Die Angst vor dem Kontrollverlust

Jetzt ist sie wieder in vollem Gange, die Debatte übers Asyl. Mit neuem Ernst und Tatendrang und der Ahnung, wie ungemein schwer es fallen wird, die Zahl der Geflüchteten zu reduzieren. 350 000 aus vielen Ländern sollen sich in diesem Jahr dafür bewerben, hier leben zu dürfen. Dazu kommen 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine, die vor dem Krieg geflohen sind und Sonderrechte genießen.

Experten sagen, dass die hohe Zahl der Geflüchteten einem Post-Corona-Effekt zu verdanken sei und natürlich auch der Not in vielen Staaten dieser Erde. Die Menschen kommen aus Somalia und Mali, aus Kolumbien und Venezuela, Syrien, dem Irak und Afghanistan. Mehr als 5 Millionen Menschen haben allein Afghanistan nach der Wiederkehr der Taliban verlassen. Deutschland ist für viele vo ihnen das gelobte Land. Dass die Regierung Merkel im Jahr 2015 die Moralität ihrer Denkungsart unter Beweis stellte, trägt wesentlich zur Anziehungskraft bei.

Was tun? Im neuen „Spiegel“ ist eine Umfrage zitiert, wonach 84 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass zu viele Geflüchtete nach Deutschland kommen und 82 Prozent glauben nicht, dass Politik und Verwaltung die Krise meistern könnten. Die Moralität der Denkungsart, gegenüber Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine erneut bewiesen, ist mächtig rückläufig.

Die Empathie sinkt mit der Angst um Kontrollverlust. Und die Desillusion, dass der Staat die Kontrolle zurück gewinnen kann, gründet auf Erfahrung. Denn seit vielen Jahrzehnten kreisen die Vorschläge der Parteien immer schon um den Kampf gegen die Schleuserbanden, die Ausweisung nicht anerkannter Asylbewerber und die verschärfte Sicherung der Grenzen als Mittel zur Entlastung der herrschenden Verhältnisse.

Bisher war es so, dass es ohne Zutun der jeweiligen Bundesregierung ein Auf und Ab der Asylbewerber-Zahlen gab. Nun aber stellt sich die Frage, ob die liberale Demokratie, die ohnehin durch schwierigste Debatten über Klima und Ukraine-Krieg und Inflation ramponiert ist, so liberal bleiben kann, wie wir es gewohnt waren, wenn die Asylpolitik das Land zusätzlich spaltet und wiederum der AfD die Segel füllt.

Früher hießen die Schlagzeilen: Das Boot ist voll. Heute redet Markus Söder über Integrationsgrenzen, wofür er die Zahl 200 000 aufführt, die er im Nachtrag allerdings zur Richtgröße aufweicht. Und natürlich sind die Bürgermeister und Oberbürgermeister ans Limit gekommen oder auch schon darüber hinaus. Sie sollen ja für Unterkünfte und Schulen und Kitas und medizinische Versorgung sorgen.

Überhaupt ist es so, um mal etwas Positives zu sagen, dass derzeit Vorschläge und Ideen die Runde machen, über die man ohne Schaum vor dem Mund diskutieren kann. Altbundespräsident Joachim Gauck rechtfertigt neues Denken, er vermag „Spielräume zu entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen“. Denn dass es nicht bleiben kann, wie es ist, weiß so ziemlich jeder und gibt es auch zu.

Den weitest gehenden Vorschlag unterbreitet der CDU-Abgeordnete Thorsten Frei. Er empfiehlt, dass deutsche Asylrecht radikal umzubauen, wodurch aus dem individuellen Recht eine Institutsgarantie würde. Die Konsequenz wäre, dass die Europäische Union pro Jahr 300 000 bis 400 000 Schutzbedürftige direkt aus dem Ausland aufnimmt und auf die Mitgliedsstaaten verleiht. Natürlich wäre heute schon gesichert, dass weder Polen noch Ungarn ein Kontingent aufnehmen wollte und deshalb sollten sie nach dem Frei-Plan sich davon mit Geld freikaufen können. 

Die Begründung für den Vorschlag ist die Trostlosigkeit, dass schätzungsweise 26 000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken sind und mindestens genau viele auf dem Weg durch die Sahara ihr Leben verließen. Wer kein Herz aus Stein hat, den lässt diese Menschentragik, nicht kalt.

Freis Vorschlag leidet allerdings darunter, dass er nicht im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention steht. Außerdem ist das  Problem viel zu komplex, um monokausal gelöst zu werden.

Zahllose deutsche TV-Talkshows, zuletzt gestern Abend mit Anne Will, haben sich mit den real existierenden Verhältnisse in Lampedusa oder Moira, im Mittelmeer und der Sahara, beschäftigt. Mich hat am meisten ein Mann beeindruckt, der enorm kompetent und ohne Tamtam seine Auffassungen vertritt. Er heißt Gerald Knaus und ist ein österreichischer Migrationsforscher. Von ihm stammt einer der wenigen klärenden Sätze in der Kakophonie von halbgaren Meinungen. Knaus sagte im Interview mit dem „Spiegel“: „Es gibt ein Recht auf Asyl, aber nicht auf Migration.“ So sagt es übrigens auch die Flüchtlingsorganisation der Uno, UNHCR.

Das Institut, das Knaus leitet, hat das Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei ausgearbeitet, das im März 2016 in Kraft trat und zur Entspannung beitrug, weilte Zahl der Flüchtlinge von einer Million (im berühmten Jahr 2015) auf 26 000 zurückging. Dieses Abkommen, so meint Knaus, müsste erneuert werden, um den gleichen Effekt wie damals vor sieben Jahren zu entfalten. Besonders Griechenland ist daran interessiert und würde Zehntausende Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen, wenn die Türkei wieder illegal von dort nach Griechenland Geflüchtete aufnähme.

Ein anderer Vorschlag, der auch in der deutschen Debatte nahegelegt wird, betrifft sichere Drittstaaten im Norden Afrikas, in die dann Menschen, die hierzulande einen Antrag auf Asyl gestellt haben, in Aufnahmezentren geschickt werden. Dänemark, von einer Sozialdemokratin regiert, geht einen Schritt weiter und will, dass anerkannte Asylbewerber dann auch dort bleiben.

Am Ende wird sich die Veränderung des real angewandten Asylrechts nicht ohne unsympathische Vorschläge vollziehen, die inhuman klingen. Da Geflüchtete auch über die Route Russland/Belarus an deutsche Grenzen gelangen, geht es kaum noch ohne Schutz der Grenzen, um die Kontrolle nicht noch mehr zu verlieren. Da das Liberale an der deutschen Demokratie bröckelt, könnten Richtgrößen definiert werden, wie viele Geflüchtete das Land verkraften kann. Damit nicht noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken, sollten zusätzliche Abkommen mit sicheren Drittstaaten wie Marokko geschlossen werden, in denen dann Asylverfahren stattfinden.

Auf die umsichtige Kombination von Faktoren kommt es an. Frisches Denken empfiehlt sich. Phantasie und Mut zu neuen Lösungen sind willkommen.

In zwei Wochen wählen Bayern und Hessen neue Landtage. Dass die Angst vor Kontrollverlust dabei eine Rolle spielt, ist ziemlich sicher. Hinterher wissen wir, wie groß sie ist.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der große Unvollendete

Der Oskar wird heute 80, Glückwunsch, rundes Alter nach einem wilden Leben. Er ist schon noch der alte Oskar, wenn auch in seinen Augen das Verschmitzte nicht mehr so häufig aufblitzt, diese mit Arroganz gewürzte Ironie, die eine politische Zuspitzung auskostet und auf das Echo bei den Zuhörern lauscht.

