Warum wechselt ein Mensch aus einem sicheren, interessanten Beruf in die Politik, die eine Schlangengrube sein kann? Oft fallen bei der Antwort ziegelsteinschwere Großwörter wie Berufung und Gemeinwohl, früher kam Dienen hinzu – so beschreiben gelegentlich Männer ihre Anfänge, die sie zu Höherem führten, woran sie sich gerührt in ihren Memoiren erinnern. Auch Margaret Thatcher, die allererste Regierungschefin eines großen Landes, gehört in diese Reihe.
Angela Merkel ist zu sehr Protestantin, um sich überlebensgroß erscheinen zu lassen. Bei ihr war es Neugierde und eine maßvolle Abenteuerlust, so will sie verstanden werden. Wo das Neue mit solcher Wucht über ihr Land hereinbrach, beschloss sie, dort dabei zu sein, wo Geschichte entstand, chaotisch, wild und unberechenbar. Also fuhr sie nicht länger morgens um 6.30 Uhr mit der S-Bahn nach Adlershof in das Institut für Physikalische Chemie.
Sie ließ die Wissenschaft und ihr monotones Leben hinter sich. Sie war 35 Jahre alt, nicht blutjung, aber jung genug für diese gravierende Veränderung und dabei charakterlich gefestigt. Falls sie nicht weit käme, dann blieb ja die Rückkehr an ein Institut, das sich mit Quantenchemie befasst. Ein überschaubares Risiko ging Dr. Angela Merkel ein. Sie war ja keine Romantikerin der Macht, die sich verströmen wollte.
Ihre erste Station war der „Demokratische Aufbruch“, den der Pfarrer Rainer Eppelmann mit gründete. Angela Merkel ging Ende November in die Parteizentrale und fragte: „Kann ich irgendwie helfen?“ Konnte sie. Ab dem 23. Januar 1990 war sie Pressesprecherin und damit Anlaufstelle für Journalisten, die aus dem Westen in die sterbende DDR eilten.
Ich habe sie damals kennengelernt, eine junge Frau mit großen, wachen Augen, die mich mit mildem Spott musterte. Sie beantwortete Fragen präzise. Ihre Stimme war hell; sie schraubte sie gezielt herunter, als es bergauf ging. Kein Wort zu viel verließ ihren Mund, an dem sich lange ablesen ließ, wie ihr zumute war, bis sie auch dieses verräterische Signalzeichen abstellte. Nicht im Entferntesten kam mir der Gedanke, sie könnte mich irgendwann regieren.
In ihren Memoiren, die heute erscheinen, schildert sie ihren Weg aus dem Osten in den Westen mal heiter und eindringlich, mal sachlich und kühl. Geradezu anrührend sind die Erzählungen über ihre Kindheit, die sie glücklich nennt. Die Mutter: ihr Anker. Der Vater: eine nicht ganz nahe Autorität. Ihr Zimmer mit Gaubenfenster im Dachgeschoss war ihre feste Burg. Geheizt wurde mit Kachelöfen. Einmal im Jahr stand Theaterbesuch an.
Vater Horst Kasner war Theologe und leitete das Pastoralkolleg im Templiner Waldhof. Dort trafen sich maßvoll kritische Geister und Sinnsuchende, die es in der engen DDR schwer hatten. Freunde kamen und gingen. Ein geselliges Haus. Für Abwechslung war gesorgt, was der ältesten Tochter behagte. Sie schreibt, ihr Wesenszug sei Unbekümmertheit gewesen. Von ihrem Vater lernte sie, wie man angepasst und zugleich unangepasst sein konnte.
Auch später sind es Männer der Kirche, die zu ihren Lotsen werden. Als der „Demokratische Aufbruch“ in der CDU aufgeht, empfiehlt Rainer Eppelmann sie weiter an Lothar de Maizière, der ein engagierter Christ in der DDR-Kirche gewesen war und nun erster frei gewählter Ministerpräsident in der Noch-DDR. So ist Angela Merkel mittendrin, als der Einigungsvertrag entsteht und auch bei den 2+4-Verhandlungen dabei, mit der die Alliierten die deutsche Wiedervereinigung besiegelten.
Was für eine persönliche Wende in so kurzer Zeit. Vom Rand der DDR mitten hinein in die Geschichte.
Auf ihrer ersten Station in der Politik sind es Männer, die ihre schnelle Auffassungsgabe schätzen, ihre Effizienz, ihre Loyalität. Dazu gehört bald auch Helmut Kohl, der sie wie nebenbei gefragt habe: „Verstehst du dich mit Frauen?“ Sie wusste nicht, was gemeint war. Dann machte Kohl sie zur Ministerin für Frauen und Jugend. Damit wurde sie selber prominent und damit angreifbar. Sie galt als „Kohls Mädchen“, als die Ostfrau mit der Topf-Frisur, die keiner ernst nahm – so schrieben vorzugsweise westdeutsche Journalisten über Angela Merkel.
