unterschied zu Simone de Beauvoir oder Hannah Arendt liegt auf der Hand. Beauvoir, für die anfangs Mitmenschen eine gesichtslose, nichtswürdige Masse war, bringt den Anderen, womit ihr Gegenüber gemeint ist, die Gesellschaft, allmähliche Achtung entgegen. Dieses Hintreiben zur Anerkennung der Zeitgenossen, die sie nicht länger ignorieren kann, ist ihr wohl wie eine Kapitulation vorgekommen.

Arendt treibt die Nazi-Gegenwart von der reinen Philosophie, die sie bei Heidegger, ihrem Geliebten, studiert, in die politische Philosophie, in die Vita activa. Sie akzeptiert die Übermacht der Wirklichkeit und studiert sie mit der Kraft ihrer tiefenscharfen Bildung.

Meine Heldin aber wurde Simone Weil, von der ich bis zu Eilenbergers Buch nichts gewusst hatte. Ihr Leben ist wie ein langer Selbstmord. Sie stürzt sich hinein und nimmt Bürden auf sich, die sie körperlich zerrütten. Sie ist klein, kurzsichtig, von Kopfschmerzen geplagt, von schwachen Kräften. Ihre Wirkungsstätte sollte die Bibliothek sein. Ihr Leben sollte aus Büchern bestehen, in denen sie ihre Kenntnis und ihren Scharfsinn entfaltet. Doch, ja, sie schrieb viel und Kluges. Aber stärker noch trieb es sie mit existentialistischem Furor an Orte, an die sie eigentlich nicht gehörte. In Fabriken. In die Gewerkschaftsarbeit. In den Spanischen Bürgerkrieg. Nach London ins Exil, von wo sie mit dem Fallschirm über Frankreich abspringen wollte, um ein paar Nazis zu töten.

Mit radikaler Konsequenz wütete sie gegen ihre Konstitution an. Was sie verdiente, spendete sie zum Großteil, behielt für sich nur den Lohn einer Arbeiterin. Grundsätzlich aß sie zu wenig. Sattheit erschien ihr als verbotener Hedonismus. Ihr Leben war ein langes Sterben, war die Krankheit zum Tode, wie es bei Kierkegaard zu lesen war, der die Philosophie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg befruchtete.

So führte mich das „Feuer der Freiheit“ zur monumentalen Biographie von Simone Pétrement, einer Freundin von Simone Weil. Ich weiß jetzt mehr über die anarchisch-syndikalistische Gewerkschaftsbewegung in Frankreich und Spanien, als ich je wissen wollte. Ich habe jetzt aber auch ein inneres Bild von dieser Frau, die Einkehr in den Katholizismus fand und den heraufziehenden Krieg mit der „Ilias“ in all seinen Schrecken und seiner Menschenverschlingung vorhersah.

Dazu habe ich nebenbei die Autobiographie von Simone de Beauvoir gelesen, die ihre Kindheitserinnerungen derart dicht und eindringlich beschreibt und damit eine versunkene Welt beschwört, wie ich sie sonst nur aus den „Buddenbrooks“ kenne. Sympathisch ist mir nicht geworden, aber das macht nichts, es liegt an ihrer Zuführung jugendlicher Mädchenblüte für Sartre, aber das ist ein anderes Thema.

Den zweiten Kettenbrief hat Helmut Lethen mit seinem Buch „Der Sommer des Großinquisitors“ ausgelöst. Darin verfolgt er die Rezeption der Legende vom Großinquisitors, die eine andere Bedeutung gewinnt, wenn sie von Marcel Proust oder Carl Schmitt gedeutet wird.

Von Lethen kannte ich bis dahin nur den Namen. Auch wusste ich, dass er mit Caroline Sommerfeldt verheiratet ist, die ich aus der „Sezession“ kannte, einem Vierteljahresheft, in dem die Gralshüter der neuen Rechten schreiben. Jetzt weiß ich, sie war Lethens Studentin in Rostock und machte nach 2015 einen Transformationsprozess von Sozialliberal nach Rechts durch, der ihn verstörte, das schon, aber mehr nicht, weil er, wie er schreibt, der Familie höheren Rang einräumt als den intellektuellen Differenzen mit seiner Frau, die gemeinsam mit Höcke auftritt.

Eingangs erzählt Lethen, wie er durch den Zufall der ungesteuerten Lektüre zum Schreiben seines nicht sonderlich dicken Buchs gelangte. Dabei erwähnt er unter anderem die Hiob-Interpretation von Jan Assmann, dem Ägyptologen, was mich sofort dazu veranlasste, den Essay zu kaufen. Assmann interpretiert Hiobs Leidensgang als Wette zwischen Gott und dem Teufel, der in dieser vorchristlichen Zeit ein Gegenspieler in der Tafelgemeinschaft ist, noch nicht der Inbegriff des Bösen. Die Wette zielt auf die Zerstörung Hiobs ab, mit der Frage nach seinem Kern.

Gott spielt also mit Hiob. Es gibt noch nicht den Bund der Juden mit diesem Gott. Israel ist noch nicht das erwählte Volk. Gott ist das universale Prinzip und Hiob hält ihm die Treue über alle Gemeinheiten, Demütigungen, über alle Niedertracht hinweg. Lethen ließ sich von dieser Interpretation inspirieren, als er sich der Legende vom Großinquisitor näherte.

In Dostojewskis „Brüder Karamamasow“ ist die Legende nicht organisch eingefügt. In ihr steckt der Pessimismus, der das Gegendenken im heraufziehenden Zeitalter der Rationalität und Wissenschaftlichkeit mit seinem Fortschrittsoptimismus bildet. Daraus bezieht Dostojewski den Grundstoff für sein Weltbild, das sich literarisch niederschlägt.