Weißt du noch? Vor kurzem empfing Oskar Lafontaine einen alten Bekannten, an dem er verzweifelt war und von dem er sich betrogen fühlte: Gerhard Schröder. Der ehemalige Kanzler der SPD und der ehemalige Parteivorsitzende der SPD saßen also bei Rotwein zusammen und mögen über ihre großen Zeiten geplaudert haben. Als sie den Helmut Kohl abräumten. Als sie das geniale Tandem ihrer Partei waren. Als sie fast so etwas wie Freunde waren, aus denen dann bittere Gegner wurden. Und bestimmt haben sie auch über ihre Nachfolger gelästert, was denn sonst, den Olaf und die anderen, die ihnen nicht das Wasser reichen können.

Von Gerhard Schröder ist nichts mehr zu erwarten, außer Golfen und schönen Bildern aus dem trauten Heim in sozialen Medien, von Gattin Nummer 5 biedermeierlich kommentiert. Oskar Lafontaine hingegen ist noch für Überraschungen gut, zum Beispiel wenn er demnächst gemeinsam mit Sarah Wagenknecht, Gattin Nummer 4, eine Partei gründet, was ja durchaus möglich erscheint, obwohl die Ausrufung arg lange auf sich warten lässt.

Unter anderen Umständen wäre zum 80. Geburtstag eine große Sause fällig, mit vielen Rednern aus vielen Staatsämtern, die an die Saar tingeln und ihn in die Geschichtsbücher einordnen. Oskar Lafontaine ist ja nun wirklich eine historische Figur, die vieles konnte und vieles war. Immer der Jüngste, immer der Schnellste, das Großtalent seiner Generation, geboren noch im großen Krieg, vaterlos aufgewachsen in einem katholischen Arbeiterhaushalt. Oberbürgermeister von Saarbrücken mit 33, Ministerpräsident mit 41, Kanzlerkandidat mit 47.

Sein Leben lang hat er die Menschen fasziniert und polarisiert. Er baute auf und warf um. In ihm hat man keinen, auf den Verlass wäre. Von je her hat er viel über Moral in der Politik geredet, aber wenn es ihm zu viel wurde, wenn er die Nummer Eins nicht sein durfte, brach er alle Brücken ab. Von jetzt auf gleich

Woher kommt das – dieses Jähe, diese weidwunden Befreiungsschläge, der verzweifelte Rückzug, wie an jenem 11. März 1999, als er, der Finanzminister der Regierung Schröder/Fischer die Brocken hinwarf, einfach so?

Seine beste Zeit war im Saarland als OB und Ministerpräsident. Kleines Land, große Probleme, vor allem die Transformation der Kohle- und Stahlindustrie, bei der er sich bleibende Verdienste erwarb. Das war Oskar, der Realist, der die Dinge nahm, wie sie waren, und das Beste aus ihnen machte.

Aber er war größer als das Saarland. Er wollte ins Reich, wie man dort so sagt. Aber wie sollte er aus diesem kleinen Bundesland am Rande der Republik zur nationalen Figur werden?

Durch Provokation und Rebellentum. In der dauerhaften Opposition zur SPD-geführten Bundesregierung, deren Kanzler Helmut Schmidt hieß. Über ihn sagte Lafontaine, das Pflichtgefühl, die Machbarkeit und Berechenbarkeit, von denen Schmidt immer rede, das seien Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ führen könnte. Ja, Lafontaine konnte maßlos sein, wenn er sich im Recht glaubte.

Oskar Lafontaine stand nicht allein. Er genoss die Protektion der Galionsfigur der SPD, Willy Brandts; so glückte das Experiment Wie-werde-ich-bedeutend. Dazu kam das Wohlwollen der  Medien, von „Spiegel“ bis „Bild“ , die den Aufstieg nicht nur begleiteten, sondern flankierten. Fortan war Lafontaine nur noch der Oskar für Freund und Feind. Die Reduktion auf den Vornamen war ein Symbol für das Ankommen auf der großen Bühne der Politik. Im Ausland hielt man ihn wegen seiner Polemik und Unberechenbarkeit bald für den gefährlichsten deutschen Politiker.

Willy Brandt sagte einmal über Lafontaine, der Junge sei eine Mischung aus Bebel und Mussolini. Der Oskar bewegte sich ja rhetorisch gerne in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, zu deren Gründungsvätern August Bebel gehört hatte. Das mit dem Duce meinte der große Vorsitzende vermutlich als Mahnung, den Hang zum populistischen Schwadronieren zu zähmen.

Denn in diesen Jahren des Aufstiegs mauserte sich der hedonistische Saarländer zu einem großen Rechthaber. Es ist allerdings die entscheidende Frage, ob einer, der recht zu haben glaubt, auch recht bekommt. 

Lafontaine gehörte in den 1970er Jahren zur Avantgarde der ökologischen Bewegung und der Friedensbewegung. Unter den aufstrebenden Politikern galt er als Intellektueller auf der Höhe der Zeit. Auf diese Weise war Oskar Lafontaine die große Hoffnung der SPD und des Regierungs-Projektes mit den Grünen. Der Gerd, der Oskar und der Joschka bildeten das scheinbar unaufhaltsame Trio, das Helmut Kohl bald schon in Rente schicken würde.

Aber dann kam 1989. Die Demonstrationen in der DDR. Der Zusammenbruch der SED. Die Aussicht auf Wiedervereinigung. Die Geschichte raste und erwischte Lafontaine auf dem falschen Fuß. Paris lag ihm grundsätzlich näher als Dresden. Von einem großen Deutschland hielt er nichts. Er stemmte sich gegen die Geschichte. Er beschwor die DDR-Bürger, drüben zu bleiben. Er hielt die Währungsreform für Irrsinn. Das Ganze passte ihm nicht.

Dann kam der 25. April 1990, der Tag, als ihm Adelheid Streidel ihr Messer in den Hals rammte, gleich neben der Halsschlagader. Hinterher sagte die psychisch kranke Frau, sie habe Lafontaine töten wollen, um vor Gericht über die unterirdischen Fabriken reden zu können, in denen Menschen körperlich und geistig umfunktioniert würden. Daran knüpften in der Pandemie die Verschwörungsgläubigen an.

Das Attentat muss ein grauenhafter Schock gewesen sein, was denn sonst. Normalsterbliche hätten sich auskuriert, wären in die Reha gefahren, hätten womöglich mit Psychologen über das Geschehene gesprochen und überhaupt darüber nachgedacht, wie sie weiterleben wollten. Nichts war ja wie vorher. Auch die Binnenwelt stand urplötzlich auf dem Kopf.

Aber Lafontaine machte so schnell wie möglich weiter, als wäre nichts Schlimmes passiert. Arbeit sollte die Therapie sein. Die Alternative wäre Rückzug von der Kanzlerkandidatur gewesen. Doch diesen Bruch nahm er nicht auf sich. Was ihn tief innen bewegte, hat er vielleicht am ehesten mit Wolfgang Schäuble beredet, dem Leidensgenossen, der ein halbes Jahr später angeschossen worden war.