Diese Demütigungen klingen allenfalls in ihren Memoiren an. Sobald Politik zu ihrem Metier wird, lässt der leichte Ton nach. Nun muss man zwischen den Zeilen lesen, um sich ein Bild zu machen. Das Private bleibt bei Angela Merkel privat. Was sich wirklich im Gemüt abspielte, ist allenfalls wie durch Milchglas verschwommen zu erkennen. Einmal hat sie öffentlich geweint, im Kabinett, da war sie Umweltministerin und scheiterte mit einem Projekt, das ihr am Herzen lag. Einmal und nie wieder.
Angela Merkel studierte die Männer um sie herum. Deren Vorteil, schreibt sie, liege in Körpergröße und Stimmlage. An Intelligenz und Denkschnelligkeit war sie ihnen überlegen, so selbstbewusst war sie nun. Sie lernte, nicht alles und jeden persönlich zu nehmen – eine Schwäche der Männer, ihrer Egozentrik geschuldet, findet sie. Nur in der Handhabung von Macht hatte sie auf dieser zweiten Station noch Defizite.
Kein Problem, denn den maximalen Machtmenschen hatte sie ja als Anschauungsobjekt direkt vor der Nase: Helmut Kohl. An ihm lernte sie Macht als entscheidende Kategorie kennen. Sie schließt das Drehen an den Fakten ein, die Manipulation mit gebeugter Wahrheit, das Besetzen der Begriffe. Natürlich erfasste sie auch den Sinn von Machtspielen, als zum Beispiel Helmut Kohl den Anschein erweckte, bald schon werde Wolfgang Schäuble sein Nachfolger.
Politik war Angela Merkels Zweitstudium. Sie ging es systematisch an wie alles. „Politik ist kein Hexenwerk,“ schreibt sie, denn sie werde ja von Menschen gemacht. Das waren Erkenntnisse auf ihrer zweiten Station.
Macht wurzelt in der Partei und für sie musste man auch über Leichen gehen. Das war der Preis der Macht, was sie selbstmitleidlos zur Kenntnis nahm. Als noch jeder westliche Christdemokrat ihrer Generation – von Roland Koch über Christian Wulff bis Peter Müller – Angela Merkel fahrlässig unterschätzte, da rundete sich schon nötige Rüstzeug ab.
Männer als Lotsen lagen jetzt hinter Angela Merkel. Es folgten die Männermorde. Sie lagen nicht in ihrer Natur, das nicht. Sie musste erst dazu reifen. Sie ergaben sich zufällig auf dem Weg zur Macht. Die Männer boten ihr die Chance, sie abzuräumen. Dass ausgerechnet Helmut Kohl ihr erstes Opfer wurde, war ein Treppenwitz der Geschichte.
Wolfgang Schäuble war der zweite Leidtragende. In beiden Fällen traten die Schwächen der Starken zutage. Parteien brauchen immer Geld, sie sind immer in Not. Die Granden müssen helfen.
Bei Kohl waren es Spender, deren Namen er nicht nannte; für die CDU wurde er damit zur Belastung. Angela Merkel schrieb einem Artikel in der FAZ am 22. Dezember 1999, Überschrift: „Merkel: Die Zeit Kohls ist unwiederbringlich vorbei.“ Sie rief die Partei zur Emanzipation auf. Natürlich vollzog sie auch ihre persönliche Emanzipation von dieser Überfigur.
Nur zwei Monate später, am 16. Februar 2000, trat Wolfgang Schäuble als CDU-Vorsitzender zurück. Er hatte Jahre zuvor einen Koffer mit zwei Millionen Mark für die CDU entgegen genommen. Eine Vakanz entstand. Was tun?
Die CDU-Männer wollten Kurt Biedenkopf, damals Ministerpräsident in Sachsen, zum Übergangsvorsitzenden ernennen. Fast böse schreibt Angela Merkel, wie sie geschnitten wurde: „Frau und Osten – darum schien es zu gehen, am Schluss deutlich mehr als öffentlich zugegeben wurde.“ Sie kandidierte trotzdem und gewann. „Alles verlief wie im Rausch,“ schreibt sie. „Ich wusste kaum wohin mit meiner Freude.“ Endlich einmal durfte sie auf Selbstbeherrschung verzichten.
Sie war auf der dritten Station angelangt. Die Kanzlerschaft war war die fast zwangsläufige Folge – die vierte Station auf ihrem gar nicht allzu langem Weg.
Eine verschworene Truppe versammelte Angela Merkel um sich im Kanzleramt. Dazu gehörte Beate Baumann, ihre engste Vertraute und Co-Autorin an den Memoiren, und Eva Christiansen, die Pressesprecherin. Dazu kamen Männer wie Ulrich Wilhelm und Steffen Seibert, ihre Sprecher, und Thomas de Maizière, die Allzweckwaffe. Nur mit Diskretion und Loyalität im engsten Zirkel würde sie die Schlangengrube überleben, das war Angela Merkel sonnenklar. Wer gegen die Gebote verstieß, wurde verstoßen.