Jesus Christus ist wieder ein Gefangener, der sich den Sermon des greisen Großinquisitors schweigend anhört. Der sagt ihm, du hast es dir leicht gemacht, du hast dich mit den Starken zusammen getan, mit einer kleinen Elite, die sich deinen Humanismus aneignen konnte. Aber was ist mit den Schwachen, und sie sind die Mehrheit, die du überforderst mit deiner Aufforderung zum Selbstdenken mit dem Gewissen als Maßstab des Handelns? Wer kümmert sich um sie? Wir kümmern uns, die Kirche, die du so nicht wolltest, die aber noch Bestand hat, weil sie weiß, dass Menschen schwach sind und Leitung brauchen, Führung durch eine übergeordnete Instanz. Das haben wir konsequent auf uns genommen. Deshalb verbrennen wir die Ketzer, und auch du wirst auf dem Scheiterhaufen enden, morgen gleich, und sie, die dich hier in Sevilla erkannt haben und vor dir auf die Knie sanken, werden uns zujubeln, wenn du stirbst. Niemand braucht dich, niemand will dich, dein Kommen ist unerwünscht.

Der Großinquisitor ist am Ende angelangt, ist erschöpft. Alles ist gesagt. Was morgen kommen wird, ist vorbestimmt. Dann aber umarmt der schweigsame Gottessohn den Greis zum Abschied und der ist davon so überrascht, so berührt, dass er ihn bei Nacht und Nebel in die Freiheit entlässt.

Was für ein Stoff für Konstruktion und Rekonstruktion. Was für ein Fundstück für Nihilismus oder Zynismus, für die Grundsatzkritik an Liberalismus und Aufklärung, für die Grundierung einer Herren-Ideologie, genauso wie für eine Apologie der Feindesliebe. Alles lässt sich hineinlesen. Ein Text aus dem 19. Jahrhundert für jedwede ideologische Aufladung im 20. Jahrhundert und darüber hinaus.

Das Büchlein trieb mich zu Lethens Autobiographie mit dem herrlichen Titel „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“. Wer Heiterkeit mit Sachkenntnis gepaart schätzt, ist hier richtig. Und wie es sich fügt, war Lethen mit Heinz Dieter Kittsteiner befreundet, dem früh verstorbenen Ideenhistoriker, der „Stabilisierungsmoderne“ hinterließ, eine (fast fertige) massgebliche Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, die mir zufällig im Herbst in die Hände gefallen war. Lethen und Kittsteiner waren Mitstreiter in einer der traurigen K-Gruppen, in der sich versprengte Reste aus der Studentenbewegung vereint hatten, die vielleicht sonst der RAF anheim gefallen wären. Nebenbei erzählt Lethen, dass ihm Kitt, wie er ihn nennt, die Heirat mit der um 36 Jahre jüngeren Caroline Sommerfeldt nie verziehen hat. Die Freundschaft versandete in Schweigen, wie schade.

Heute Nachmittag gehe ich mit meinem Hund in meine Lieblingsbuchhandlung oben an der Krummen Lanke und hole mir die „Verhaltenslehre der Kälte“ ab, das ist Lethens Opus Magnum. Der Kettenbrief ist noch lange nicht zu Ende.

Wenn nicht mehr genug im Tank ist

Manchmal ist es ja so, dass etwas Bemerkenswertes passiert, aber nicht gegen weltbewegende Ereignisse bestehen kann und deshalb ungenügend gewürdigt wird. Das Versäumnis will ich heute wettmachen und über zwei Frauen schreiben, die vor kurzem Ungewöhnliches taten: Sie legten ihr Amt freiwillig nieder.

Es begann mit Jacinda Arderb, die ihren Rückzug damit begründete, dass ihr die Energie fehle, die Tatkraft für das Amt der Ministerpräsidentin von Neuseeland. Ihr folgte wenige Tage später Nicola Sturgeon, deren Funktion die Schotten „First Minister“ nennen, wobei sich, nebenbei gesagt, die genderfreie englische Sprache aufs Schönste bewährt.

Zwei Frauen gestehen sich und der Welt ein, dass sie nach Jahren in herausragenden Ämtern erschöpft sind, seelisch wie körperlich. Sie ziehen die Konsequenzen und treten zurück. Sie verzichten auf Macht. Sie nehmen Abschied, eher leise, als wäre es selbstverständlich und bitten um Verständnis.

Ohne Außendruck den Rückzug einzuleiten ist unüblich. Das Gegenteil ist Normalität. Konrad Adenauer wäre am liebsten auch noch nach seinem Tod Bundeskanzler geblieben. Helmut Kohl verpasste den richtigen Zeitpunkt, was niemanden verwunderte. Gerhard Schröder sah noch eine Chance zum Weiterregieren, als da keine mehr war. Angela Merkel ist nur eine bedingte Ausnahme, da sie schon 2017 gehen wollte, sich aber zum überlangen Bleiben überreden ließ.

Jacinda Ardern, eine linke Politikerin aus der Labour Party, war 37 Jahre alt, als sie 2017 Ministerpräsidentin von Neuseeland wurde. Im Jahr darauf bekam sie ihr drittes Kind und saß nach sechs Wochen wieder am Schreibtisch. Kurz darauf brachte ein Rechtsextremist 51 Menschen in zwei Moscheen in Christchurch um. Jacinda Ardern fand angemessene Worte, sie war die richtige Frau in einem schrecklichen Augenblick. Plötzlich schaute die Welt auf sie und bewunderte ihre Haltung, ihren Charakter. Plötzlich war sie eine Ikone der Linken, die sich in Amerika oder England oder Deutschland jemanden wie sie wünschten.

Fünfeinhalb Jahre lang war Jacinda Ardern Premierministerin ihres herrlichen Landes. „Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe. So einfach ist das“, begründete sie ihren Rücktritt. Natürlich sah sie dabei nicht glücklich aus.