Dann kam die schwere Wahlniederlage gegen Helmut Kohl: 33,5 Prozent (minus 3,5 Punkte) gegen 43,8 (minus 0,5). Die DDR-Bürger wollten die Einheit und bekamen sie. Ihr Held war Helmut Kohl. Für sie war Lafontaine der Mann, der die Einheit nicht wollte.

Erstmals zog sich Oskar Lafontaine ins Saarland zurück. Jetzt war er wieder nur der Ministerpräsident, aber in sicheren Gefilden. Am ehesten konnten die Wunden hier heilen. Hier liebten sie ihn. Hier war er ihr Oskar.

Auch der zweite Ausflug in die große Politik erwies sich als Fiasko.1998, endlich der ersehnte Machtwechsel. Rot-Grün in der Regierung. Seine Freunde rieten ihm zum Fraktionsvorsitz, er aber wollte in die Regierung und als Finanzminister und SPD-Vorsitzender die Zügel halten. Er verkannte die Lage. Die Nummer Eins war ein anderer.

Oskar Lafontaine scheiterte an Gerhard Schröder, dem besseren Machtpolitiker und Strategen. Der Bruch am 11. März 1999 gründete auf einer unnachahmlichen Mischung aus verletzter Eitelkeit und politischen Gegensätzen über die notwendigen Reformen. Dass Lafontaine alles hinwarf und flüchtete, bleibt ein beispielloser Akt in der deutschen Nachkriegspolitik. Der Austritt aus der SPD 2005 war der konsequente Schritt.

Dritter Anlauf: Auch der Aufbau der Linken basierte auf einer Männerfreundschaft, diesmal mit Gregor Gysi. Ihr gemeinsamer Traum war es, die SPD als linke Volkspartei abzulösen. Der Traum war schon zerstoben, als Oskar Lafontaine an Krebs erkrankte und wiederum den Rückzug ins Saarland antrat. Er genas und katapultierte seine Landespartei in ungeahnte Höhen. Dann legte er sich mit Provinzchargen der Linken an, und trat verbittert auch aus dieser Partei aus.

80 ist er heute und bestimmt ein bisschen weise. Ein Unikat bleibt er, der große Unvollendete der deutschen Politik. Einer, der vieles konnte, noch mehr wollte, aber immer kleinere Pirouetten drehen musste. Und natürlich hat es etwas Tragisches, wenn eine große Begabung sich nicht erfüllen kann. 

Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.

Eine halbtote Mannschaft wachgeküsst

Gestern haben sie wieder seinen Namen in Dortmund gesungen, wie sie seinen Namen immer schon gesungen haben: Ruuuudi Völler. Und wenn es eine Volksabstimmung unter den Anhängern des deutschen Fußballs gäbe, wer Bundestrainer werden soll, dann bekäme der Ruuuudi Völler knapp unter 100 Prozent.

Das hat er nun davon. Sie wollen ihn behalten, weil die Mannschaft, die er zusammenstellte, endlich mal wieder gewonnen hat, endlich mal wieder schöne Tore geschossen hat, endlich mal wieder das Publikum mit sich gerissen hat, was in Dortmund, zugegeben, leichter ist als anderswo, aber egal. Was für eine Erleichterung, welcher Balsam auf unseren Seelen.

Der junge Rudi Völler, da hatte er noch diese enorme Matte auf dem Kopf, sagte mal einen Satz, der nach Angabe klingt, aber zutrifft: Ich bin einer, der noch nicht da war. Er meinte seine Eigenart zu spielen, denn er war ja nicht der riesengroße Mittelstürmer, er musste sich also etwas ausdenken, um eine Tore zu schießen, genau so wie sein großer Vorgänger Gerd Müller. Er bugsierte den Ball mit sämtlichen Körperteilen ins Tor, er ließ sich immer einiges einfallen.

Heute ist er immer noch einer wie keiner. Ein erfahrener Fahrensmann, weitergereist aus Offenbach über Bremen nach Rom (Spielführer in dieser uritalienischen Mannschaft!) und Marseille. Er war alles, was man nur sein kann: Opfer einer Spuckattacke (Rjikard!), Weltmeister, Trainer einer deutschen Vize-Weltmeister-Elf, Wut-Redner gegen den beamtenhaften Gerhard Delling, Sportdirektor – und jetzt also Interimstrainer zum Wachküssen einer halbtoten Mannschaft.

Geht noch mehr? Ginge nur, wenn er wollte. Fürs Wollen braucht es nicht viel. Glauben wir ernsthaft, dass sich Julian Nagelsmann im zarten Alter von 36 Jahren den Job als Bundestrainer antut? Könnte nur sein, wenn er es sich nicht zutraut, den nächsten trainerlosen Verein in London (Chelsea) oder Spanien (nach Ancelotti bei Real Madrid) zu übernehmen.

Wer wäre sonst noch da? Oliver Glasner: ein Österreicher! Stefan Kuntz? Müsste erst vom türkischen Verband geschasst werden. Das war’s schon, im Wesentlichen. Da der DFB nicht vorgesorgt hat, zum Beispiel durch verschärftes Nachdenken über einen Plan B, ist es fast wahrscheinlich, dass Aki Watzke und Bernd Neuendorf Völler demnächst bearbeiten werden: Du, Rudi, du hast es so gut gemacht, mach’s doch noch ein bisschen weiter so gut, nur noch die EM im nächsten Jahr, denn, weißt du, dann haben wir mehr Zeit, einen richtig guten Trainer zu finden.

Es gibt nur ein’ Rudi Völler und der ist ein Gemütsmensch, ein Arbeiterkind, das weiß, worauf es im Leben ankommt, zum Beispiel dass Fußball eine Sache ist, der mit Kopf und Herz gespielt wird, mit Mut und Leidenschaft. So einer macht eben immer mal vieles richtig, indem er Jonathan Tah und Benjamin Henrichs aufstellt, wobei sicherlich die Abwesenheit von Joshua Kimmich dem deutschen Spiel gut tat, was denn sonst.

Er hat unsere Seele gestreichelt und uns allen ein sehr ansehnliches Spiel gegönnt, wie schön. Also, liebe Leute vom DFB, wenn ihr nicht eine ganz tolle Lösung präsentieren könnt, bleibt doch einfach erst mal bei Ruuuudi Völler! 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Die Loyalität der Verlierer schwindet

Neulich habe ich gelesen, dass 48 Prozent aller Länder auf Gottes Erdboden Demokratien sind. Nicht schlecht, fast die Hälfte, hätte ich nicht gedacht. Natürlich zählen auch Staaten wie Indien, das sich gerade auf dem G-20-Gipfel als Sprecher des Südens versuchte, mit seinem Kasten-System und seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Armut dazu. Als Vergleichsmaßstab diente das Jahr 2006, als noch 58 Prozent der Länder zu den Demokratien gezählt werden durften. 

Demokratien kommen und gehen. Sie verändern sich, nehmen autokratische Züge an wie in Polen oder Ungarn. Liberale Demokratien hingegen sind im Rückzug begriffen, siehe Großbritannien oder die USA. Demokratien sind erfahrungsgemäß keine Selbstläufer. Man kann froh sein, wenn die Institutionen funktionieren, zum Beispiel der Rechtsstaat, der eben jetzt Donald Trump anklagt für den Versuch, seine Wahlniederlage in einen Sieg umzumünzen.

