„Iran ist für den Mossad transparent“

Shimon Stein, 76, ist ein israelischer Diplomat. Von 2001 bis 2007 war er Botschafter seines Landes in Berlin.

t-online: Herr Stein, welchen Unterschied macht Donald Trump für Israel? 

Stein: Ich bin kein Psychologe, aber aus seiner ersten Amtszeit wissen wir, dass er unstet ist, unberechenbar. Aber Trump hat, wie wir auch wissen, ein enormes Ego und möchte unbedingt den Friedensnobelpreis bekommen wie Obama. In der ersten Amtszeit hatte er einen Plan für eine Zwei-Staaten-Lösung aufgestellt. Damals war er der Initiator des Abraham-Abkommens 2020, das zu diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und den Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko führte. Möglich, dass er daran anknüpft. Aber wer weiß das schon?

Glauben Sie, dass Israel freie Hand bekommt und nicht mehr, wie von Joe Biden, neben aller Unterstützung gemaßregelt wird?

Für die rechten und rechtsradikalen Kräfte um Benjamin Netanyahu ist ein Präsident Trump eine Erleichterung, das ist wahr. Die Personen, denen er die Nahost-Politik anvertrauen will, sind ausgesprochen pro-israelisch eingestellt, sind selber Rechte. Zum Beispiel ist der designierte Botschafter Mike Huckabee ein starker Befürworter der Siedlungen im Westjordanland. Es ist also genauso gut möglich, dass Trump der Regierung Netanyahu freie Hand zur Annexion der Westbank gibt.

Nicht zufällig haben Vermittler wie Katar ihre Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gaza eingestellt. 

Weil es auf beiden Seiten keine neue Angebote gibt. Solange sich weder Israel noch Hamas bewegt, entfällt die Grundlage für Verhandlungen. Allerdings habe ich gerade in israelischen Zeitungen gelesen, dass Leute im Sicherheitsapparat der Auffassung sind, es sei an der Zeit, ein neues Angebot auf den Tisch zu legen. Netanjahu aber lehnt dieses Ansinnen nach wie vor ab.

Aus welchen Gründen? 

Vielleicht zum Teil aus Überzeugung. Für ihn ist der totale Sieg über Hamas noch immer ein Ziel, von dem er nicht abrückt. Deshalb ist er nicht bereit, sich aus dem Gaza zurückzuziehen, obwohl das Militär darin kein Problem sieht.

Welche Gründe hat Netanyahu noch?

Er hat drei weitere Gründe. Erstens will er die Wahl in Israel, die Ende 2026 ansteht, so lange wie möglich hinauszögern. Zweitens will er vermeiden, dass eine staatliche Kommission eingesetzt wird, die das Versagen am 7. Oktober 2023 untersucht. Bis heute hat er die Verantwortung dafür persönlich nicht übernommen. Und drittens kann er auf diese Weise seine Anklage wegen Korruption hinauszögern. Und schließlich bleibt seine Koalition intakt, solange Krieg herrscht. Denn für seine Koalition ist Gaza viel wichtiger als der Libanon. 

Insofern ist für diese Regierung auch zweitrangig, was mit den Geiseln passiert, die seit dem 7. Oktober in den Fängen der Hamas sind?

Das stimmt, Netanyahu ist es bedauerlicherweise gelungen, die israelische Gesellschaft in dieser Sache zu spalten. Seine Anhängerschaft ist durch den Coup mit den Pagern, die die Führung der Hisbollah getötet haben, noch gewachsen. Deshalb haben die Geiseln keine Priorität mehr. 

Gibt es gesicherte Erkenntnis, wie viele Geiseln die Hamas noch in Händen und wie viele davon noch leben?

Man vermutet, dass noch 51 Geiseln am Leben sind. Jetzt ist die Befürchtung, dass manche von ihnen den zweiten Winter in den Tunneln nicht überleben werden. Deshalb wären Verhandlungen über ihre Befreiung zwingend notwendig, wenn wir nicht alle Geiseln in schwarzen Leichensäcken zurück bekommen wollen. Übrigens soll Trump Netanyahu gebeten haben, das Problem mit den Geiseln bis zu seinem Amtsantritt am 20. Januar zu erledigen.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag lässt Haftbefehle für Benjamin Netanyahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joao Galant wegen Aushungern des Gaza-Streifens ausstellen. Wie reagiert Israel darauf?

Netanyahus Büro weist die Entscheidung zurück und erklärte für absurd und sogar für antisemitisch. Sie könnte schwerwiegende Folgen für Netanyahu und Israel haben.

Sie haben vorhin gesagt, Gaza sei wichtiger als Libanon. Folgt daraus, dass Netanyahu diesen Krieg nicht bis zur völligen Vernichtung der Hisbollah führen will?

Man kann die Hisbollah nicht vernichten, man kann und soll sie schwächen, und das tun wir mit Erfolg. Es ist so, dass Trump zu erkennen gibt, dass er Libanon im Auge behält. Er hat seinen Schwiegersohn Michael Boulos, den Sproß aus reicher libanesischer Familie, zum Berater ernannt. Der Druck, für den Libanon eine Lösung zu finden, scheint nicht gering zu sein.

Wie kann eine Lösung aussehen? 

Sie bezieht sich auf die Uno-Resolution 1701 aus dem Jahr 2006 und sieht vor, dass sich die Hisbollah vollständig in Gebiete nördlich des Flusses Litani zurückzieht. Die Durchführung soll eine Kommission überwachen, der Frankreich, die USA und ein arabisches Land angehören. Israel beharrt außerdem darauf, dass es eingreifen kann, sollte die Resolution verletzt werden. Israel ist entschlossen aus den Fehlern seit 2006 zu lernen. Erst wenn sich die Lage zum Besseren wendet, können die Bewohner, die hier gelebt haben und geflohen sind, in ihre Heimat zurückkehren.

Und der Haken an dieser Lösung?

Dass die israelische Bedingung auf Intervention von der libanesischen Regierung oder der Hisbollah abgelehnt wird. Gespräche unter amerikanischer Vermittlung finden derzeit statt. Man kann nur hoffen, dass es schnell zur Eignung kommt.

Wie schätzen Sie denn die derzeitige Rolle Deutschlands im Nahen Osten ein?

Deutschland hat keine bedeutende Rolle, genauso wenig wie die Europäische Union. Und trotzdem, die deutsche Außenministerin ist sehr unternehmungslustig. Sie hat die Region mehrmals bereist. Sie versucht den Eindruck zu erwecken, dass sie auch einen Beitrag zur Stabilisierung der Gegend leistet. Ich persönlich freue mich aber, dass Annalena Baerbock immer wieder auf den Siedlungsbau und das unverschämte Vorgehen der Siedler im Westjordanland hinweist und auch mit Sanktionen droht. 

Die Hisbollah massiv geschwächt, die Hamas stark dezimiert – die Ereignisse der letzten Monate haben einen Verlierer und das ist Iran.

Dazu kommt, dass die entscheidende Figur, Ajatollah Ali Khamenei, offenbar schwer krank ist. Angeblich ist sein 45jähriger Sohn schon zum Nachfolger bestimmt worden. Dynastische Lösungen sind im Koran eigentlich nicht vorgesehen, aber wir werden sehen.

Welche Folgerungen zieht Iran nach Ihrer Einschätzung aus den jüngsten Ereignissen?