Nicola Sturgeon erlitt den Brexit, der ihr Land noch mehr von England entfremdete. Schottland ist proeuropäisch gesinnt, aber ohnmächtig gegen die radikalisierten britischen Konservativen. Die Schotten würde schon lange gerne die britische Vormundschaft abschütteln; jetzt noch mehr. Die linksliberale Ministerpräsidentin ist das Herz und die Seele der Weg-von-London-Bewegung. Acht Jahre lang hat sie dieses Amt ausgeübt, das ihr nach und nach die Lebensenergie aussaugte.

Neuseeland und Schottland sind keine Weltmächte, schon wahr. Der ukrainische Präsident Wolodmir Selenskij bat weder Wellington noch Edinburgh um Waffen oder Munition oder Panzer. Beide Länder liegen im Windschatten der Geschichte. Dennoch kommt diesen beiden Frauen das Verdienst zu, dass sie in Freimut über das Schwinden der Kraft reden, das jedermann ereilt, so machtversessen er oder sie auch sein mag.

Wem die Luft zum Atmen knapp wird, muss sich zunächst selber klar machen, dass es in ihm brodelt. Vermutlich vergeht einige Zeit, bis das Gefühl der Unrast, das jagende Herz beim Aufwachen mitten in der Nacht, die aufsteigende Angst, die gelegentliche Antriebslosigkeit zu einem unentwirrbaren Gemütsknäuel wird. Allmählich dringt die innere Not ins Bewusstsein und schreit nach Konsequenzen.

Vermutlich gingen Ardern und Sturgeon erst einmal Kompromisse ein, strichen Termine aus dem übervollen Kalender, leiteten kleine Veränderungen ein, beanspruchten mehr Privatheit im Tagesablauf, über den die Mitarbeiter bestimmen, und das mag sogar Wirkung gezeitigt haben, wenigstens für eine gewisse Zeit. Denn eine so endgültige  Entscheidung wie der Rücktritt ist ein Prozess, der sich quälend hinzieht, bevor er in die Einsicht mündet, es geht nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr so wenig von mir selber haben, von meinem Kind, von meinem Mann. Am Ende steht die Pressekonferenz, auf der sich der komplexe Gemütsprozess in wenigen klaren Sätzen auflöst.

Was bleibt zurück? Die Trauer um den Verlust eines Amtes, auf das sie energisch und zielsicher hingearbeitet hatten. Die Befreiung aus der Tretmühle. Die Rückgewinnung des funktionsfreien Ich. Jacinda Ardern ist 42 Jahre alt, Nicola Sturgeon 52, da geht noch einiges, keine Frage,

Zwei Frauen treten den Rückzug zur Überraschung ihrer Landsleute an. Châpeau! Aber warum thematisieren sie, worunter Männer genauso leiden, ohne es sich und anderen einzugestehen, geschweige denn die Konsequenzen zu ziehen?

Vermutlich haben weniger Frauen als Männer diese Allmachtsphantasien, die zum Anstreben und Ausüben von Macht gehören. Vielleicht schauen Frauen öfter nach Innen, prüfen sich strenger, sind überhaupt kritischer im Umgang mit sich. Vielleicht ist es häufiger so, dass Frauen Macht zum Machen benutzen und nicht als Selbstzweck verstehen, woraus ja fast zwangsläufig die Notwendigkeit zur Machtsicherung fließt, die auch jede Menge Energie bindet.

Timing ist nicht alles in der Politik, aber ohne Timing ist alles nichts. Nun kennen wir zwei Beispiele für die Einsicht in die Notwendigkeit, das Amt niederzulegen. Freiwillig. Aus eigenem Recht. Das bleibt im Gedächtnis der Öffentlichkeit. Und damit stehen die Apostel der Machtversessenheit ab jetzt unter dem Zwang, ihre Verweildauer in Ämtern zu rechtfertigen. Dafür haben die zwei bemerkenswerten Frauen aus Neuseeland und Schottland gesorgt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Basketballer und Bürgerrechtler

Vor ein paar Tagen habe ich eine schreckliche Lücke gefüllt, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Auf Netflix sind zwei Folgen über Bill Russell zu sehen, den ich zwar kannte, aber nicht gut, und wie ich verspätet verstanden habe, hätte ich mich mal besser früher um ihn gekümmert.

Als ich in Amerika lebte, von 2001 bis 2005, entdeckte ich den Basketball für mich. Der Grund lag an Michael Jordan, der zu diesem Zeitpunkt für die Mannschaft bei den Washington Wizards zuständig war. Es war sein erster Job im Management nach einer beispiellosen Karriere, die ebenfalls in einer fabelhaften Serie auf Netflix zu sehen ist, mit dem schönenTitel: The last dance.

Am 11. September 2001 um 10 Uhr morgens wollte Michael Jordan in einer Pressekonferenz bekannt geben, dass er von nun an für die Wizards Basketball spielen wollte, sein drittes Comeback, was natürlich eine Weltsensation bedeutete. Der beste Basketballspieler seiner Generation (um es vorsichtig zu sagen) würde wieder die Zunge rausstrecken, in der Luft stehen (in seinen eigenen Nike-Schuhen) und swutsch würde der Ball durchs Netz zischen, ohne den Ring zu berühren, versteht sich.

Ich war in Washington, MJ war in Washington, wir würden eine wunderbare Zeit miteinander verleben, dachte ich, hoffte ich, malte ich mir aus. Wie man sich denken kann, fiel die heiß erwartete Pressekonferenz aus, weil Mohammed Atta und seine Freunde drei Flugzeuge kaperten und zwei davon in die Twin Towers steuerten und eines nicht ins Kapitol fliege konnten, weil mutige Passagiere für den Absturz der Maschine bei Shanksville sorgten.