Und wie steht es mit unserer Demokratie? Nicht besonders erfreulich, schon wahr. Soeben ist das Heizungsgesetz im Bundestag verabschiedet worden, kein Glanzstück der Regierungskunst. Die CDU hat in Gestalt von Jens Spahn angekündigt, sie würde, sollte sie nach der nächsten Wahl regieren, das Gesetz rückgängig zu machen. Ernsthaft? Entweder wird sich Spahn, ein flinker Gedächtniskünstler, dann nicht mehr an seine Worte von heute erinnern, oder er wird in der nächsten Regierung wieder nicht Kanzler. Aber damit sind wir bei einem Problem, das die Parteien im Umgang miteinander aufwerfen. Zur Demokratie gehört die Loyalität der Verlierer. Sie sollten die Niederlage akzeptieren und nicht so tun, als sei die herrschende Koalition ein tumber Haufen von Dilettanten. Die CDU/CSU hatte einst geschworen, sie würde die Entspannungspolitik niemals hinnehmen – und akzeptierte sie nach dem Machtwechsel. Die SPD hatte dereinst gegen die Westbindung übel polemisiert – und akzeptierte sie schließlich.

Das Heizungsgesetz ist ein schönes Beispiel für große Politik, die in den Alltag ihrer Bürger hineinreicht. Geht es gut, sehen die Menschen ein, dass die Veränderung notwendig ist und akzeptieren sie. Vor allem in der eigenen Lebenswelt muss sich das, was im großen Ganzen die Transformation der Gesellschaft heißt, bewähren. Das Fiasko besteht darin, dass zuerst die Verunsicherung über das anstehende Gesetz wuchs und sich dann ein Ausweg aus der auferlegten Not eröffnete: Schnell eine neue Ölheizung, damit die Wärmepumpe warten muss.

Zeit zu gewinnen ist ein alter politischer Trick. Vielleicht tritt aber ein anderer Effekt in diesem Interim ein: die Gewöhnung an das Notwendige. Vielleicht legt sich die Aufregung über die Zumutung der Regierung, zumal ja der Staat zur Investition beiträgt. Gut wär’s ja.

Momentan haben die Grünen, durchaus selbstverschuldet, den Schaden. Sie sind die Beelzebuben. Im Netz werden sie schon mal zur „Todessekte“ erklärt. Markus Söder will niemals und wenn überhaupt, nur über seine Leiche mit den Grünen regieren. Friedrich Merz erklärt sie zum Hauptgegner. Ziemlich leichtfertig, wenn die konservative Seite über die Grünen herzieht, als seien sie noch die Linksradikalen, die sie mal waren. Da spielen sie anderen in die Hände.

Vielleicht leben wir in einem Zwischenraum. Die Ampel-Koalition dürfte keinen Bestand haben. Da fügt sich nichts von selber. Und es muss ja nicht schlecht sein, wenn denn nach der nächsten Wahl eine funktionstüchtige Regierung entstünde – am besten aus CDU/CSU und Grünen. Warum? Weil die Union überzeugend darlegen könnte, der Umbau der Industriegesellschaft sei ja nun einmal nicht ihre Herzensangelegenheit, aber dummerweise unerlässlich und deshalb bei ihr kompetent aufgehoben. 

Die deutsche Nachkriegsdemokratie hatte immer das Glück, dass unverdächtige Koalitionen historisch Notwendiges auf sich nahmen. Konrad Adenauer überzeugte das verunsicherte Bürgertum von der Westbindung, die es stets abgelehnt hatte. Die Entspannungspolitik, für die die Union nicht zu haben war, setzte die SPD-FDP-Koalition ins Werk. Die SPD, die der Wiedervereinigung zu großen Teilen nichts abgewinnen konnte, war in der Opposition und Helmut Kohl besaß im Ausland das erforderliche Renommee, so dass die Einheit erstaunlich geschmeidig zustande kam. 

Die Transformation zur Klimaneutralität hat mindestens genau so viel Gewicht und historische Bedeutung. Nach dem Gesetz der Serie könnte eine Unions-geführte Regierung befriedende Wirkung haben, weil ihr niemand Ideologie unterstellt. Dass Markus Söder für diese Oktober-Wahl ganz auf die Freien Wähler setzt, steht nicht im Widerspruch. Heute würde es die CSU zerreißen, wenn der Ministerpräsident seine Vorliebe für die Grünen entdeckte. Bayern bleibt fürs Erste ein Sonderfall. Noch.

Natürlich kommt es auf die richtigen Leute an. Friedrich Merz kann ihnen den Weg ebnen, mehr bleibt ihm nicht. Mit den Grünen regiert die CDU zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Schleswig-Holstein. Dort könnte sch eine Figur herausbilden, die Sinn für Teamarbeit hat und Verständnis für die besondere deutsche Tradition, Fortschritt zu organisieren.  

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Nichts stimmt in dieser Mannschaft

Das Freudvolle vorneweg: Wir sind Weltmeister. Im Basketball. Waren wir noch nie. Eine Mannschaft ist über sich hinausgewachsen, jeder kämpfte für jeden. Der Team-Spirit war überwältigend. Das war so, wie die deutsche Mannschaft damals in Brasilien, 2014, als sie Argentinien in einem irrsinnig intensiven Spiel schlug. Argentinien foulte und foulte, Schweinsteiger blutete aus vielen Wunden, und keiner in dieser Elf ließ sich aus der Ruhe bringen. Sie glaubte an sich, das war’s!

Wir sollten uns unbedingt noch mal auf YouTube die letzten 14 Minuten dieses Endspiels anschauen. Götzes Tor! Wir müssen uns ja an der Vergangenheit wärmen. Für die Älteren unter uns ergeht die Empfehlung: Mexico 1970 Deutschland gegen Italien, das Jahrhundertspiel, Italien gewann nach Verlängerung 4:3. Oder vier Jahre später Deutschland gegen Niederlande, Beckenbauer gegen Cruyff. 2:1.

Von 2014 an ging’s bergab. Seit neun Jahren. Die längste Flaute. Zwei Weltmeisterschaften versiebt. Gab es noch nie. Chile 1962 war unschön, aber vier Jahre später: Endspiel gegen England. 1974 Weltmeister, 1978 schlimm, 1982 Finale gegen Italien. Das war der Rhythmus, damit konnte man leben. Aber so?

Vorgestern fand die Beerdigung des deutschen Gegenwartsfußballs statt. 1:4 gegen Japan, keine Übermannschaft, um das Mindeste zu sagen. Pein, nichts als Pein. Mich beschlich  das Gefühl, dass in dieser Mannschaft nichts stimmt. Totes Holz. Vielleicht hat sie sich ans Verlieren gewöhnt, traut sich jedenfalls nichts zu, zieht sich gegenseitig herunter. Und draußen stand dieser glücklose Trainer, ein anständiger Mensch, der sich etwas einfallen ließ, aber das Falsche, der eine Bullenabwehr aufstellte, die jedoch groteske Fehler beging.

Folglich muss Hansi Flick gehen. Er wird der Letzte sein, der sich darüber beschwert. Das Geschäft kennt er. Ihm bleibt München, die Krönungsmesse beim Triple. Und uns bleibt das Rätsel, wie ein dermaßen erfolgreicher Vereinstrainer dermaßen erfolglos als Bundestrainer sein kann.

Wer kein Herz aus Stein hat, dem blutet es. Wir haben uns schon mit weniger Talent begnügt ( ich sage nur: Schwarzenbeck! Briegel! Jeremies!), aber weniger Talent hat trotzdem gewonnen. Mit unbändigem Willen. Eine dieser Rumpelfußball-Mannschaften, das war 1990, ist sogar Weltmeister geworden.