Ich glaube, dass Iran seine gesamte Sicherheitsstrategie überdenken wird. Iran versprach sich von Hamas und Hisbollah, dass sie Israel davon abhalten, Iran direkt anzugreifen. Seit den Luftangriffen im April und Oktober ist klar, dass dieser Plan nicht aufgegangen ist. Dass Iran Hamas und Hisbollah deshalb abschreibt, glaube ich aber nicht. Eine Vergeltungsaktion auf den israelischen Angriff im Oktober steht eigentlich noch aus. Beim Zögern spielt Trump eine Rolle. Vielleicht bleibt ein Gegenangriff ganz aus, weil sich Iran auf die Trump- Ära einstellen will. Übrigens hielten sowohl Joe Biden als auch Trump Netanyahu davon ab, die Öl-Anlagen oder gar die Nuklearanlagen anzugreifen. Der Bitte von beiden musste Netanjahu nachkommen.

Die Angriffe Israels galten den Raketen-Stellungen. Wie hoch schätzen Sie den Schaden ein?

Die Lang- und Mittelstreckenraketen sind offenbar stark dezimiert. Den Verlust kann Iran nicht von heute auf morgen ausgleichen. Momentan hat das Mullah-Regime keine Abschreckung gegen Israel. Es hat sich außerdem gezeigt, dass Iran für den Mossad durchsichtig ist, als es zum Beispiel den Hamas-Führer Ismail Haniyeh in seiner Teheraner Wohnung ermordete.

Iran ist, wie Sie sagen, durchsichtig für den Mossad, der auch im Libanon Zugriff auf das Führungspersonal hatte. Und dennoch ist der 7. Oktober passiert.  Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?

Als systemisches Versagen. Es ist, wie es ist. 

Aus der Schwäche Irans könnte Netanyahu den Schluss ziehen, dass die Gelegenheit günstig ist für einen Angriff auf die unterirdischen atomaren Anlagen.

Iran ist ein Schwellenland. Die politische Entscheidung, ob es Atommacht sein will, soll angeblich noch nicht gefallen sein. Aber wenn Israel bemerken sollte, dass der Iran damit beginnt, Uran von 60 auf 90 Prozent anzureichern, dann würde eine militärische Operation folgen. Sie kann Israel allerdings nicht alleine vornehmen. Ohne aktive amerikanische Unterstützung lassen sich die unterirdischen Nuklearanlagen nicht zerstören. Im übrigen kann man völlige Vernichtung ohnehin nicht erwarten. Das Wissen bleibt ja in den Köpfen der Wissenschaftler. Das Atomprogramm lässt sich nur um einige Jahre zurückwerfen.

Neben Tel Aviv leben Sie ja auch in Berlin. Wie wirkt die deutsche Debatte um Aufrüstung der Bundeswehr für den Fall, dass Putin Nato-Gebiet, zum Beispiel im Baltikum, angreifen wird, auf Sie?

Ich bin ja immer wieder überrascht, wenn sich Menschen überraschen lassen. Putin vollzieht, was er schon 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat. Er steht auch in gewisser Hinsicht in der Tradition des zaristischen Imperialismus. Es begann in Georgien, jetzt ist die Ukraine dran, das kleine Moldau lässt Putin beständig unterminieren. Ich sehe nicht, dass die Nato dort eingreifen würde, wenn er es annektiert. 

Die Nato mit weniger USA oder gar ohne ist nicht vorstellbar. Wie verhält sich Trump nach Ihrer Einschätzung zum Bündnis?

Für Putin ist die Fortsetzung seiner Wiedereroberungen im Baltikum riskant. Ich gehe davon aus, dass die USA in der Nato bleiben werden, Aber vielleicht werden sie ihre Truppen in Europa  reduzieren. Ich gebe Trump übrigens recht, dass die USA nicht 60 Prozent der Nato-Lasten übernehmen müssen. Ohne Trump hätten sich die europäischen Verbündeten nicht um das 2-Prozent-Ziel bemüht.

Trump versteht die USA als Dienstleister. Er kennt nicht die Bedeutung der Allianz als Beitrag zur nationalen Sicherheit der USA.

Deutschland rüstet die Bundeswehr auf, zunächst mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden. Kanzler Olaf Scholz sprach von Zeitenwende. Hat sich auch die Stimmung gewendet?

Ich bin mir nicht sicher, dass die deutsche Bevölkerung die Bedeutung der Zeitenwende voll verstanden hat. Die Anhänger und Wähler von CDU/CSU haben sie vermutlich eher verstanden als die der SPD. Ich glaube, Deutschland ist momentan einfach überwältigt und überfordert, weil es mit so vielen Problemen und Herausforderungen gleichzeitig konfrontiert ist. 

Glauben Sie, dass Friedrich Merz besser darauf reagieren wird als sein Vorgänger?

Ein großer Teil der Deutschen hält den Sozialstaat  noch für wichtiger als Sicherheit. Insofern stellt sich auch für Merz die Frage nach der Grenze der Zumutungen. Kann er den Paradigmenwechsel vollziehen, vor dem Scholz zurückschreckte? Kann er der Bevölkerung zumuten, Opfer zu bringen? Der Status quo lässt sich jedenfalls nicht mehr halten.

Herr Stein, danke für das Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Der Mund ist wahr

Corona

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der 
                                                                Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Paul Celans Gedichte haben mich immer beschäftigt und blieben mir immer rätselhaft. Es ist fast unmöglich, mit Intuition oder lyrischer Vorkenntnis in sie einzudringen. Sie sind hermetisch, dem Verständnis entzogen, sofern es nicht Zusatzinformationen gibt, die einen Erkenntnisstrahl in diese Gedichte werfen. „Corona“ ist in der Zeit seiner Affäre mit Ingeborg Bachmann entstanden. Celan hatte sie 1948 kennengelernt. Vielleicht geht es um das Bekenntnis der Geliebten zu ihm oder den Mangel an Bekenntnis zu ihr oder beider schmerzhaftes Verfehlen der Liebe : Es ist Zeit, dass man weiß.

Corona meint natürlich nicht den Virus, sondern das Sternbild: Der Gott Dionysos verliebte sich in Ariadne und versetzte sie nach ihrem Tod in den Nachthimmel, ins Sternbild Corona. Wenn Celan Brigitte Eisenreich, eine andere Geliebte in Paris, nicht zu Hause antraf, malte er mit Kreide einen Stern auf die Tür, wohl in Anspielung auf das Sternbild oder auch auf Stern, den Juden im Dritten Reich tragen mussten oder an beide.

Ich hatte dieses Gedicht, das im Band „Mohn und Gedächtnis“ aus dem Jahr 1952 aufgenommen ist, schon früher einmal gelernt, aber es blieb nicht haften, blieb mir also fremd, weil es mir keine Geschichte erzählte, die sich mir eingeprägt hätte. Am vorigen Montag saß ich im Bus auf dem Weg, meinen Enkel Theo abzuholen, als mir aus unerfindlichen Gründen „Corona“ einfiel. Ich machte mich daran, es zu lernen. Das ging wie üblich schnell, aber ich sage es mir seitdem Tag für Tag auf, damit ich es jetzt im Gedächtnis behalte.

Funeral Blues

Als in meinem Leben das Gefühl überwog, dass ich für andere da bin, aber nicht für mich, kam ich auf die Idee, Gedichte zu lernen. Morgens fuhr ich mit der AKN ins Büro und suchte mir ein Gedicht aus. Anfangs ging das Lernen schleppend, aber rasch stellte sich Routine ein. Nach nicht allzu langer Zeit konnte ich eine erkleckliche Anzahl an Gedichten auswendig. Lange idealistische von Schiller („Die Bürgschaft“), epische von Goethe („An den Mond“), Gassenhauer wie Rilkes „Panther“, dazu Ringelnatz, Morgenstern, Benn, Enzensberger etc.