Mit den Folgen dieser Zeitenwende war mein Dasein als Korrespondent in den USA fortan ausgelastet. Zur Entspannung, zur Abwechslung, aber auch um dieses Land zu verstehen, schaute ich mir Basketballspiele an, schrieb eine Kolumne für SPIEGELOnline und flößte mir Sachkenntnis ein, indem ich Bücher las: von Charles Barkley (herrlicher Titel: I might be wrong, but I doubt it), von Magic Johnson. Dazu David Halberstams sensationelle Biographie über Michael Jordan und natürlich las ich auch Michael Wilbons Kolumnen in der „Washington Post“.

Ich fühlte mich auf sicherem Boden. Die Geschichte der NBA hatte ich inhaliert. Die heilige Dreifaltigkeit aus Nike, ESPN und Michael Jordan, die aus der NBA ein Milliardengschäft machte, leuchtete mir ein. Ich lernte Dirk Nowitzki kennen, stand vor (genauer gesagt: unter) Shaquille O‘ Neal und saß im „Milano“ an MJ’s Nachbartisch.

Aber ich hatte Bill Russell ausgelassen. Er sagte mir nichts, abgesehen von vielen Ringen, die er für die NBA-Meisterschaften (World Series heißen sie in Amerika in gewohnter Bescheidenheit) gewonnen hatte. Ich hatte Nachholbedarf, dringenden Nachholbedarf, und ahnte es noch nicht einmal. Ich war ignorant, was für ein Mist.

Bill Russell spielte als einer der ersten schwarzen Spieler in der NBA (sie sprachen damals wie selbstverständlich von den Negroes in der Liga). Seine Eltern waren wegen des Rassismus aus dem tiefen Süden nach Kalifornien gezogen. Sie waren vor dem Ku-Klux-Klan und dem Haß der Weißen in den Westen emigriert. Bill Russell spielte nach dem College für die Boston Celtics und gewann in 13 Jahren 11 Meisterschaften. 11! Er war gekommen und ein mittelmäßiges Team verwandelte sich in ein starkes Team.

Nun könnte man meinen: Boston, Neuengland, liberal, keine Vorurteile gegen Schwarze, aber von wegen. Boston war eine schrecklich rassistische Stadt, die einen schwarzen Spieler bei den Celtics duldete, weil er Siege garantierte, aber als Nachbarn wollten sie ihn nicht haben. Dort lebten in den 1950er und 1960er Jahren lauter Alexander Gaulands, der ja auch nicht Jerome Boateng in der Nachbarschaft dulden wollte. Was für eine Schande, was für eine Schmach, die sich Boston da antat. Aber auch die NBA, denn es dauerte, bis der überragende Spieler, nämlich Bill Russell, endlich als MVP ausgezeichnet wurde. Zuvor hatte sich immer irgendein Weißer gefunden, den sie dem Schwarzen vorzogen.

Bill Russell spielte Center. Er brachte es regelmäßig auf 20 bis 30 Punkte und 20 bis 40 Rebounds. Phänomenal. Immer noch bewundernswert anzuschauen, wie er die Bälle pflückt, die vom Brett oder vom Ring abspringen. Nichts daran war Zufall. Russell pflegte zu sagen, Basketball sei wie Geometrie. Der Winkel, unter dem der Ball abprallte, ließ sich berechnen. Es kam nur darauf an, richtig zu stehen, im richtigen Augenblick hochzuspringen und den Ball festzuhalten und sofort zum Konter zu passen, eine Kunstform, die er wie keiner beherrschte. Bill Russell machte ziemlich ziemlich viel richtig.

Im Sport gibt es häufig zwei hervorragende Spieler zu selben Zeit. Beckenbauer und Cruyff. Netzer und Overath. Messi und Ronaldo. Bill Russell lieferte sich mit Wilt Chamberlain epische Duelle. Chamberlain war ein Scorer, sein Rekord mit 100 Punkten steht noch heute und nicht einmal LeBron James reicht heran.

Chamberlain war das Gegenteil von Russell. Russell spielte 13 Jahre für die Celtics. Chamberlain fing im Showbusiness bei den Harlem Globetrotters an, spielte in San Francisco für die Warriors, in Philadelphia für die 76ers und für die Lakers in Los Angeles. Er gewann zwei Meisterschaften. Er war ein Egoman, ein Starspieler. Großartig, das schon, 2,18 m groß, 12 cm mehr als Russell, aber Bill Russell gewann 11 Ringe, weil er das Herz und der Kopf einer Mannschaft war.

Der tiergehende Unterschied zu Chamberlain war dieser: Russell war ein Bürgerrechtler. Er setzte sich für die Gleichberechtigung der Rassen ein. Er demonstrierte mit, er war beim Marsch Martin Luther Kings in Washington dabei. King wollte ihn auf der Bühne haben, aber Russell lehnte ab, das stehe ihm nicht zu, er sein nur ein Basketballspieler, was natürlich nicht stimmte, aber typisch für ihn war, für diese Demut, für das Wissen um seinen Platz.

Wilt Chamberlain beschränkte sich auf seinen eigenen Wohlstand und seinen eigenen Ruhm. Nach ihm hielt es Michael Jordan übrigens genauso. Von ihm stammt der Satz, auch Weiße zahlten Eintritt zu seinen Spielen, warum also sollte er sich gegen sie stellen?

Von Quietismus war Bill Russell weit entfernt. Damit machte er sich verhasst, nicht nur in Boston, aber vor allem dort. Als die Familie eines Tages aus dem Urlaub zurückkommt, findet sie das Haus verwüstet, rassistische Sprüche sind mit Kot an die Wände geschmiert.

Jetzt endlich weiß ich viel über Bill Russell und wie immer lerne ich über den Basketball das Amerika kennen, das seinen Rassismus bewahrt, ohne dass ich wüsste, warum diese Wunde sich nicht schließt, verdammt noch mal.