Mit den Spielern, die im System Flick versagt haben, muss der nächste Trainer zurecht kommen. Es gibt ja keine anderen. Was sich schon abzeichnete, ist nicht zu ignorieren. Die Generation der Gnabry/Sané/Goretzka/Kimmich stagniert seit geraumer Zeit. Viel Anspruch, wenig Erfüllung, geschweige denn dauerhaft. Die Kunst jedes neuen Trainers wird darin bestehen, diesen Komplex der knapp unter Dreißigjährigen aufzubrechen und mit jüngeren Spielern zu durchmischen. Florian Wirtz ist sicherlich einer, Karim Adeyemi ein anderer. Mehr fallen mir auf Anhieb auch nicht ein. Aber bitte nie wieder Nico Schlotterbeck als Außenverteidiger. Und ist Ilkay Gündogan wirklich der richtige Chef im Mittelfeld?

Nun also erst einmal am Dienstag gegen Frankreich. Ein seltsames Trio wird sich auf die  Bank quetschen: Rudi Völler, als Bundestrainer vor vielen, vielen Jahren gescheitert; dazu Hannes Wolf, als Vereinstrainer in Stuttgart/Hamburg/Leverkusen gefeuert; und Sandro Wagner, immerhin ein Erfolgstrainer, mit Unterhaching aufgestiegen, ein Lernender, so definiert er sich. Es wird doch wohl niemand auf die Idee kommen, einen der Drei zum Bundestrainer zu ernennen, obwohl man dem DFB allerlei zutrauen muss.

Wer soll’s werden? Genauer gefragt: Wer ist gerade arbeitslos und nicht auf dem Weg nach Saudi-Arabien? Na denn, viel Glück bei der Suche. Und lasst uns mit Enttäuschungsfestigkeit wappnen für die Europameisterschaft 2024 in Deutschland.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Aiwanger war gestern, Augenklappe ist heute

Zunächst einmal gilt Olaf Scholz unser geballtes Mitleid. Wer sich dermaßen die rechte Gesichtshälfte verschandelt, muss schon ganz schön übel gestürzt sein. Vielleicht ist er über einen Stein gestolpert, vielleicht hat er eine Wurzel übersehen, vielleicht ist er beim prüfenden Blick hoch zum verdunkelten Himmel ins Straucheln geraten. Leider kennen wir noch nicht den gesamtumfänglichen Hergang des dramatisch herunter gespielten Unfalls, aber die harten Jungs aus den Recherche-Pools werden nicht ruhen, bis sie die Wahrheit und nichts als die Wahrheit heraus gefunden haben. Wir erwarten ihre Erkenntnisse voller Spannung. Aiwanger war gestern, die Augenklappe ist heute.

Ja, joggen ist gefährlich. Fussgänger sind grundsätzlich unberechenbar, Radfahrer gemeingefährlich, von den Weg kreuzenden Wildschweinen nicht zu reden. Vor kurzem kam der Präsident der Universität Bayreuth, bekannt durch KT zu Guttenberg, beim Joggen zu Tode. Er war aushäusig unterwegs gewesen, auf der Kölner Rheinpromenade, überquerte einen Bahnübergang bei Rot und ein Zug erfasste ihn. Oder die US-Schauspielerin Reese Witherspoon („Sweet Home Alabama“), die in Santa Monica über einen Zebrastreifen nach Hause joggen wollte, als ein Automobil sie erfasste. Überlebt hat sie, mit Schrammen und Prellungen, ähnlich wie der Kanzler.

Wie das immer so ist, fallen unsereinem bei einem neuen Sportunfall noch viel schlimmere Vorkommnisse ein, hinter denen die Augenklappe und die Gesichtsblessuren von Olaf Scholz verblassen. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, welch ungeheurer Vorteil darin liegt, dass ein deutscher Kanzler sich gleichbleibend schlank joggt, anstatt sich mit Saumagen voll zu stopfen (Kohl) oder Currywürste in sich hinein zu schaufeln (Schröder). Schon einmal aus diesem Grund überlassen wir anspielungsreiche Witzchen der Konkurrenz, etwa wie: Nicht mal das Joggen kriegt dieser Kanzler hin oder sicherlich hat ihm einer seiner Bodyguards im Auftrag von Putin in die Beine getreten.

Wer joggt, hat meine Sympathie. Vielleicht bewältigt Olaf Scholz die Irrsinnsbelastung im Kanzleramt auf diese Weise besser. Vielleicht trägt der gelegentlich Adrenalinschub zur Erheiterung seines Gemüts bei. Deshalb möchten wir ihm zurufen: Weiter joggen, Herr Bundeskanzler! Nur schade um die rechte Augenklappe, denn mit der Klappe auf dem linken Auge sähe er wenigstens aus wie der israelische Kriegsheld Mosche Dajan, was natürlich in Zeiten des Ukraine-Krieges die Sympathie von Selenskji eingebracht hätte. Aber sei’s drum, man kann nicht alles haben.

Und wenn Olaf Scholz jetzt das Joggen vergangen sein sollte, bleibt immer noch der Trost, den der ewige Zigarrenraucher Winston Churchill spendete. Gefragt nach dem Geheimnis seines hohen Alters, antwortete er: No sports.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Schlafwandeln oder aufwachen

Auf die Bundesregierung prasseln allerlei gute Ratschläge ein. Das Hickhack müsse nun endlich ein Ende haben, wünscht sich der Verband der chemischen Industrie. Die Koalition sollte ihrem Anspruch gerecht werden und Fortschritt wagen, sagt der Maschinenverband. Die Regierung schlafwandle durch die Krise, sagt der Arbeitgeberpräsident. Die Ampel brauche mehr inneren Zusammenhalt, um das Land zusammen zu halten, sagt der Chef der IG-Metall.

Deutschland ist unter anderen das Land der Industrieverbände, Gewerkschaften und anderer Lobby-Organisationen. Sie verfolgen ihre eigenen Interessen und stellen Forderungen an den Kanzler, den Finanzminister oder den Wirtschaftsminister; das ist in Ordnung so. Aber es fällt auf, dass ihr Einlassungen derzeit mit der Besorgnis gespickt sind, dass die Regierung mit sich selber beschäftigt bleibt und damit die Demokratie, wie wir sie kennen, ins Wackeln kommen könnte.

Die Ratschläge zielen auf die Klausur der Bundesregierung morgen und übermorgen in Meseberg. Es sagt uns ja auch schon der gesunde Menschenverstand, dass die selbstvergessene Selbstbeschäftigung der drei Teile, aus denen die Regierung besteht, ins Nirwana führt. An empirischen Belegen dafür, dass auch die FDP von der Opposition in der Regierung keinen Vorteil zieht, fehlt es nicht. Ebensowenig mangelt es an Erfahrung, dass Olaf Scholz durch Schweigen, Zurückhaltung und Runterspielen der Probleme nicht an Popularität gewinnt. Und die Grünen merken jetzt, dass der Boykott der Familienministerin sie noch mehr herunterzieht, was denn sonst.

Was Verbände und Gewerkschaften in diesen Tagen hören lassen, ist der Appell, bloß nicht weiter zu machen wie bisher. Recht haben sie und vermutlich denkt eine größere Mehrheit in Deutschland genau so: Hört auf mit  Zeder und Mordio, regiert ernsthaft und kümmert euch um die Probleme dieses Landes, um die Inflation, um die Digitalisierung, um Strom und Energie, um die Bundeswehr, um den Mittelstand, ums Klima etc. Ist genug zu tun, also packt es an.