Gestern fuhr ich mit dem Bus in die Yorckstr., um meinen Enkel Theo aus der Schule abzuholen. Aus unerfindlichen Gründen fiel mir ein, ich könnte mir ja mal wieder ein Gedicht vornehmen. Früher hatte ich, nächtens wach geworden, mein Repertoire wiederholt, doch war mir diese Übung abhanden gekommen. Also lernte ich auf dem Hinweg (20 Minuten) Paul Clans „Corona“, ein Liebesgedicht für Ingeborg Bachmann, das ich schon mal konnte, aber vergessen hatte. Auf dem Rückweg machte ich mich an den „Funeral Blues“ von W.H. Auden, den ich natürlich aus dem herrlichen Film „Vier Heiraten und ein Todesfall“ kannte. Da ich bei mehreren Todesfällen die Trauerrede gehalten habe, wollte ich dieses Poem als Vorbild parat haben. Hier ist es, „Corona“ folgt in den nächsten Tagen.

Stop all the clocks, cut off the telephone, 
Prevent the dog from barking with a juicy bone, 
Silence the pianos and with muffled drum 
Bring out the coffin, let the mourners come. 
Let aeroplanes circle moaning overhead 
Scribbling on the sky the message He Is Dead, 
Put crêpe bows round the white necks of the public 
doves, 
Let the traffic policemen wear black cotton gloves. 
He was my North, my South, my East and West, 
My working week and my Sunday rest, 
My noon, my midnight, my talk, my song; 
I thought that love would last for ever: I was wrong. 
The stars are not wanted now: put out every one; 
Pack up the moon and dismantle the sun; 
Pour away the ocean and sweep up the wood. 
For nothing now can ever come to any good. 

Wer soll’s machen?

Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat gesagt, zwischen Friedrich Merz und Olaf Scholz gebe es einen fundamentalen Gegensatz. Dem einen gehe es um Besserverdienende und dem anderen um Pflegekräfte, Bauarbeiter und Erzieher. Wirklich?

Klingbeil ist ein angenehmer, netter Mensch. Als Parteivorsitzender tritt er allzeit verbindlich mit eher leisen Tönen auf. Er ist loyal, umhüllt noch die herbste Niederlage seiner Partei mit Watte und möchte  dringend vermeiden, dass die SPD diesmal tut, was sie immer tut, nämlich eine gefasste Entscheidung zu hinterfragen.

Die Entscheidung, mit dem Kanzler ins Rennen zu gehen, haben die obersten Parteigremien gefällt. Dieses Vorgehen ist eigentlich üblich, nur nicht in der SPD, die es liebt, wenn die Gesamtpartei kreisen darf und in einem ausgiebigen Prozess den oder die Vorsitzenden wählt. So geschehen schon im Jahr 1993, als Rudolf Scharping der glückliche Gewinner war und im Jahr 2019 als Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Sieger hervorgingen.

Gestern meldete sich ein hoch geschätzter Veteran, Franz Müntefering, zu Wort und forderte seine Partei, deren Vorsitzender er auch einmal war, dazu auf, in einem offenen Verfahren den Kanzlerkandidaten zu bestimmen. Denn eine Kanzlerkandidatur sei kein Spiel, das ein Vorrecht auf Wiederwahl umfasse, sagte Müntefering. Er meinte damit, dass Olaf Scholz diesmal nicht der geeignete Kandidat ist.

Natürlich vibriert die SPD, wie sie immer vibriert, wenn es um Entscheidendes geht. Ihr bleibt allerdings nicht viel Zeit zum Hinterfragen, denn in 98 Tagen ist Wahltag. Da noch die Pferde zu wechseln, Ist ein enormes Risiko, siehe Kamala Harris.

Müntefering weiß selbstverständlich, dass unter diesen Umständen kein Parteitag oder gar ein basisdemokratisches Großpalaver sinnvoll ist. Er meint, was der weitaus weniger bekannte Abgeordnete Joe Weingarten ausgesprochen hat: Olaf Scholz weg, Boris Pistorius her.

Pistorius zum Spitzenkandidaten auszurufen hat zweifellos Charme. Mit ihm ginge es nicht mehr vorrangig um Sozialpolitik, sondern um noch Wichtigeres: Wie bereitet sich Deutschland darauf vor, eventuell vom neoimperialistischen Russland angegriffen zu werden? Die Bundeswehr kriegstüchtig zu machen, ist seine Absicht.

Pistorius ist außerhalb der Partei beliebt. Er meint, was er sagt. Er ist ein guter Verteidigungsminister, was nicht einfach ist. Er bleibt bei seiner Überzeugung, auch wenn der Kanzler ihm nicht folgt, wie bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht. Er besitzt Autorität, weil  er Ernsthaftigkeit und Konsequenz ausstrahlt.

Nicht ganz so einfach ist das Verhältnis zu seiner Partei, die in größeren Teilen dem alten bundesrepublikanischen Pazifismus anhängt. Dafür ist Rolf Mützenich der lebende Beweis. Der SPD-Fraktionsvorsitzende wollte vor längerer Zeit schon den Ukraine-Krieg einfrieren. Seine Stimme zählt in seiner Partei wohl mehr als Pistorius’ Stimme. 

Auch deshalb ist die Bewegung Wir-wollen-lieber-Boris-als-Olaf nicht sonderlich kampfstark. Von Pistorius ist weder laut noch leise zu vernehmen, dass er unbedingt als Nummer 1 bei der Wahl antreten möchte. Loyal wie er ist, würde er übernehmen, wenn er müsste, aber sein Drang ist nicht groß. Anders als Scholz fehlt ihm der Glaube, dass er Kanzler werden kann.

Für Scholz, einmal von den ehrenwerten Gremien bestätigt, spricht die Kürze der Zeit bis zum 23. Februar. Vor Mitte Januar ist gar nicht an Wahlkampf zu denken. Außerdem bleibt der Kanzler auch über die verlorene Vertrauensfrage hinaus geschäftsführend im Amt. Das Nebeneinander eines SPD-Noch-Kanzlers und eines anderen SPD-Kanzlerkandidaten wäre ziemlich seltsam. So sähe das aus: Der Kanzler trifft Absprachen mit Friedrich Merz, um Gesetze zu verabschieden, und der Kandidat spricht Merz die Eignung zum Kanzler ab– ein Fest für ironiestarke Journalisten und die AfD mit ihren abschätzigen Bemerkungen über die Altparteien.

Die SPD ist im Dilemma, keine Frage. Das Problem für einen Veteranen wie Müntefering, der die Dinge notorisch auf den Punkt bringt, lautet deshalb so: Wer garantiert der SPD das bessere Ergebnis? Gut möglich, dass sich mit Pistorius mehr Prozente erreichen lassen, vielleicht 20,21 anstatt mit Scholz 16 oder 17. Aber dann wäre Pistorius der Verlierer. Und da die SPD davon ausgeht, dass sie mit Friedrich Merz in die Koalition gehen wird, ist ein unbeschädigter einem beschädigten Pistorius vorzuziehen.

Also wird die SPD wohl mit Olaf Scholz sehenden Auges in eine herbe Niederlage stolpern. Boris Pistorius aber darf sich schonen und darauf hoffen, dass es ihm in der Post-Scholz-Ära leichter fällt, die Bundeswehr in eine kriegstüchtige Truppe zu verwandeln.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Kann er das?

Robert Habeck will es, Alice Weidel auch und da es diese beiden wollen, denkt Sahra Wagenknecht darüber nach, ob sie nicht ebenfalls wollen soll. Olaf Scholz gedenkt zu bleiben, was er ist, und Friedrich Merz muss es gar nicht mehr wollen, weil er es wird, sofern der Himmel nicht einstürzt.