Freiwillig gehen, aus eigenem Recht – wow!

Es begann mit Jacinda Ahern, die ihren Rückzug damit begründete, dass ihr die Energie fehle, die Tatkraft für dieses Amt der Ministerpräsidentin von Neuseeland. Ihr folgte wenige Tage später Nicola Sturgeon, deren Funktion die Schotten First Minister nennen, wobei sich, nebenbei gesagt, die genderfreie englische Sprache aufs Schönste bewährt.

Zwei Frauen, gestehen sich ein, dass sie erschöpft sind, seelisch wie körperlich. Jacinda Ahern bekam ein Kind und man (Mann) kann sich nicht vorstellen, was Schwangerschaft und Geburt für einen Menschen bedeuten, der viel zu tun hat, um es neutral zu sagen. Dann noch ein Ausnahmezustand mit der Pandemie. Wer kein Herz aus Stein hat, den überkommt gelegentlich Mitgefühl für Amtsträger und Amtsträgerinnen, die Entscheidungen in historisch beispiellosen Lebenslagen treffen müssen, die sie um Schlaf und Resilienz bringen. Fünfeinhalb Jahre war Jacinda Ahern Premierministerin ihres schönen Landes.

Nicola Sturgeon erlitt den Brexit, der ihr Land noch mehr England entfremdete. Schottland wäre gerne unabhängig, die Ministerpräsidentin ist Herz und Seele der Bewegung-los-von-London. Acht Jahre hat sie dieses Amt inne, das ihr die Lebensenergie aussaugte.

Neuseeland und Schottland sind keine Weltmächte. Ihre Probleme sind weniger fundamental. Selenskij fragte weder da noch dort um Waffen oder Munition oder Panzer nach. Beide Länder liegen im Windschatten der Geschichte, schon wahr.

Wem die Luft zum Atmen knapp wird, muss sich zunächst selber klar machen, dass die Kraft nachlässt. Vermutlich vergeht einige Zeit, bis sich das Gefühl der Unrast, das Aufwachen mitten in der Nacht, die gelegentliche Antriebslosigkeit zu einem Bündel zusammen schießt, so dass der innere Wandel ins Bewusstsein dringt und nach Konsequenzen schreit. Vermutlich geht man (Frau) Kompromisse ein, stiehlt sich erst einmal Zeit, leitet kleine Veränderungen ein, geht möglichst dann und wann, wenn es sich ergibt, früher schlafen, beansprucht mehr Freizeit im Kalender, den andere für sie führen, wenigstens am Wochenende, leitet Abwechslung ein und das mag sogar Wirkung zeitigen, wenigstens für eine gewisse Zeit. Das ist ein Prozess, der sich quälend hinzieht und in die Einsicht mündet, es geht nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr so wenig von mir, von meinem Kind, von meinem Mann haben. Am Ende steht die Pressekonferenz, auf der sich die lang anhaltende Unklarheit in wenigen klaren Sätzen auflöst.

Was bleibt zurück? Das Eingeständnis von Schwäche durch Ermattung der Stärke. Die Trauer um den Verlust eines Amtes, auf das man (Frau) energisch und zielsicher hingearbeitet hatte. Die Befreiung von der Tretmühle. Die Rückgewinnung des funktionsfreien Ich. Dennoch: gemischte Gefühle dürften sie erfüllen, was denn sonst. Wenn es gut geht, verliert das Bedauern seine Tiefenschärfe und gewinnt die Befreiung an Kraft für einen Neuanfang. Jacinda Ahern ist 42 Jahre alt, Nicola Sturgeon 52, da geht noch was, keine Frage.

Zwei Frauen treten den Rückzug zur Überraschung ihrer Länder an. Niemand verlangte es ihnen ab. Keine von ihnen stand unter Bedrängnis. Ungewöhnlich. Châpeau! Vermutlich haben weniger Frauen als Männer Allmachtsphantasien, schauen öfter nach Innen, prüfen sich strenger, sind überhaupt kritischer im Umgang mit sich selber, eventuell auch grundsätzlich ambivalent gegenüber höchsten Ämtern. Vielleicht ist es häufiger so, dass Frauen Macht zum Machen benutzen und nicht als Selbstzweck verstehen, woraus ja fast zwangsläufig die Notwendigkeit zur Machtsicherung fließt.

Natürlich fallen mir sofort Gegenbeispiele ein, Angela Merkel zum Beispiel, die ja aber auch eigentlich 2017 aufhören wollte und von honorigen Figuren wie Obama beschworen wurde zu bleiben, weil ihre Erfahrung den richtigen Umgang mit dem Springteufel Trump eingeben würde. Gut möglich, dass sie sich hinterher sagte, hat ja nichts gebracht, diesen schrecklichen Kerl konnte eh niemand einhegen. Aber es ist schon gut, wenn Frauen imstande sind, die ihnen verliehene Macht virtuos zu handhaben. Selbst Angela Merkels Minenspiel ist fern der Glückseligkeit geblieben, die Helmut Kohl oder Gerhard Schröder im Ausüben der Macht durchglühte.

Timing ist nicht alles in der Politik, aber ohne Timing ist alles nichts. Nun kennen wir zwei Beispiele von Demut aus Einsicht in die Notwendigkeit das Amt niederzulegen. Freiwillig, aus eigenem Recht, ohne äußere Not. Das bleibt, das schlägt sich im Bewußtsein der Öffentlichkeit nieder. Und damit stehen die Apostel der Ewigkeit ab jetzt unter dem Zwang, dass sie ihre lange Verweildauer in Ämtern rechtfertigen müssen. Dafür sorgen die zwei bemerkenswerten Beispiele aus Neuseeland und Schottland.