Im Grunde bietet sich der Koalition die vorerst letzte Chance, für geordnete Verhältnisse in der Regierung und geschmeidige Abläufe zwischen den Ministerien zu sorgen. Am 8. Oktober wählen Hessen und Bayern. Im bayerischen Landtag sind SPD und Grüne marginale Fraktionen. Dort ist die Frage, ob der Irrläufer Hubert Aiwanger für seine Ausfälle auch noch belohnt wird und wo die AfD landet. Freie Wähler und AfD stellten bei der letzten Wahl insgesamt 49 Abgeordnete. Sollten beide Parteien zunehmen, wonach es momentan aussieht, hätte es die CSU schwer, 40 Prozent zu erreichen.

In Hessen regieren CDU und Grüne gemeinsam. Fallen die Grünen, was zu erwarten ist, wegen der Großwetterlage zurück, gibt es mit ihnen keine Mehrheit mehr und das schwarz-grüne Experiment scheitert – mit Auswirkungen auf die Bundesregierung, sofern sie sich in Meseberg nicht dauerhaft zusammenreißt.

In Wahrheit baut sich ein Drama auf. Gelingt es der Regierung nicht, Frieden zu stiften, und gelingt es dem Bundeskanzler nicht, von leise auf laut umzuschalten – kurzum: Gelingt es Olaf Scholz nicht, den Schalter umzulegen, fliegt ihm der Laden bald um die Ohren. Denn der IG-Metall-Chef hat ja recht. Der Mangel an innerem Zusammenhalt verhindert es, dass die Regierung das Land stabilisiert.

Die Selbstblockade zeigt Wirkung, das sollten Christian Lindner und Olaf Scholz wissen und auf Abhilfe in Meseberg sinnen. Eigentlich ist die Urlaubszeit fürs Nachdenken gut, zumal dann, wenn das chronische Schlafdefizit ausgeglichen wird. Darauf haben manche, auch ich, ihre Hoffnungen gesetzt, aber nicht mit Lisa Paus gerechnet. Konnte sie sich nicht still mit dem Finanzminister einigen? Und ist es nicht absurd, dass sie für ihr Verhalten auch noch intern Beifall bekommt?

Auf das Echo kommt es an, auf die Außenwirkung, auf den Vertrauensverlust in die Regierung im Besonderen und die Demokratie im Allgemeinen. Und die Problemzone liegt nicht nur in Ostdeutschland. Man muss nicht jede windige Umfrage todernst nehmen, aber die Trends zeigen bestimmt nicht nach oben, sondern nach unten.

Schlechtes Regieren schwächt alle drei Parteien. Schlechtes Regieren stärkt die AfD. Schlechtes Regieren nagt an der Demokratie. Besseres Regieren führt zur Stärkung von Parteien und Demokratie, so einfach ist das. Ausreden sind nicht mehr zulässig und Weiter-so ist wie schlafwandeln in noch größere Krisen.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Verbieten? Brandmauern?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die AfD zu bekämpfen. Man kann juristisch gegen sie vorgehen, man kann sie dem Verfassungsschutz überlassen, man kann rhetorisch mit ihr umgehen oder mit dem Selbstbewusstsein einer seit vielen Jahrzehnten etablierten Demokratie.

Juristisch: Der „Spiegel“ plädiert in einem Leitartikel für ein Verbot und zwar auf Landesebene, genauer gesagt im Osten. Das ist ein schlauer Schachzug, denn die Gesamtpartei vom Bundesverfassungsgericht sanktionieren zu lassen, wäre ungleich schwieriger. Leichter könnte der thüringische Landesverband rund um Björn Höcke und seinen Trupp verboten werden, zumal man Höcke laut Gerichtsbeschluss einen Faschisten nennen darf.

Die Frage ist natürlich, ob dieser juristische Partikularismus eine politische Auseinandersetzung ersetzen könnte. Nach aller Erfahrung doch wohl eher nicht, zumal die Repräsentanten der AfD ihren Extremismus geschickter handhaben und eben zum Beispiel nur noch selten von einem Austritt aus der Europäischen Union fantasieren. Und mehr Distanz zur USA und weniger Distanz zu Russland fordert auch Sarah Wagenknecht, der eine linke AfD vorschwebt.

Verfassungsschutz: Wer sich auch immer mit der AfD befasst, findet in Michael Haldenwang einen Chronisten der rasanten Entwicklung der Rechten. „Wir sehen eine erhebliche Anzahl von Protagonisten in dieser Partei, die immer wieder Hass und Hetze verbreiten gegen Minderheiten aller Art hier in Deutschland«, sagte er nach dem Europa-Parteitag der AfD. Für ein Teil- oder Gesamtverbot der AfD müsste der Bundesverfassungsschutz, dem Haldenwang vorsteht, die Grundlage liefern. Er erweckt den Eindruck, dass er sich es zutraut. Damit ist er zur Hassfigur der AfD aufgestiegen.

Rhetorik: Haldenwangs Öffentlichkeitsarbeit in allen Ehren, aber eigentlich sollte jemand in seiner Funktion mehr Zurückhaltung üben. Statt dessen füllt er eine Lücke, die Politiker aller Parteien entstehen ließen. Denn die Auseinandersetzung mit der AfD obliegt dem Bundeskanzler oder Vorsitzenden wie Christian Lindner und Friedrich Merz. Merz hat in Verkennung der Prioritäten die Grünen als Hauptgegner identifiziert.

Ja, das Heizungsgesetz ist ein Herzensanliegen von Robert Habeck und war in sonderbarer Ignoranz für die Außenwirkung formuliert worden. Kritik daran ist berechtigt. Aber etliche Gründerfiguren wie Alexander Gauland sind nicht zufällig der CDU entsprungen und die AfD ist in Konkurrenz zu ihr gegründet worden. Dazu ist sie in Sachsen, Sachsen-Anhalt der Thüringen zu fester Größe aufgestiegen – in Ländern, in denen die CDU nach der Wende als Volkspartei Triumphe gefeiert hatte. Die AfD ist ihr Hauptgegner.Auf diesem historischen Hintergrund genügt es bestimmt nicht, Brandmauern gegen die AfD zu errichten. Außerdem ist es ziemlich dämlich, wenn ein Parteivorsitzender der CDU Mauern aufbauen möchte. Diese markige Rhetorik kommt in Ostdeutschland nicht besonders gut an. Gestern war es 62 Jahre her, dass eine Mauer das eine kleine Deutschland vom anderen großen Deutschland getrennt hatte. Hat kein Berater seinen Meister auf diese Symbolik hingewiesen?

Selbstbewusstsein: Es ist überfällig, dass Vertreter aller Parteien in die Länder ausschwärmen, in denen in einem Jahr Wahlen anstehen. Zu ihnen zählen auch besserwisserische Landesfürsten wie Wüst/Günther/Söder. Sie sollten zuhören und richtigstellen. Sie sollten sich sagen lassen, warum CDU/FDP/Grüne/Linke hier dramatisch an Vertrauen verloren haben, und könnten für ihre Lösungen der Probleme werben, im Kleinen wie im Großen.

Sie haben ja gemerkt, dass sie zusammen an Autorität und Überzeugungskraft verlieren. Das gilt für die drei Fraktionen in der Bundesregierung wie für die CDU in der Opposition und die an ihrer Bedeutungslosigkeit arbeitende Linke. In Berlin haben alle Parteien zuletzt selbstvergessen operiert, als gäbe es keine Außenwelt. Diese Phase sollte vorüber sein. Besser wär’s.