Kanzler zu sein, muss schön sein, wenn so viele danach streben. Kanzler zu sein, ist die Hölle, so sagten es einige in ihren Memoiren nach längerer Verweildauer im Amt. Auf den Kanzler kommt es an, so lautet der Merkspruch, der sich seit einem Wahlkampf für Konrad Adenauer in den 1950er Jahren zum Dauerbrenner entwickelt hat.

Deutschland hat in der Nachkriegsrepublik fast immer Glück gehabt mit seinen Regierungschefs. Zwei Ausreißer gab es. Der eine war Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders, von dem viele meinten, er müsse auch Kanzler können. Adenauers Bannfluch war: Der kann es nicht – zu weich, zu umständlich. Nach drei Jahren war es mit Erhard vorbei.

Der zweite Ausreißer ist Olaf Scholz, der es zwei Jahre lang konnte, als das Geld in  Pandemie und Energiekrise beliebig vermehrbar war, und dann nicht mehr. Im Dezember vollendet Scholz sein drittes Amtsjahr. Mehr wird es nicht. Die SPD wird Boris Pistorius vorziehen.

Ein Kanzler ist gut dran, wenn er Überzeugungen besitzt, die seinem Handeln Leitlinien geben. Am besten ist es, wenn er den Mut besitzt, für seine Überzeugungen das Amt zu riskieren, wenn es hart auf hart kommt. Willy Brandts Entspannungspolitik spaltete den Bundestag, aber von den Wählern bekam er eine solide Mehrheit dafür. Die SPD schoss im Jahr 1972 auf 45,8 Prozent hoch, ihr bestes Wahlergebnis. 

An Scholz und seinem Vorbild Angela Merkel lässt sich ablesen, was der nächste Kanzler unbedingt haben sollte: Kommunikationstalent – die Fähigkeit zu erklären, was er warum macht, und den Bürgern auch darzulegen, was nicht geht. Ist Friedrich Merz dazu imstande? Gut möglich, sofern er Gelassenheit bewahrt und seine lose Zunge zähmt.

Merz hat nicht, was Robert Habeck vorweisen kann: Regierungserfahrung. Damit ist gemeint, dass ein Kandidat nach Jahren in Ämtern über Stehvermögen verfügt und Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann. Ein Kanzler muss ja nicht zu jedem x-beliebigen Problem seinen Senf geben. Er muss aber wissen, wann er sich einschalten sollte und auch, wann die Zeit für ein Machtwort gekommen ist.

In Krisenzeiten sind manchmal Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden nötig. Helmut Schmidt verwehrte solche Grundsatzreden, obwohl die Erdölkrise und die RAF-Morde Anlässe boten. Als die Pandemie ausbrach, gelang es Angela Merkel immerhin zu erklären, was nötig war und was auf das Land zukam. In 16 Jahren hat sie sich eigentlich nur zweimal ans Volk gewandt, das andere Mal in der Weltfinanzkrise 2017/18. Zu wenig.

Ein Minister aus der Regierung Schröder/Fischer erzählte mir einmal, was er an dem Gerd schätzte: Der umgebe sich mit starken Ministern und vertraue ihnen. Ja, ein Kanzler sollte imstande sein, Blumen neben sich blühen zu lassen. Erzielen seine Minister Erfolge und machen gute Figur auf nationaler wie internationaler Ebene, wird es auch ihm zugeschrieben, denn die Minister sind ja seine Wahl. Sind sie aber lahm oder machen Fehler, steht er mit im Feuer.

Vertrauen gründet auf Selbstvertrauen. Überzeugungen fußen auf einer Biographie und auf Lebenserfahrung. Erfahrungen im Metier geben dem Kandidaten Kontur. Mut ist eine persönliche Eigenschaft. Gemeinsam bilden diese subjektiven Komponenten den Charakter eines Kanzlers. Es kommt auf diesen Charakter an, wenn wir sagen: Es kommt auf den Kanzler an.

Neun Bundeskanzler hatte Deutschland bisher, eine geringe Zahl, auch ein Symbol für die politische und wirtschaftliche Stabilität, an der es nunmehr hapert. Keiner von ihnen war noch derselbe wie vor dem Amt. Denn das Amt formt den Kanzler. Es fordert ihm Maximales ab mit der Vielfalt der Verpflichtungen und Aufgaben, mit unabsehbaren Krisen und Vorgängen, die jenseits seiner Einflussmöglichkeit liegen. Es raubt ihm Lebenskraft und kratzt an einem Selbstbewusstsein.

Neu ist diesmal, dass sich Kandidaten aufstellen, die genau wissen, dass sie nicht werden können, was sie werden wollen. Robert Habeck ist ein vorzüglicher Politik-Erklärer, aber auch das Symbol für das Scheitern – der Klimapolitik, der Regierung insgesamt. Alice Weidel übt aus ihrer Sicht für das nächste Mal, wenn der Kanzler Merz scholzen sollte. Sie verkörpert kulturell das CDU-hafte an der AfD.

Friedrich Merz wird also unser zehnter Bundeskanzler. Er konnte das unfassbare Stehvermögen an Helmut Kohl studieren und die Gemüts-Resilienz an Angela Merkel, die Horst Seehofer genauso wie Donald Trump ertrug. Aus noch mehr Nähe sah er die Stärken  und Schwächen von Olaf Scholz. Interessant wäre zu wissen, welche Konsequenzen er für sich aus diesen Modellen zieht.

Heute wird Merz 69. Glückwunsch! Damit ist er nach Adenauer, der Zweitälteste beim Einzug ins Kanzleramt. Sein Alter macht ihn zur Übergangsfigur. Er kann Spuren ziehen, indem er die großen Probleme angeht – Immigration, Wirtschaft, Aufrüstung unter anderen.

Viel hängt von seinem Start ab. Die umstandslose Bereitschaft zur Enttäuschung und das lustvolle Herunterreden sind im digitalen Zeitalter ein deutscher Volkssport.

An Selbstvertrauen mangelt es Merz nicht. An Erfahrung schon, aber kein Kanzler vor ihm besaß ähnliche Kenntnisse aus Wirtschaft und Industrie. Seine eher konservativen Überzeugungen leiten sich aus diesem biographischen Hintergrund ab. Dass er den Mut zu unpopulären Maßnahmen besitzt und sie so begründet, dass die Wähler sie akzeptieren, kann man ihm nur wünschen. Auch die Demut, die jeden Menschen beschleicht, der Kanzler wird, stünde ihm gut an.

Nun sollte es schnell gehen mit dem Machtwechsel. An den Bundeskanzler Friedrich Merz wird sich Deutschland und die Welt  mit ein bisschen Fremdeln gewöhnen.

Veröffentlicht auf tt-online.de, heute.

So schnell wie möglich wählen

Natürlich lässt sich der Zeitplan nicht einhalten, den sich der Bundeskanzler ausgedacht hat. Der endgültige Abschied von der Ampel wird sich schneller vollziehen. Aber nicht nur Olaf Scholz muss die Erfahrung machen, dass er nicht mehr Herr des Verfahrens ist.

Der Bruch einer Koalition bringt ungeahnte Konsequenzen hervor. Wer hätte gestern für möglich gehalten, dass Volker Wissing heute in der Regierung bleiben will und dafür die FDP verlässt. Er war kein besonders guter Minister und schien sogar im höheren Auftrag seiner Partei Obstruktion in der Ampel zu betreiben. Deshalb ist es schon eine Bombe, die er platzen ließ. Ein integrer Mann, Orgelspieler durch Ausbildung und aus Passion, der Verkehrspolitik nicht viel anders als einschlägig bekannte CSU-Vorgänger betrieb, erweist sich als Mann mit Prinzipien. Eigentlich erfreulich.