Wie viel Veränderung verträgt Berlin?

Berlin ist wild, bunt, anarchisch auch. Zugleich ist Berlin in manchen Kiezen genauso bürgerlich wie Hamburg und ähnlich ordentlich wie München, manchmal sogar langweilig wie Stuttgart, wenn man Stuttgart 21 mit dem BER aufrechnet. Aber die Stimmung, ja die ist einzigartig in dieser großen Stadt.

Wurschtig. Übellaunig. Zynisch amüsiert über all das, was nicht klappt, und das ist ja bekanntlich ziemlich viel. Wenn es so etwas wie autoaggressiven Stadt-Patriotismus gibt, dann findet der sich hier.

Deshalb lieben sie die Hertha, weil es dem Verein gelingt, Hunderte Millionen Euro zu verpulvern, mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass sie immer noch weiter hinten in der Tabelle herum krebst, als sich dunkel erahnen ließ. Hertha versucht es nun ja mit einer Berliner Lösung, was immer die Vereinsführung darunter verstehen mag, vielleicht dass Bescheidenheit ziert und Investoren böse sind. Stimmt ja beides, oder?

Der Big City Club aber liegt weit drüben im Osten, in der Alten Försterei, nix Olympiastadion. Der 1. FC Union ausgerechnet steigt und steigt, in der Tabelle und finanziell, wer hätte das gedacht. Ist doch eine herrliche Überraschung, mit der sich endlich mal renommieren ließe. Lässt sich aber nur bedingt, weil Erfolgsgeschichten in Berlin gegen den Komment verstoßen, nicht wahr?

Berlin wählt neuerdings gerne, zum zweiten Mal schon innerhalb von anderthalb Jahren, während eine Legislaturperiode eigentlich fünf Jahre dauert. Multitasking ist nicht so die Sache der Stadt. War ja auch viel, an jenem Sonntag im September 2021: Marathon und Bundestagswahl, Bezirkswahl und Volksentscheid. Nach dem Gesetz, wonach alles schief geht, was schief gehen kann, ging eben einfach alles schief. 

Das Schöne an Wahlkämpfen ist allerdings, dass wir vom Spitzenpersonal der Parteien erfahren, welches Berlin sie meinen, wenn sie über Berlin sprechen.

Fangen wir mit Bettina Jarasch an, der es gerade wie Annalena Baerbock ergeht – sie springt weit und dürfte zu kurz landen. Regierende Bürgermeisterin will sie werden und zwar als Patronin aller Radfahrer, für die sie Raum gegenüber den Automobilen schaffen will, ein redliches Unterfangen, das schon. Nun zeichnet es allerdings viele Radfahrer aus, dass sie die Farbe Rot für eine Empfehlung halten, die sie großmütig ausschlagen, wodurch sie sich wenig von vielen Autofahrern unterscheiden, die in aller Gemütsruhe bei Dunkelrot über die Kreuzung trudeln.

Selbstverständlich hat Bettina Jarasch nur die regelkonformen Radfahrer im Sinn, wie sie in vielen Interviews sagt. In diesem Zusammenhang fiel aber ein Satz, es war bei t-online zufällig, der Beachtung verdient. Er lautet so: „Mein Maßstab für das Gemeinwohl sind immer die Schwächsten. Im Straßenverkehr sind die Schwächsten die Fußgänger und Radfahrer.“

Gemeinwohl ist ein hehres Wort, ein staatstragender Begriff, leicht angestaubt in einer Zeit, die bis zum Abwinken Authentizität und Nahe-bei-den-Menschen bei allzeit politischer Korrektheit einklagt. Beim Gemeinwohl geht es um das Gesamtinteresse einer Gesellschaft, das ist geradezu der Gegenbegriff zu Einzel- oder Gruppeninteressen wie den Radfahrern. 

Damit sind wir beim Grundproblem des politischen Berlin angelangt. Jede Partei beschränkt sich auf Gruppeninteressen – die Grünen, die Linken sowieso, die FDP aus Prinzip. Ergänzt wird dieser Tatbestand durch ein Ungleichgewicht zwischen den Spitzen und ihren Parteien. Bettina Jaraschs Spielraum engen Hardcore-Grüne in Kreuzberg und Friedrichshain ein. Franziska Giffey wollte schon 2021 mit der CDU regieren, was ihr die SPD jedoch verwehrte. 

Die noch und vielleicht auch wieder Regierende Bürgermeisterin erweckt noch am ehesten den Anschein, dass sie an das ganze Berlin denkt – eben an das Gemeinwohl. Zu den Silvester-Angriffen auf Polizei und Feuerwehr fand sie alleine, die mal Bürgermeister in Neukölln war, angemessene Worte. Die CDU hingegen wollte unbedingt die Vornamen der Täter in Erfahrung bringen. Was sie damit bezweckte, bleibt ihr Geheimnis. Auf die Provokation kam es ihr an, da sie doch wissen musste, dass im Zweifelsfall Feuerwehrleute oder Polizisten die gleichen türkischen oder arabischen Vornamen tragen wie die Angreifer, welche die CDU stigmatisieren wollte.

Dennoch darf sich die CDU, ihr Vorsitzender heißt Kai Wegner und versteht sich als Schutzpatron der Verdrängung erleidenden Autofahrer, in der Hoffnung wiegen, die stärkste Partei zu werden. Seit ihrem Untergang mit der Bankengesellschaft vor 22 Jahren wäre das eine Wiederauferstehung. Nicht dass der Spitzenkandidat ein Ausbund an Popularität wäre, aber wer nicht länger Rot-Rot-Grün wie ein Perpetuum Mobile bekommen will, bedient sich eben der CDU.