Es hängt entscheidend davon ab, in welchem Gemütszustand die AfD bekämpft wird. Empörung darüber, dass es sie gibt, hilft nicht weiter. Juristische Konfrontation ist ein letztes Mittel. Aber zuerst und zuletzt kommt es auf die politische Auseinandersetzung an. Und das Selbstbewusstsein der Demokraten schadet bestimmt nicht, vor allem dann, wenn es mit einer gewissen Demut durchmischt ist.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Bloss nicht weiter so

Derzeit ist es unerheblich, ob Friedrich Merz der richtige Kanzlerkandidat wäre oder nicht. Die bloße Tatsache, dass sich die CDU heute schon darüber Gedanken macht, was in zwei Jahren sein wird, ist ein Beleg für mangelndes Problembewusstsein. Der Zeithorizont, auf den es ankommt, umfasst ein Jahr. Dann wählen drei ostdeutsche Bundesländer und wie die CDU in sie hineingeht, entscheidet darüber, wie sie herauskommt. Davon hängen ihre weiteren Möglichkeiten ab.

Von Friedrich Merz kann die CDU schon länger wissen, dass er zum Dampfplaudern neigt. Er ist eben ein von sich selbst ungemein eingenommener Einzelgänger, der meint, die Worte, die aus ihm heraus purzeln, seien allesamt Goldstücke. Zu undiszipliniert ist er, um die richtigen Botschaften dauerhaft zu senden und innerparteilich abzustimmen. Und, was noch stärker ins Gewicht fällt, er setzt die falschen Akzente. Die Grünen als Hauptgegner: so ein Quatsch. Diese Fehleinschätzung kommt zustande, weil Merz Berlin für den Nabel der Welt hält und Ostdeutschland vergisst.

Es ist schon wahr, dass der Unfrieden in der Bundesregierung wie ein Mühlstein ist, der FDP, SPD und Grünen am Halse hängt. Aber auch dem letzten Christdemokraten muss jetzt dämmern, dass seine Partei zwar von der Krise profitiert, aber die AfD eben noch mehr. Sie ist der Hauptgegner, wer denn sonst.

Die westliche CDU neigt noch immer dazu, den Osten für ein Phänomen zu halten, für ein Unikum, das pädagogisch im Frontalunterricht zur Besinnung gebracht werden muss. Die Merz-CDU denkt heute noch so, wie die Kohl-CDU damals über „die neuen Bundesländer“: Wie kriegen wir sie eingefangen?

Dass aber Wähler ihre Interessen im Blick haben, gilt hier wie dort. Auch, dass sie ihre eigene Mentalität haben, ist unschwer zu verstehen. Das Saarland hat eine andere Geschichte als Bayern und damit ein anderes kollektives Gemüt. In Ostdeutschland tanzten die heute 50- bis 60-jährigen vor mehr als 30 Jahren als junge Menschen auf der Mauer und waren völlig aus dem Häuschen, als sie die Grenze im Trabbi passieren durften. Die Zukunft schien golden zu sein. Sie konnten ja nicht ahnen, dass sie wenige Monate später zu den Arbeitslosen der neuen Zeit gehören würden. Dass ihre Betriebe saniert, privatisiert oder geschlossen würden. Dass sie im vereinten Deutschland weniger verdienen und ihre Eltern über viele Jahre geringere Rente beziehen würden.

Der zu Unrecht vergessene Gelehrte Karl Polanyi hat vor vielen Jahren das klügste Buch über die Transformation von Gesellschaften und das Aufkommen extremistischer Parteien geschrieben. Zweierlei ist daran interessant: Erstens ist die soziale Entwurzelung durch Arbeitslosigkeit ein Drama für jeden Arbeitslosen. Zu den Betrieben in der DDR gehörten oft Ferienheime, kulturelle Einrichtungen, Kitas etc. und vor allem das Recht auf Arbeit. Die wärmelose Reduktion auf das rein Ökonomische war für DDR-Bürger ein Schock. Es ist eben kein Wunder, wenn heute Demoskopen feststellen, dass etliche Menschen dieser versunkenen Zeit mit Wehmut gedenken.

Zweitens fand Polanyi heraus, dass diese Wunde weiterhin schwärt, auch wenn die Menschen nach gewisser Zeit wieder Arbeit finden. Das traumatische Erlebnis wirkt nach und beeinflusst das Denken, eben auch das Wählen der AfD. Wie viele Prozent dieser Wähler aus Überzeugung, wie viele aus Protest die Höckes etc. wählen, weiß wahrscheinlich niemand genau. Es ist auch müßig darüber zu spekulieren. Auf jeden Fall müsste es der Ehrgeiz der CDU, aber genauso der SPD und sogar der Grünen sein, den Block aufzubrechen, Wähler zurück zu gewinnen und die AfD zu schwächen. Nicht durch das große Palavern, sondern das emsige Tun. Mit dem Verständnis für die Biographie fängt es an, das stimmt. Nicht die DDR ist der Bezugsrahmen, sondern die 34 Jahre seit der Wiedervereinigung.  

Ginge es mit rechten Dingen zu, müssten sich die Planer der Landtagswahlen im nächsten Jahr schon heute zusammensetzen, anstatt jeweils alleine vor sich hinzu werkeln. Denn es hilft ja nichts, die Landesparteien in Sachsen, Thüringen und Brandenburg brauchen kraftvolle Unterstützung. Es genügt nicht, dass dann die üblichen Verdächtigen aus den Berliner Ministerien kurzfristig hereinschneien und im dunkelblauen Mercedes wieder davon rauschen. Wer Wähler zurückgewinnen will, muss mit vielen Abgesandten, die sich mit den Besonderheiten vertraut machen, das Feld beackern. Ausdauer und Geduld sind nötig. Und die Botschaft muss stimmen, was denn sonst: Wählt uns, wir haben verstanden, wir kümmern uns.

Einer, der unablässig versucht, der West-CDU den Osten zu erklären, ist der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Sie sollte ihm zuhören, er hat etwas zu sagen, auch wenn nicht alles Gold ist. Im Interview mit der FAZ rät er zum Beispiel zu einem pragmatischen Umgang mit der AfD. Gemeint ist die kommunale Ebene, in der es um Sachliches geht, zum Beispiel um die Teilsanierung einer Straße oder den Bau einer Schule. Recht hat Kretschmer, wie ihm ein Praktiker bestätigt: „Wichtige Sachen werden im Präsidium des Kreistages besprochen oder im Büro des Landrats. Dort sind alle Fraktionen beteiligt, auch die AfD,“ sagte Gernot Schmidt, der SPD-Landrat in Märkisch-Oderland. 

Wahrscheinlich wird es demnächst nicht weniger pragmatisch im Landkreis Sonneberg mit dem AfD-Landrat Robert Sesselmann zugehen. Ganz unten, wo die Demokratie konkret ist, gelten eigene Gesetze, und das muss nicht schlecht sein. Deshalb hat Friedrich Merz mit seinem Plädoyer für Pragmatismus in den Kommunen ironischerweise recht. Er sagte das Richtige, aber er ist der Falsche, das Richtige zu sagen, weil er ja als Drachentöter gestartet war; daran erinnern ihn nun Parteifreunde, die es nicht unbedingt gut mit ihm meinen. Die rasante Kritik an Merz ist eben auch selbstgerecht, weil sie vom eigentlichen Problem ablenkt.