Dennoch bleibt Wissing wohl ein Einzelfall. Anders war es 1982, als ganze Scharen prominenter Liberaler der FDP den Rücken kehrten. Hans-Dietrich Genscher war damals, was Christian Lindner heute ist: Ein unglaubwürdiger Vorsitzende, der so tat, als sei er im Auftrag von Demokratie und Marktwirtschaft zum Handeln gezwungen und keineswegs aus Parteiraison.

Zweimal sind in der deutschen Nachkriegsgeschichte Koalitionen geplatzt. In beiden Fällen gab die FDP den Ausschlag. Im Jahr 1982 dauerte es quälend lange, bis es soweit war, mehr als ein Jahr. Ich war ein junger Journalist bei der „Zeit“ und konnte gar nicht fassen, wie lange sich der Bruch hinzog. Parteivorsitzender war damals Hans-Dietrich Genscher, ein Großmeister politischer Feinarbeit, der sich aber nicht entscheiden konnte. In solchen Dramen kommt es darauf an, wer für den Machtwechsel schuldig gesprochen wird. Genscher brauchte lange, Lindner dagegen machte kurzen Prozess.

1982 wechselte die FDP von der SPD zur CDU/CSU und regierte weiter. Diesmal aber fehlt der FDP die Alternative. Christian Lindners hehre Worte zur Begründung des Bruchs stehen in absurdem Gegensatz zur Lage der FDP. Sie kann froh sein, wenn sie bei der nächsten Wahl über 5 Prozent bekommt. Zum Regieren wird sie nicht gebraucht. Scheitert sie, ist Lindner gescheitert. Dann muss sich die FDP eine neue Führung suchen. Viel Vergnügen.

In nächster Zeit werden wir verschiedene Versionen über das Drama der letzten Tage in Berlin zu hören bekommen. Denn jeder der drei Parteien ist dringend daran gelegen, als die Gute da zu stehen. Wer die Deutungshoheit über die Ereignisse erlangt, kann sich Hoffnung auf Belohnung durch die Wähler machen. Dieser Prozess verlangt Kunstfertigkeit und dafür sind die Koryphäen der Ampel nicht unbedingt geeignet.

Die beste Figur machte gestern in der Beschreibung des inneren Zerfalls der Regierung noch Robert Habeck. Für ihn spricht, dass ihn der Bruch schmerzt und er niemanden persönlich abkanzelte. Allerdings ist Habeck mit seinem Heizungsgesetz der Grund dafür, dass die Grünen beispiellos in der Wählergunst abgefallen sind. Davon werden sie sich nicht so schnell erholen.

Olaf Scholz hätte öfter zeigen sollen, dass er kein reiner Kopfmensch ist, sondern ein Gemüt besitzt, das inneren Bewegungen ausgesetzt ist. Natürlich war es nicht die feine Art, persönlich gefärbte Fundamentalkritik an Christian Lindner zu üben, aber verständlich ist es schon. Dennoch wird Scholz als Kanzler in die Geschichte eingehen, von dem man Führung erwartet hat, ohne sie zu bekommen.

Die SPD ist eine Partei, die ihren Kompass sucht. Sie gab Arbeitsminister Hubertus Heil freie Bahn, weil sie noch immer an das Gute im Menschen glaubt und bekam folgerichtig das Bürgergeld. Auch ließ sie Fraktionschef Rolf Mützenich freie Bahn zum Konterkarieren von Bundeswehraufbau und Ukraine-Aufrüstung – und damit zur Kritik am Kanzler.

Wenn die SPD regiert, sorgt sie für Selbstdemontage. Sie wandte sich von Helmut Schmidt ab und der Koalitionsbruch war die Folge. Sie ließ Gerhard Schröder im Stich, als der – bei 5 Millionen Arbeitslosen – das Land vor die Partei stellte und die Agenda 2010 ausrief. Angela Merkel hat es ihm gedankt, die SPD arbeitete sich mehr als ein Jahrzehnt daran ab. Ein Treppenwitz.

Gerhard Schröder war ein Kommunikationsgenie, das Journalisten an sich heran ließ, die es ihm lange mit Wohlwollen dankten. Risikofreudig legte er eine fulminante Abschiedsrunde hin, betrieb Neuwahlen und katapultierte seine Partei aus den Niederungen der 20 Prozent auf 34,2 Prozent. Wäre die Wahl im September 2005 nur ein, zwei Wochen später erfolgt, hätte Schröder womöglich Angela Merkel verhindert.

Warum sich Olaf Scholz an Angela Merkel orientierte und nicht  an Schröder bleibt ein Rätsel. Klug war es nicht.

Nun also bekommt Friedrich Merz seine Chance, das Land zu führen. Wie sehr hat er es sich gewünscht. Wie viel nahm er dafür in Kauf.  Am kommenden Montag wird er 69. Deutschland wählt demnächst den zweitältesten Bundeskanzler seiner Nachkriegsgeschichte.

Man kann nur hoffen, dass sich Merz seine Souveränität bewahrt und die Neigung zum Lapsus zähmt. Nur so kann er zum Herrn des Verfahrens werden. Es ist ja kaum zu glauben, dass Markus Söder die Loyalität unter Beweis stellt, die er anderen abverlangt. Man muss es für möglich halten, dass er Merz querkommt und die Siegeschancen der Union mindert.

Ich glaube, dass die Union bei der Wahl auf 38 Prozent kommen kann. Aus der Wahl in den USA lässt sich schließen, dass die Partei, die für Wandel einsteht, im Übermaß belohnt wird. Geht die Union hoch, bleibt der AfD weniger Platz. Das BSW demonstriert gerade in Sachsen seine ideologische Engstirnigkeit. Gut möglich, dass Sahra Wagenknecht aus den Wolken auf die Erde zurückgeholt wird.

Wenn es kommen sollte, wie es aussieht, entsteht nach der Wahl eine Koalition aus zwei Parteien. Die Grünen bleiben auf der Strafbank und das ist vielleicht sogar gut für sie. Als Alternative bleibt nur die demoralisierte SPD, die sich nach Opposition sehnt, sich aber mit Boris Pistorius in die Regierung bequemen muss.

Friedrich Merz tritt ein unerfreuliches Erbe an, kein Zweifel. Kein Haushalt für 2025. Der Querulant in München. Deutschlands Wirtschaft im Krisenmodus. Aber Merz steht frei, was Lindner scheute wie der Teufel das Weihwasser – die Schuldenbremse den Notwendigkeiten anzupassen.

Jetzt erleben wir die letzten Tage mit dem Bundeskanzler Scholz. Wie gerne er dieses Amt innehatte, ließ er gestern in seiner Anti-Lindner-Philippika anklingen. Bald kann er darüber in seinen Memoiren berichten.

Friedrich Merz ante portas: Man kann, man muss ihm Glück wünschen, weil Deutschland eine funktionstüchtige Regierung in unübersichtlichen Zeiten zusteht.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Das Undenkbare denken

Jetzt haben wir den Salat. Was zu erwarten war, ist eingetreten. Vier Jahre Donald Trump, der mit seiner Mehrheit im Kongress durchregieren kann, stehen uns bevor. Zieht euch warm an.

Natürlich fragt man sich, wie sich Europa auf den Wiedergänger eingestellt hat. Nicht so richtig, oder? Und Deutschland? Unsere nervige Regierung könnte im Lauf des Tages oder der Nacht auseinander fallen. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Herren Scholz/Lindner/Habeck seit geraumer Zeit um sich kreisen, während sich draußen die Welt neu ordnet. 