CDU-Vorsitzende haben Quälgeister. Sie nisten in der CSU und machen ihre Partei durch Renitenz bedeutend. Helmut Kohl erlitt Franz Josef Strauß. Angela Merkel erlitt nacheinander Edmund Stoiber, Horst Seehofer und Markus Söder.
Ehe sie die vierte Station, das Kanzleramt, erreichte, musste sie einen Umweg nehmen. Im Jahr 2002 hatte sie noch keinen sichere Hausmacht in der Partei, die sie führte. Sie schien noch zu stoppen zu sein, hoffte Roland Koch genauso wie Christian Wulff. „Ganze Delegationen von CDU-Politikern“ seien zu ihr gekommen, so schreibt sie über ihre Lage damals, „um mich wieder und wieder zum Aufgeben zu bewegen. Mal einfühlsam, mal mit der Brechstange:“
Sie ließ es sich nicht darauf ankommen. Am 11. Januar 2002 um 8 Uhr morgens kam sie in Wolfrathshausen an und überließ Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur. Fast wäre Stoiber wider Erwarten Kanzler geworden. Union und SPD kamen auf je 38,5 Prozent, ein Unikum. Da aber die Grünen stärker waren als die FDP, konnte Rot-Grün weiterhin regeren.
Horst Seehofer verdankt Angela Merkel eine beispiellose Demütigung. Traditionell war sie Gast mit Rederecht auf dem Parteitag der CSU. Sie hielt am 20. November 2015 „eine kurze, lustlose Rede“, wie sie schreibt. Dann war Seehofer an der Reihe. Angela Merkel stand neben dem Rednerpult, in Erwartung netter Worte. Aber der CSU-Vorsitzende hob an und kanzelte sie wegen ihrer Flüchtlingspolitik und den Folgen ab. Er machte sie persönlich für die ungeordnete Immigration verantwortlich. Er erklärte sie für schuldig, dass rechts von der Union die AfD entstanden war.
In ihren Memoiren schildert sie Seehofers Ausfall so: „Ich dachte: Hier stehst du jetzt als Parteivorsitzende, das ficht dich nicht an, das bekommst du hin. Welche Optionen hast du? Sollst du einfach gehen, wenn es gar kein Ende nimmt? Aber wer geht, ist immer im Unrecht, dachte ich und sagte mir schließlich: Es wird vorübergehen.“
Memoiren können todlangweilig sein, ausgewalzte Protokolle aus dem Leben eines Kanzlers. Angela Merkel quält uns damit nicht. Einzelne Passagen und Episoden lesen sich spannend und sind Zeugnisse ihres Kampfgeistes. Sie schreibt klare, nüchterne Sätze, kein Politiker-Deutsch. Sie lässt nichts aus und walzt auch nichts aus. Sie durchdenkt vieles und gesteht auch manches ein. Nur eine Untugend teilt sie mit anderen Memoirenschreibern: Wenn sie überhaupt Selbstkritik übt, ist sie dick in Watte gehüllt.
Über Wladimir Putin, schreibt sie, habe sie sich keine Illusionen gemacht. Leider folgte aber nichts daraus. Eine Konsequenz hätte ja die Wiederaufrüstung der Bundeswehr und die Wiederaufnahme der Wehrpflicht sein können.
Ja, schreibt sie, die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl sei ein Problem gewesen, aber eben auch ein Elixier für die deutsche Wirtschaft, die Sturm gelaufen wäre, hätte sie Nord Stream 2 gestoppt. Aus der Einsicht folgte aber nicht die Überlegung, ob es weise gewesen war, zum Beispiel die Atomkraft auslaufen zu lassen.
Die AfD ist der schwierigste Teil ihres Erbes. Sie verteidigt den humanitären Akt, der Deutschland gut angestanden habe. Dann aber ergeht sie sich ausnahmsweise in Selbstgerechtigkeit, indem sie Kritik an Regierung wie Union übt: „Die demokratischen Parteien haben großen Einfluss darauf, wie stark die AfD tatsächlich werden kann. Wenn sie annehmen, die AfD klein halten zu können, indem sie unentwegt über deren Themen sprechen und sie diese dabei am besten auch noch rhetorisch übertrumpfen wollen, ohne tatsächliche Lösungen für bestehende Probleme anzubieten, dann werden sie scheitern.“
Hat sie nichts mit dem Auftauchen der AfD zu tun? Ist die AfD nicht nach 2015 von einer Anti-Euro-Partei zu einer nationalkonservativen Partei mit revisionistischem Geschichtsbild geworden? Die AfD ist die blinde Stelle in den Memoiren der Altkanzlerin. Ihre Verächter werden sich darauf stürzen.
Am 2. Dezember 2019 endete der Ausflug in die Politik offiziell mit einem Großen Zapfenstreich. In ihrer kurzen Rede zog Angela Merkel ein persönliches Resümee: „Wenn ich heute vor Ihnen stehe, empfinde ich vor allem Dankbarkeit und Demut.“
Sechs Tage später räumte die Kanzlerin ihren Schreibtisch. Sie habe an diesem Tage „Fröhlichkeit im Herzen“ getragen, schreibt sie in ihren Memoiren. Denn: „Genug war genug.“
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.