Vielleicht tut sich ja was in Berlin, politisch gesehen. Aber kann man sich die Stadt ohne den Kultursenator Klaus Lederer vorstellen? Und die Bundesliga ohne Hertha, während der 1. FC Union Champions League spielt? Und darf man Berlin, das sich wohlig in seiner Dysfunktionalität eingerichtet hat, so viel Veränderung überhaupt zumuten?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der Mann, der die DDR nicht retten durfte

Hans Modrow war ein milder Mann, der Metall in seine Stimme legte, um Missverständnissen vorzubeugen. Diese Gewohnheit hatte er sich zugelegt, weil die beiden Erichs, Honecker und Mielke, ihn ernst nehmen sollten, was sie allerdings nicht nahmen. Ihnen war der Genosse zu soft, zu unentschlossen, er sollte bleiben, was er war, Bezirksleiter der SED in Dresden, in der Provinz.

Modrows Stunde schlug erst, als die beiden Erichs und der dritte dazu, Krenz nämlich, auf dem Friedhof des Sozialismus gelandet waren. Plötzlich stand der ewige Außenseiter im Zentrum der Ereignisse und versuchte sich als ehrlicher Makler, das muss man ihm zugute halten, auch wenn er sein Land nicht retten durfte, wie sich alsbald erwies.

Am 19. Dezember 1989 nahm der bundesdeutsche Machtpolitiker Helmut Kohl diesen Modrow in Augenschein und befand ihn ebenfalls als zu weich, zu ideenlos, wie die DDR ökonomisch überleben könnte. Am Abend feierte Kohl  dann mit Zehntausenden begeisterter DDR-Bürger die Vorwegnahme der Wiedervereinigung, ein dramatisches Ereignis unter nächtlichem Winterhimmel, das mich schwer beeindruckte.

Seither war Hans Modrow kalt gestellt. Die Geschichte räumte ihm nur noch die tragische Rolle des Erblassers der Resterampe DDR ein. Von ihm geblieben ist ironischerweise lediglich das „Modrow-Gesetz“ vom 1. März 1990, womit sämtliche volkseigene Betriebe und Kombinate in Kapitalgesellschaften übergeführt wurden. 

Interessant ist, wie sich Modrows Ruf unter seinen ostdeutschen Landsleuten veränderte. Jahrzehntelang hatte er der SED-Nomenklatura angehört. Die Menschen, die seit Oktober auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk“ gegen Honecker/Mielke/Wolf/Modrow skandierten, machten keinen Unterschied zwischen den Erichs und ihm. Die kleinen feinen Unterschiede fielen erst im Nachhinein ins Gewicht, als sich die Folgen der Transformation zum Kapitalismus in Massenarbeitslosigkeit und sozialer Entwurzelung niederschlugen.

Modrow hatte anderes gewollt, darauf kam es jetzt an. Ein Drei-Phasen-Modell zur Wiedervereinigung hatte ihm vorgeschwebt, gestreckt über viele, viele Jahre. Am Ende dann sollte das neue Gebilde Gesamtdeutschland Neutralität wahren. Denn da sich der Warschauer Pakt aufgelöst hatte, die militärische Organisation des Ostblocks, sollte sich konsequent auch die westliche Nato auflösen, das war die Überlegung, die nicht ganz von der Hand zu weisen war. Außerdem hatte Modrow die Idee aufgegriffen, dass den Bürgern der DDR Anteilsscheine an allen Betrieben und Unternehmen der DDR zustünden, die sie dann verkaufen durften, wenn sie wollten. Dem Volk sollten die volkseigenen Betriebe wenigstens nominell gehören.

Plausible Vorstellungen waren das zu ihrer Zeit. Die Geschichte ging allerdings kaltherzig, wie sie ist, darüber hinweg – in Gestalt der Regierung Kohl/Genscher/Waigel und deren Ausführungsorgan Treuhand. Doch die treibende geschichtliche Kraft waren diese Zehntausenden Demonstranten im Herbst 1989, die unbedingt die DDR loshaben wollten. Sie waren der eminenten Beschleuniger, der auch über bedenkenswerte Vorstellungen hinwegfegte.

Noch in seinen letzten Interviews rügte Hans Modrow den Mann, auf den es in diesen geschichtlichen Augenblicken wirklich ankam: Michail Gorbatschow. Im Grunde konnte Modrow es nicht fassen, das die glorreiche Sowjetunion, die Panzer in die DDR, nach Ungarn und die Tschechoslowakei zur Rettung ihres Nachkriegsimperiums geschickt hatte, so mir nichts, dir nichts weggab, was ohne sie keine Zukunft haben würde.

Modrow wollte noch im Oktober 1989 im alten Geist handeln, das gehört zu seiner Lebensgeschichte. Er entwarf Pläne zur gewaltsamen Unterdrückung der Demonstranten in Dresden. Er ließ Tausende Bürger verhaften, die zum Bahnhof geeilt waren, als die Freiheitszüge aus Prag Dresden passierten.

Das Milde war gepaart mit eisernen Zähnen. Seltsamerweise aber lag der metallene Modrow neben der historischen Spur. Milde in diesem Augenblick wäre taktisch klüger gewesen. Aber gutes Timing gehörte nicht zu seinen Stärken. Das erwies sich auch in einer Episode am 3. Dezember 1989, an die sich die Nachwelt erinnern sollte.

Überliefert hat sie Wolfgang Berghofer, der damals neben Modrow Oberbürgermeister der schönen Stadt Dresden gewesen war und im Westen ebenfalls als Mann mit Zukunft galt. „Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige“, habe Modrow gesagt. „Die Schuldigen sind wir“, will Berghofer eingewandt haben, was Modrow nicht beeindruckte: Die Massen müssten schnell einen Verantwortlichen präsentiert bekommen, der Schuldige solle das Ministerium für Staatssicherheit sein.