Die Diskrepanz ist ein Grund dafür, ein Ende mit Schrecken dem endlosen Schrecken vorzuziehen. Die Ampel hat ihre Verdienste, die aber zurückliegen.  Sie ist ein Beleg dafür,, dass ein Land in Zeiten maximaler Unsicherheit keine unsichere Regierung braucht.

Man muss Friedrich Merz nicht mögen, aber die Union hat mit ihm als Kanzler eine Chance verdient. Der plötzlich nahe liegende Durchbruch zu einer neuen Regierung in Deutschland ist die erste Konsequenz der Wahl in Amerika.

Zum Opfer der zweiten Konsequenz wird die Ukraine werden. Die Unterstützung mit Waffen, Panzern, Raketen und Munition, die Trump systematisch reduzieren will, kann Europa nicht kompensieren. Damit sind wir bei der dritten Konsequenz, die uns ebenfalls betrifft.

Künftig wird die Nato mit weniger Amerika auskommen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen die Verteidigung Europas, womit vor allem Osteuropa gemeint ist, selber in die Hand nehmen.

Nicht zufällig gehörte Wladimir Putin zu den ersten Gratulanten, was Donald Trump sicherlich schmeichelt, weil er alles persönlich nimmt, das Gute wie das Schlechte. Russland bekommt nun freie Hand. Die enorme Aufrüstung, der sich Wladimir Putin widmet, lässt sich mit dem Krieg in der Ukraine nicht allein erklären. Da wird mehr vorbereitet, an der Flanke der Nato, zum Beispiel im Baltikum. Die schwächste Stelle an Europas Rand ist aber Moldau. Vielleicht beginnt die Wiedereroberung des Verlorenen, die Putin bedingungslos anstrebt, zuerst dort.

Eine Regierung Merz müsste nun ernst machen mit der Zeitenwende. Sie kann nicht genug am Wohlfahrtsstaat einsparen, um die Bundeswehr konsequent aufzurüsten. Wir werden vermutlich staunen, wie unversehens die Schuldenbremse ihren ideologischen Lindner-Gehalt verliert.

Die vierte Konsequenz aus Trumps-Wiederkehr lautet, dass nicht nur Deutschland, sondern Europa das Hoffnungsdenken Es-wird-schon-nicht so-schlimm-kommen hinter sich lässt. Das Friedensprojekt dürfte eine Wiederauferstehung erfahren. Frieden setzt die Bereitschaft zum Krieg voraus, das wussten schon die alten Römer.

Tatsächlich gibt es zwei Politiker, die unlängst für eine europäische Armee plädierten: der eine ist Emmanuel Macron, der andere erstaunlicherweise Viktor Orbán. Natürlich lassen sich Streitkräfte  aus vielen Ländern nicht blitzschnell aufstellen, aber etliche Ansätze dazu gibt es, die nun eben auch wirklich ausgeweitet werden sollten. Das dauert viele Jahre, wohl wahr, ist aber tatsächlich alternativlos.

Voraussetzung dafür ist das Überleben der Europäischen Union als Wirtschaftsmacht. In einer Zeit des um sich greifenden Protektionismus ist die Orientierung auf Export kein Vorteil. Trump dürfte den Handelskrieg mit China wiederaufnehmen und auf Europa ausdehnen. Die EU mischt ja kräftig mit, indem sie chinesische E-Autos, staatlich enorm subventioniert, mit Zöllen belegen will. 

Auf Dauer profitiert kein Land in der globalen Welt von ökonomischer Abschottung. Triumphe sind schal, das wird auch Trump erfahren. Am Ende ist vermutlich das staatlich gelenkte China am wenigsten verwundbar.

Die fünfte Konsequenz ist am heikelsten. Die Union hegt ja die Absicht, Kernkraftwerke zu reaktivieren. Zweifellos träumen auch einige Konservative und viele Rechte davon, dass Deutschland zur Atommacht aufsteigt. Diese Debatte hatte es schon in den 1950er Jahren gegeben. Damals wie heute war das Argument, wenn sich die USA von Europa abwenden sollten, gewährten am ehesten Atomwaffen unsere Unabhängigkeit. Aber trifft das Argument in unserer komplizierten Welt noch zu?

Zwei europäische Atommächte gibt es: Großbritannien und Frankreich. Nuklearwaffen sind eigentlich nicht dazu da, eingesetzt zu werden, weil nun einmal als zweiter stirbt, wer ballistische Raketen als erster abschießt. Atomwaffen sind politische Waffen zum Zweck der Gefahrenabwehr, so ging die Theorie bisher.

Umgekehrt ist es aber so, dass jedes atomar bewaffnete Land weiß, das andere atomar bewaffnete Land kann sie nicht einsetzen, auch wenn es einer Invasion ausgesetzt wird, weil eben die Folgen noch schrecklicher ausfallen. Was einmal galt, gilt heute nicht mehr. Die Drohung ist leer geworden.

Es gibt viel zu bedenken, auch neu zu bedenken, weil bald in Washington jemand regiert, der Amerika groß machen will. Die Logik ist, starke Männer machen, was sie wollen, in China, in Russland, in der Türkei usw. Und sie nehmen sich, was sie nehmen wollen. Nicht nur die Ukraine ist in seiner Existenz bedroht, auch Taiwan verliert seinen Rückhalt im Trump-Amerika.

Illusionen sind am heutigen Tag an vielen Orten der Welt zerstoben. Jetzt kommt es darauf an, die Konsequenzen aus der neuen geschichtlichen Lage zu ziehen, um die wir uns überlang gedrückt haben, in Deutschland, in Europa und anderen Weltgegenden. Ziehen wir uns warm an.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Anfall von Irrsinn 

In meinem Leben war Amerika früh da. Amerika waren die GIs, die in Hof auf Europas größter Radarstation in den Ostblock hinein lauschten. Amerika war der CIA-Agent, der in der Einliegerwöhnung unseres Haus wohnte und die Angewohnheit besaß, ein Glas Whiskey im Fonds seines Autos zu placieren, damit er auf der langen Fahrt von 7 Minuten nach Hause nicht verdurstete.

1975  war ich zum ersten Mal drüben. Aus Sioux City in Iowa, wo meine Freundin wohnte, fuhr ich mit dem Greyhound-Bus nach Denver, mietete einen Leihwagen, kurvte in die Rocky Mountains hoch und fuhr Ski auf diesem einmalig feinen Pulverschnee. Chicago ziehe ich bis heute New York vor. 

Amerika bedeutete Sicherheit in meinem Leben. Fünf Kilometer weiter östlich  geboren, wäre ich in der DDR aufgewachsen. Amerika war aber auch diese Weite, diese unfassbar eindrucksvolle Natur. Und als ich später Harvard besuchte, nahm ich mir vor, nach meiner Wiedergeburt in diesen heiligen Hallen bei den klügsten Professoren weltweit zu studieren.

Unser Fernsehapparat war noch nicht angeschlossen, als ich, drei Wochen zuvor als „Spiegel“-Korrespondent hereingeschneit, 9/11 erlebte und in dessen Gefolge einen Anfall von Hysterie, wie ihn sich nur Amerika so tiefenscharf gönnt. Einschränkung der Grundrechte. Jagd auf arabisch aussehende Amerikaner. Guantanamo.