Es wäre wirklich vorteilhaft, wenn die Bundesregierung den Sommer dazu nutzt, ihren Hang zur Selbstzerstörung einzustellen, und die CDU sich darauf besinnt, den Hauptgegner neu zu bestimmen. Was passiert, wenn sie weiter machen wie bisher, ist ja bekannt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

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Er hat es geschafft. Das Sterben

Wenn ein Schriftsteller stirbt, stirbt seine Stimme, seine Sprache mit ihm und die Welt wird ärmer. Wenn ein Schriftsteller wie Martin Walser stirbt, dann steht die Welt für diejenigen für mehr als einen Augenblick still, die mit ihm und seinen Büchern und seiner Streitlust aufgewachsen sind. Seine Romanfiguren ziehen im Gedächtnis noch einmal vorüber wie liebenswerte Zeitgenossen, denen wir begegnet sind und die uns eine Wegstrecke begleitet haben. Sie sterben mit ihrem Autor und leben in uns weiter. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke.

Uralt ist er geworden, 96, und war nicht immer glücklich darüber. Zu seinem 90. Geburtstag fiel ihm ein, er sei nicht rechtzeitig gestorben. Wie so oft bei ihm wusste man nicht so recht, ob es Koketterie war oder Trauer, Spielerei oder Ernst. Die Beschäftigung mit dem Tod ließ ihn nicht los, was ja auch kein Wunder ist, denn wer so alt wird, dem bleibt nur noch diese letzte Veränderung. „Ich beneide jeden, der es geschafft hat. Das Sterben.“ So schrieb er in der „Zeit“, als Marcel Reich-Ranicki im Jahr 2013 starb.

Martin Walser hat sie alle überlebt und offenbar war es ihm keine Genugtuung. Er ist der letzte Vertreter seiner Generation, vor dem Krieg geboren, noch als Flakhelfer eingezogen und von der deutschen Schuld geprägt. Heinrich Böll war der Inbegriff des rheinischen Melancholikers; er starb vor 38 Jahren,1985. Günther Grass war das Junggenie und ein kreatives Kraftpaket mit Wurzeln in Danzig und im Kaschubischen; er starb vor acht Jahren, im Jahr 2015. 

Böll wie Grass bekamen den Literaturnobelpreis. Walser hätte ihn für sein gewaltiges Werk verdient gehabt. Als ihn Elfriede Jellnek überraschend im Jahr 2004 erhielt, beobachtete der „Spiegel“ seine Reaktion auf der Frankfurter Buchmesse: „Als Martin Walser das Gerücht hört, dass er den Nobelpreis für Literatur nicht gewonnen hat, erstarrt er für einen langen Augenblick. Sein Gesicht wird zu Marmor, glatt, reglos, undurchdringlich. Er schweigt, dann sieht es so aus, als richte er ein paar Worte an sich selbst. Er nickt.“ 

Was sollte er auch nach außen sagen? Sollte er sich beschweren? Die Ignoranz beklagen? Versteht sich ja von selber, dass sich jemand wie Walser fragte: Warum die, warum nicht ich? Dann auch noch Peter Handke 2019. War das gerecht? Natürlich nicht, aber die Reihe der Unberücksichtigten ist nun mal länger als die Reihe der Preisträger. Kein Trost, nur eine Tatsache.

Nicht dass Martin Walser eine dicke Haut gehabt hätte, im Gegenteil. Nicht nur war er beneidenswert sprachmächtig, er suchte auch den Streit, den Konflikt, den Zweikampf, er lebte auf darin. Als der Großkritiker Marcel Reich-Ranicki, auch ein Könner des Wortkrieges, von der Bewunderung der Walserschen Prosa in die Verächtlichmachung überging, schlug der Schriftsteller zurück und gab sich keine Mühe mit literarischer Sublimierung in „Tod eines Kritikers“. Schlüsselromane gehören in die niedere Kunstgattung. Rache ist keine Kunstform.

Lang ist’s her. Man muss schon im fortgeschrittenen Alter sein, um sich an diese Fehden, die Lieben und Geliebten von Walser und seinen Freunden, die Vorkommnisse auf Sylt und die Widerspiegelung in Romanform zu erinnern. Eine andere Zeit, eine andere Welt. Dem Schriftsteller wird man eher gerecht, wenn ihm noch mal in sein Revier folgt, den Bodensee, die elterliche Wirtschaft in Wasserburg, in der er schon als 12-jähriger Gedichte schrieb. Diese Weltgegend gab ihm den Stoff für seine Epik. In Dankbarkeit lebt sie in seinen Büchern für immer fort.

Seine Romanfiguren sind ungemein mit sich selber beschäftigt. Sie scheitern am Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen den Wünschen und den Möglichkeiten. Sie sind nicht gar so sensibel wie die Helden oder Anti-Helden bei Heinrich Böll oder Siegfried Lenz. Bei Bert Brecht steht der erhellende Satz: Doch für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Damit ist Walsers Personal ganz hübsch eingefangen.

Als Zäsur im öffentlichen Leben des Martin Walser erwies sich seine Dankesrede für den Friedenspreis des Buchhandels im Jahr 1988 in der Paulskirche, dem Gral der deutschen Demokratie. Ehrlich gesagt, habe ich bis heute nicht verstanden, was uns Martin Walser eigentlich sagen wollte. Er redete wie erwartet über die deutsche Schuld, womit immer der Krieg und die Verbrechen und Auschwitz gemeint waren. Die Erinnerung daran war das Lebensthema seiner Generation. Wehe, er hätte sich darum gedrückt.

Dann aber tauchte sie in seinen Sätzen auf: die Moralkeule der deutschen Schuld. Stille in der Paulskirche. Ungläubiges Staunen. Walser will die Schuld los haben? Er distanziert sich von den Schuldgläubigen Ich habe mir den Auftritt so zurechtgelegt, dass Martin Walser wie in einem inneren Monolog darlegte, was ihm durchs Gemüt zog, eben die Schuld und die Verzweiflung darüber samt dem irrealen Wunsch, davon befreit zu sein.

Die Aufregung war ungeheuerlich. Die Moralkeule schlug alles nieder. Dagegen kam nichts an. Die Öffentlichkeit war damals solide linksliberal gestimmt und kündigte Martin Walser die Mitgliedschaft im feinen Klub. Wie immer schwang Heuchelei und die Lust am Missverständnis mit. War nicht dieser Walser auch einer von denen, die an der deutschen Teilung litten? Und hatte er nicht früher Sympathie für die DKP bekannt? Igitt.

Deutsche Schriftsteller wie Walser/Böll/Grass waren politische Menschen. Sie irrten sich, lagen daneben und hatten oft recht, was denn auch sonst. Die Zeiten änderten sich und sie sich mit ihnen, Walser mehr noch als die beiden anderen. Lebensgeschichtlich waren sie stark an die alte Bundesrepublik gebunden. Grass kritisierte die Wiedervereinigung giftig. Walser begrüßte sie wie sein alter Freund Rudolf Augstein, der „Spiegel“-Gründer und -Patriarch. Alte Freundschaften unter den hochmögenden Herren zerbrachen. So ist das, wenn die Geschichte bebt. 

Vergangen, verweht. Heute hat es Martin Walser geschafft. Das Sterben. Wir sind ärmer ohne ihn.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.