Stümperhaft, könnte man sagen, mit dem Wissen von heute. Die friedliche Revolution war Anfang Dezember 1989 über solche Vorstellungen längst hinweggegangen. Freundlicher formuliert dachte Modrow noch immer innerhalb der DDR-Systemlogik, weil er sich sich ein Europa ohne DDR einfach nicht vorstellen konnte.

Hans Modrow blieb hell und wach und streitbar bis an sein Ende im Alter von 95 Jahren. Sein Land, die sozialistische DDR, konnte er nicht retten, aber das hätte ja auch wirklich niemand vermocht.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Mesut Özil, das Genie, hört auf

Mesut Özil hört auf, habe ich gelesen. Von ihm kam noch keine offizielle Verlautbarung, wonach er sich aus dem Fußballsport zurückziehen wird. Es passt zu ihm, dass er sich nicht äußert oder mit Verspätung oder eben erst dann, wenn er es für nötig befindet.

Ich habe ihm anfangs ungläubig, dann mit Staunen und, als ich mich an sein Ingenium gewöhnt hatte, voller Neugierde zugeschaut. Er war der erste deutsche Fußballspieler, der Räume sah, die kein anderer sah. Er führte den Ball am linken Fuß, schob ihn mit dem Außenrist knapp am Gegenspieler vorbei, so dass der wie ein Tölpel aussah, und schon war ein Mitspieler in den freien Raum gestartet, zog den Ball mit und wie aus dem Nichts war eine Chance entstanden.

Mesut Özil fing bei RW Essen und bei Schalke 04 an. Den Schalkern müssen die Tränen kommen, wenn sie daran denken, dass ihr Verein seinen Vertrag nicht verlängern wollte. Damals konnte sich Rudi Assauer solche Kapriolen leisten. Schalke war gut, spielte Champions League und ein aggressiver Berater, Özils Vater, prallte mit seinen Forderungen an der Selbstgefälligkeit der Vereinsführung ab.

Dann zwei Jahre in Bremen, Werder wurde wie Schalke im Jahr zuvor Vizemeister, und dann Real Madrid. 15 Millionen Ablöse, ein Schnäppchen nach heutigen Kriterien. Erste Saison: 36 Spiele, 6 Tore, 19 (!) Vorlagen. Im Tor stand Casillas, Ramos spielte in der Innenverteidigung, Xabi Alonso im defensiven Mittelfeld mit Sami Khedira, im Sturm CR 7, Benzema, di Maria. Mourinho war Trainer.

Mesut Özil war ein scheuer Mensch, schüchtern, in sich gekehrt. Manches gab sich mit dem Erfolg. Was blieb, war das Erratische, das sich psychologisch als Korrelat zu seiner Genialität verstehen lässt. Sein Elixier war das Unberechenbare, dieses Aufblitzen, der Pass, den keiner kommen sah, nur irgendein Mitspieler, der im Training ein Gespür dafür bekommen hatte, dass Mesut wie eine Vision einen leeren Raum öffnete und eine Chance kreierte und eine Hintermannschaft mit einem sanften Pass schachmatt setzte.

Natürlich erweist sich im Rückblick die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien als der Höhepunkt seiner Karriere. Toni Kroos war das Metronom, Özil der Schöpfer feiner Chancen und wieder ein überaus mannschaftsdienlicher Spieler, was gerne vergessen wird. Südafrika vier Jahre später: der Tiefpunkt. Das Foto: Gündogan und Özil mit Erdogan. Das vom DFB orchestrierte Fußball-Deutschland machte Mesut Özil zum Sündenbock, zum Schuldigen für das erbarmungswürdige Scheitern. An seiner Leistung konnten sie nichts festmachen, also stürzten sie sich auf seinen Charakter. Das Stille erschien ihnen als Provokation. Das Schüchterne als Arroganz. Die Melancholie, die ihm eigen war, als Gleichgültigkeit.

Medien können Missgunst und Zorn steuern und sie steuerten die herrschende Niedertracht hin zu Mesut Özil. Der konnte sich nicht wehren, wollte es vielleicht auch nicht. Niemand interessierte sich ohnehin für seine Deutung des Ausscheidens. Manuel Neuer als Kapitän versagte, wie er immer versagt, wenn es darauf ankommt, Stellung für andere zu beziehen, für einen Mitspieler, Stellung auch gegen die tumben Toren vom DFB. Neuer ist der Inbegriff des Jasagers. Erst im Alter, als sein Freund und Torwarttrainer kaltblütig rausgeschmissen wurde, als er in der Reha war, wehrte er sich. Hätte er nur mal früher damit angefangen und vor allem den Mut gehabt, für andere einzutreten.

Was das Anprangern in Özil auslöste, für ihn bedeutete, wüsste ich gerne. Irgendjemand wird irgendwann auf die Idee kommen, mit Özil ein langes Lebensgespräch zu führen und vielleicht erzählt dieser wunderbare Spieler darin von seinem Erleiden fundamentaler Ungerechtigkeit. Bei Arsenal fiel er in Ungnade, ging zu türkischen Vereinen und hoffte wohl darauf, dass ihn die Verehrung wieder zu schönen Spielen inspirieren würde, so dass seine Genialität nochmals zu voller Entfaltung kommen könnte. War nicht so. Stellte sich nicht ein. Wie schade.

Jetzt hat es ein Ende. Ginge es mit rechten Dingen zu, würde Deutschland dem ersten Genie seit Franz Beckenbauer einen Kranz flechten oder wenigstens ein Abschiedsspiel mit einer internationalen Mannschaft organisieren. Ich bin gespannt, ob der Sportdirektor des DFB, der ehrwürdige Rudi Völler, einen Sinn dafür besitzt, dass Deutschland sich etwas Gutes antut, wenn es Mesut Özil ehrt, den Mann, der Räume sah, die gar nicht da waren.