In seiner Geschichte gab sich Amerika immer wieder Aufwallungen hin, die man auch als Sympathisant dieses Landes nicht begreift. Die Lynchjustiz des Ku-Klux-Clan bis tief in die 1960er Jahre hinein. Die Jagd auf Kommunisten, die selten welche waren, in den McCarthy-Jahren. Die fingierten Beweise, um Saddam Hussein aus einem Erdloch zu ziehen. Und jetzt Donald Trump.

Ich frage mich, wann diese bürgerkriegsbereite Spaltung Amerikas in zwei Lager eigentlich begann. Erste Anzeichen tauchten unter George W. Bush auf, der den Neokons freien Lauf ließ. Bei den Neokons ragten  Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney (dem ein richtig guter Film gewidmet ist) heraus. Sie waren aggressive Nationalisten, wollten autokratische Regime stürzen und die Welt demokratisieren. In Südkorea und auf den Philippinen gelang es ihnen damals, im Irak aber nicht, mit den bekannten Folgen für Syrien und den ganzen Nahen Osten.

Die entscheidende Wirkung erzielte dann Barack Obama. Die weiße Unterschicht drehte durch, weil ein schwarzer Präsident es wagte, zwei Wahlen zu gewinnen. Anstatt dass sich Amerika versöhnte, brach Amerika auseinander. Die Folge war der Überraschungssieg Donald Trumps im Jahr 2016. Die Folge seiner Hetzkampagnen war der 6. Januar 2021, der Sturm auf das Kapitol, ausgeführt von seinen glühendsten Anhängern, die sich unter anderem „Proud Boys“ nannten.

Morgen, am Dienstag, entscheidet Amerika darüber, ob es sich dem Anfall von Wahnsinn weiterhin hingeben will oder die Reißleine zieht. Biegt das Land um wie damals bei McCarthy, der vier Jahre Narrenfreiheit bekommen hatte? Oder dreht das weiße Amerika die Uhr zurück und kehrt die Verhältnisse um? Und was bricht aus, falls Kamal Harris hauchdünn gewinnen sollte und Trump die „Proud Boys“ und die anderen rechten bewaffneten Gruppen zur Korrektur der Wahl aufruft?

Die Gründung Amerikas am 4. Juli 1776 ist bald 250 Jahre her. Kein anderes Land hat die Welt mehr bereichert. Ohne Amerika wären beide Weltkriege im 20. Jahrhundert anders ausgegangen. Nichts ist mit diesem riesigen Land an kulturellem und politischem Einfluss geschichtlich vergleichbar. Groß gehandelt hat es und groß geirrt. Es gibt jede Menge Gründe, Amerika zu hassen. Die Gründe, es zu bewundern, haben abgenommen.

Natürlich wäre es mir lieber, Kamala Harris würde Präsidentin. Denn mein Amerika wäre nicht mehr mein Amerika, wenn es kommt, wie es zu kommen scheint und Donald Trump an die Schaltstellen der Supermacht zurückkehrt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Faschist oder Frau

Wenn Amerika wählt, schaut die ganze Welt gebannt zu. Dieses Land ist eben nach wie vor eine Weltmacht sondergleichen, an der das Schicksal der Ukraine genauso hängt wie das Israels und natürlich möchte auch Europa seinen Schutzherren nicht verlieren. 

Kulturell besitzt Amerika sowieso hegemonialen Einfluss. 100 000 Chinesen studieren an den Elite-Universitäten der Ost- und Westküste. Naturwissenschaftliche Nobelpreise sind praktisch amerikanisches Monopol. Die digitalen Riesenkonzerne sind das Symbol technischer Überlegenheit, die dieses Land seit dem Zweiten Weltkrieg innehat.

Noch in den entlegensten nepalesischen Dörfern finden Touristen Coca Cola vor. Die Sportschuhe von Nike sind noch immer Kult und die Basketballspiele der NBA übertragen asiatische Fernsehanstalten ebenso selbstverständlich wie die Footballspiele der NFL. Diese Aufzählung könnte beliebig fortgesetzt werden.

240 Millionen Amerikaner dürfen am 5. November ihren 60. Präsidenten wählen. Aus europäischer Sicht eine Riesendemokratie, aus chinesischer Sicht eine Puppenstube. Ihre Funktion als Vorbild für wirtschaftlich und politisch aufstrebende Staaten haben die USA allerdings eingebüßt. Da war bei der Projektion der Macht in diversen Weltgegenden zu viel Doppelmoral im Spiel und, schlimmer noch, waren zu viele Fehleinschätzungen zu besichtigen, zum Beispiel seit 9/11 im Irak, in Afghanistan, in Syrien, in Libyen, in Ägypten.

Worauf es diesmal ankommt, liegt auf der Hand. Da ist Donald Trump, der Diktatoren liebt und selber gerne ein Diktator wäre. Wer ernsthaft das Militär gegen seine inneren Feinde einsetzen will und ebenso ernsthaft in Aussicht stellt, dass seine Anhänger nur noch einmal zur Wahl gehen müssten, denn dann werde er das System „in Ordnung bringen“, muss sich auch Faschist nennen lassen. Dieser ultimative Vorwurf stammt von einem General, John Kelly, der Trumps Stabschef in der ersten Amtszeit gewesen war. Der Chef hatte ihm in seiner Wut an den Kopf geworfen, er wünsche sich Generäle, wie sie Hitler umgeben hätten.

Natürlich wehrte sich Donald Trump nicht gegen die Stigmatisierung als Faschisten, sondern erklärte General Kelly für degeneriert und einen Schwachkopf. Das ist sein Prinzip: Nie ins Sachliche ausweichen, immer volle Kanne Offensive mit Beleidigungen und Beschimpfungen – Stärke zeigen. Dafür liebt ihn ungefähr die Hälfte Amerikas. Erstaunlich, aber wahr.

Kamala Harris griff Kellys Charakterisierung dankbar auf. Sie hatte ihre beste Phase, als sie Trump eher verwundert als schräg, als seltsam bezeichnete. Nebenbei bricht sie alle Rekorde im Spendensammeln – eine Milliarde Dollar in kurzer Zeit. In den letzten Wahlkampfwochen beschränkt sie sich auf den Alarmismus vom Ende der Demokratie, der mit Trump heraufziehen würde. Es ist gekommen, wie es kommen musste: Ihr Argument, sie zu wählen, ist Trump.

Somit steht der Mann im Zentrum, der es gar nicht aushält, nicht im Zentrum zu stehen. Ich oder der Untergang Amerikas, das ist seine Botschaft. Ich oder der Untergang Amerikas, das ist auch ihre Botschaft.

Die Demoskopen rätseln jetzt, was oder wer die Wahl entscheiden wird. Die illegale Einwanderung über die mexikanische Grenze – vielleicht. Abtreibung – möglich. Die Ukraine? Israel und die Palästinenser? Oder alles irgendwie zusammen?

Auf wen es womöglich ankommt: Auf die Frauen. Auf die Afroamerikaner. Auf die Latinos. Auf das ultrareiche Amerika in Gestalt von Elon Musk und Wall Street. Oder auf alle zusammen.

Aus der Vogelperspektive betrachtet fällt ein anderes Gesetz der Serie auf. In der Abfolge der Präsidenten ergibt sich über die Jahrzehnte ein Muster. Nicht besonders elaboriert, aber gerade deshalb überzeugend.

Das Gesetz lautet so: Der nächste Präsident muss sich diametral vom Amtsinhaber unterscheiden. Auf den ältlichen General Dwight D. Eisenhower folgte 1961 der jugendliche John F. Kennedy. Auf den diabolischen Richard Nixon folgte 1977 der fromme Jimmy Carter. Auf ihn folgte 1981 der charismatisch-lässige Ronald Reagan mit dem untrüglichem Gespür für Paradigmenwechsel.

Nach Vater Bush zog 1993 Bill Clinton ins Weiße Haus ein, virtuos in der Machtausübung und mit freihändiger Moral. Nach George W. Bush, schlicht und umgeben von Zynikern der Macht, kam 2007 Barack Obama – charismatisch, skandalfrei und übervorsichtig. Er wiederum machte den Weg 2016  frei für Donald Trump, das nun wirklich absolute weiße Antidot zum ersten schwarzen Präsidenten.

Weil mir dieses Gesetz aufgefallen war, schrieb ich im Mai 2016 auf „SpiegelOnline“ einen Artikel, in dem ich Trump zum Sieger ausrief, ein halbes Jahr vor der Wahl. Und diesmal?

Ja, Trump ist der maximale Kontrast zu Joe Biden, dem erfahrenen, arglosen Präsidenten. Und Kamala Harris wäre wie Hillary Clinton vor acht Jahren die Verlängerung des Amtsinhabers mit filigranen Veränderungen, die nicht ins Gewicht fallen.

Trifft das Gesetz der Serie noch zu, dann bekommt Donald Trump eine zweite Gelegenheit, Amerika nach seinem Willen und seinen Vorstellungen zu verändern – als Diktator, als Faschist.

Das Gesetz muss schon außer Kraft gesetzt worden sein, damit Kamala Harris ins Weiße Haus einziehen kann – als erste Frau.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Kompromisse? Was für Schwächlinge

Eigentlich ist es ja aller Erfahrung nach so, dass sich Kriege erschöpfen. Sie lassen entweder aus Einsicht in die Notwendigkeit nach, weil genug getötet und gestorben worden ist. Oder das Waffenarsenal und der Nachwuchs an Soldaten schrumpfen, so dass die Moral sinkt und im Weiterkämpfen kein Sinn mehr liegt. Auf diesen toten Punkt könnte der Krieg in der Ukraine zusteuern.

Der Nahe Osten ist anders. Dort gibt es Aufstände und Konflikte seit 100 Jahren und die Zeitspanne ohne Attentate, ohne Krieg, ohne Sterben ist gering. Deshalb muss man sich trotz der jüngsten israelischen Triumphe keinen Illusionen hingeben, dass der Friedensplan, den Joe Biden schon vor Monaten vorgelegt hatte, auch nur den Hauch einer Chance auf Umsetzung besitzt.

Im Gegenteil ist es offenbar so, dass Israel die Gelegenheit zur Vernichtung ihrer Feinde sieht, was man ihm nicht einmal verdenken kann. Wer lässt schon dauerhaft die Hisbollah im Norden Raketen abschießen und die Hamas im Süden Mörser abfeuern und den 7. Oktober wiederholen. 

Das ist nun einmal die Logik in dieser Weltgegend. Bring so viele Menschen um, wie nur irgend geht. Lass deine Rache größer sein als das Leid, das du erfahren hast. Nutz die Schwäche deiner Feinde maximal aus. Erbarmungslosigkeit ist die Tugend der Starken. Kompromisse gehen nur Schwächlinge ein.

Friedensbemühungen? Lange her, fast 30 Jahre lang, als Jitzak Rabin noch lebte. Was widerfuhr ihm? Er wurde im November 1995 umgebracht – von einem rechtsextremistischen Juden, der den Ministerpräsidenten für einen Verräter hielt, da er für Ausgleich mit den Palästinensern eingetreten war. Einige der Minister im heutigen Kabinett Netanyahu denken genauso wie der Rabin-Mörder.

Der Krieg geht weiter, immer weiter. Der Geodaten-Geheimdienst der USA wertet Bilder und Informationen aus, die Satelliten sammeln. Sie weisen darauf hin, dass Israel Vorbereitungen für einen Anschlag auf Iran trifft. Sie sollten, versteht sich, ein Geheimnis bleiben, kursieren dennoch und vielleicht ist die Verbreitung sogar politisch gewünscht. Denn die Warnungen, die der amerikanische Präsident vor einem Krieg mit Iran ausstößt, stoßen ja bei Benjamin Netanyahu eher auf taube Ohren.

Nach diesen Geheimdienst-Informationen übt die israelische Luftwaffe den Ernstfall. Die Frage scheint nur noch zu sein, wann wie und wo sie zuschlagen wird. Von Premier Netanyahu weiß man, weil er es oft genug wissen ließ, dass er die Urananreicherungs-Anlagen und Forschungsstätten für das iranische Atomprogramm im Visier hat. Sie sind allerdings über das Land verteilt und in gesicherten unterirdischen Anlagen versteckt.

Ein leichteres militärisches Ziel sind die Häfen mit ihren Öl-Terminals. Sie in Brand zu stecken, würde die ohnehin fragile Wirtschaft schädigen und deshalb vielleicht sogar Unruhen im Land auslösen. Israel träumt von einem Regimewechsel in Teheran und arbeitet darauf hin.

Eine dritte Möglichkeit sind Attentate auf Politiker und Geistliche. Das Undenkbare ist denkbar, wie man seit den Morden an Atomwissenschaftlern und auch an Hamas-Führer Ismail Hanija mitten in Teheran weiß.

Bisher ist ein Krieg gegen Iran nur eine nahe liegende Option. Dagegen ist der Zweifrontenkrieg im Gaza und im Libanon Wirklichkeit.

Die Hisbollah versuchte gerade einen Anschlag auf das Privathaus der Familie Netanyahu, die allerdings nicht daheim war.  Im nördlichen Gaza hat die israelische Armee die Stadt Jaballija umzingelt und bombardiert. Angeblich hatten sich Hamas-Kämpfer dort reorganisiert. 20 000 Menschen sind auf der Flucht und man muss sich fragen, wohin sie in dieser Trümmerwüste noch fliehen sollen. 

Irgendwo dort in den Ruinen oder Tunneln sind auch die Geiseln, seit mehr als einem Jahr. Auf ihre Befreiung hoffen die Familien, die noch immer regelmäßig in Tel Aviv auf die Straße gehen, mit wachsender Verzweiflung. Sind ihre Kinder, Frauen, Männer, Großväter überhaupt noch am Leben und wenn ja, wie viele? Oder haben ihre Bewacher an ihnen Rache geübt, als ihre Ikone Jaja Sinwar gestorben war? Und warum unternimmt die Regierung Netanyahu eigentlich keine Anstrengung für einen Austausch?

Momentan finden keinerlei Verhandlungen über die Geiseln statt. Die Vermittler am Golf und in Ägypten erachten die Wiederaufnahme für zwecklos. Israel fühlt sich zu stark für Zugeständnisse. Die Hamas fühlt sich zu schwach für Zugeständnisse. 

Natürlich wäre es human, den Biden-Plan umzusetzen, die Geiseln freizulassen und an den Wiederaufbau im Gaza zu gehen, was ja unter den herrschenden Bedingungen ohne die Hamas möglich wäre. Aber auf Humanität ist hier nicht zu hoffen und somit bekommt die Hamas so gut wie eine Garantie zum Überleben.

Denn sie war schon einmal in einer ähnlichen Krise, damals in den 1990er Jahren und wieder zehn Jahre später, als fast ihre gesamte Führung entweder umgebracht worden war oder in israelischen Gefängnissen steckte. Dort saß auch jaja Sinwar viele Jahre lang ein und geht nun als Märtyrer und Mastermind des 7. Oktober 2023 in die arabischen Geschichtsbücher ein.

Gut möglich also, dass sich dieser schreckliche Krieg noch ausweitet. Und für die nächsten Kriege wächst die nächste Generation heute schon heran. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.