Mit der Stimme eines Engels

Für immer wird sie diese engelsgleiche Stimme bleiben, die ihren Schmerz über das Ende einer Liebe hinausschreit, eine schöne junge Frau, die ihn am liebsten zurück hätte, diesen unvergleichlichen Mann, der sie verlassen hat. „Nothing compares 2 you“ machte Sinead O’Connor schlagartig weltberühmt. Prince hatte den Song geschrieben und komponiert, aber verbunden bleibt er mit Sinead O’Connor, der schönen jungen Irin mit dem kurz geschnittenen Haar.

Wer so auf die Bühne der Welt katapultiert wird, 1990 war das, ist ein großes Versprechen auf mehr. Auf eigene Lieder. Auf Großes. Wenige Künstler können diese hochfahrende Erwartungen erfüllen und Sinead O’Connor vermochte es nicht. Es lag nicht an ihrer Stimme, ganz bestimmt nicht. Vielleicht traf sie einfach nicht auf den richtigen Produzenten, der den richtigen Texter gekannt hätte und auch den richtigen Komponisten. Wenig fügte sich in diesem Leben, das immer mehr aus den Fugen geriet.

In ihr war diese große Sehnsucht nach Stabilität im Leben durch Musik. In ihr muss aber vor allem dieser große Schmerz und eine große Wut gewesen sein. Sie erzählte von der bösartigen Mutter, die Schläge für die angemessene Erziehung hielt. Später erzählte sie von der Vergewaltigung im katholischen Internat; da war sie wohl 16 Jahre alt gewesen. Traumatische Erlebnisse, die sich offenbar nicht auflösen ließen. Der Hass auf die katholische Kirche loderte in ihr. In der berühmten amerikanischen Sendung „Saturday Night Life“ sollte sie im Jahr 1992 Bob Marleys klassischen Protestsong „War“ singen und zerriss mitten drin eine Fotografie des Papstes Johannes Paul II. Damit machte man sich damals keine Freunde, nirgendwo.

Der Zufall will es, dass gestern ein berühmter Kollege einen runden Geburtstag feierte. Mick Jagger, der Inbegriff des „Forever Young“, der ewige Derwisch auf der Bühne, rank und schlank wie je, der Hedonist mit den vielen Frauen und den vielen Kindern, wurde 80. Mit ihm verbinden sich Dutzende großartiger Texte und riesige ausverkaufte Arenen, solange er sich ohne Rollator bewegen kann. Gebildete Abendländer würden ihn einen Liebling der Götter nennen.

Sinead O’Connor war kein Liebling der Göttinnen. Viermal war sie verheiratet, bekam vier Kinder. Sie blieb nicht ewig jung. Ihr sah man an, was das exzessive Leben auf der Tour einem Menschen anhaben kann. Aus dem Kurzhaarschnitt entstand die Glatze. Sie sang selbst verfasste Lieder wie „Feel so different“, sie erklärte die Wut und den Schmerz mit ihrer Bipolarität, sie sagte, ohne Sex sei sie depressiv. Sie gab sich komplizierte neue Namen und legte sie wieder ab. Sie verschwand tagelang aus dem Hotel, man befürchtete, dass sie Selbstmord begangen hatte. Ihr schwieriges, schweres Leben schob sich vor die Songs, die nie an den Erfolg von „Nothing compares 2 you“ heranreichten. 

In Irland hat die Melancholie eine Heimstatt. Van Morrison, der Mann, der keine falsche Note singen kann, hat nicht zufällig ein Lied darauf geschrieben, „Melancholia“, in dem es heißt „Every Single Day / It won’t go away“. Oder Dolores O’Riordan, die Sängerin der „Cranberries“, die mit 48 Jahren in einer Badewanne im Hotel ertrank. Sie teilte mit Sinead O’Connor das doppelte Schicksal, vergewaltigt worden zu sein und unter depressiven Schüben zu leiden. 

Sinead O’Connor war auf einer langen Suche nach innerer Ruhe, die ihr versagt blieb, wie traurig. Wer ihr wohlgesinnt ist, hört sich noch mal diese Hymne eines Verlustes an, die so anhebt: It’s been seven hours and 15 days /Since you took your love away.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Ein bisschen Demut, gefälligst

Wenn Freunde oder Verwandte in Urlaub fahren, wünscht man ihnen eine tolle Zeit und umfassende Erholung an Leib und Seele. Und wenn man bester Laune ist, zum Beispiel auch, weil man sie auf einige Zeit los ist, was man sie natürlich nicht spüren lassen sollte, dann erteilt man ihm auch noch einen guten Ratschlag, was er zur inneren Fortbildung lesen sollte.

Nun sind die Herren und Damen, die uns regieren, in den Urlaub entschwunden. Von Hubertus Heil wissen wir, dass er nicht nur in Brandenburg wohnt, sondern dort auch urlaubt. Friedrich Merz lässt wissen, dass er in Südfrankreich Rad fahren wird. Muss man ihm einen wachsamen Schutzengel wünschen, ist ja nicht mehr der Jüngste. Olaf Scholz weilt an unbekanntem Ort, ist verständlich für den Kanzler, na ja. Robert Habeck und Annalena Baerbock waren vorher noch in Sachsen unterwegs.

Also was würden wir dem einen oder der anderen als Buchempfehlung mitgeben? Alle sollten unbedingt „Eine Frage der Chemie“ lesen. Hat eine Frau im fortgeschrittenen Alter geschrieben, herrliches Buch, macht glücklich. Wir wollen gar nicht erwarten, dass sie es von vorne bis hinten lesen. Es genügt ja schon den Titel ernst zu nehmen. Chemie ist die Wissenschaft, welche die Eigenschaften, die Zusammensetzung und die Umwandlung der Stoffe und ihrer Verbindungen erforscht. Chemisch aber hat der Stoff, aus dem die Regierung besteht, einige Eigenschaften, die dringend einer Umwandlung bedürfen. Sind wir zuversichtlich? Müssen wir im eigenen Interesse sein.

Olaf Scholz würde ich gerne das wunderbare Buch über „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ schenken, das der leider gerade eben verstorbene Milan Kundera geschrieben hat. Dabei kommt es auf die innere Verweigerung der Hauptfigur an, das ist der Chirurg Tomas, sich zu ändern. Was uns das lehrt: Ist gut, wenn man sich treu bleibt. Ist schlecht, wenn man sich damit keinen Gefallen tut. Ist es ratsam, sich trotzdem treu zu blieben? Doch wohl nicht. Noch Fragen?

Für Annalena Baerbock fällt die Wahl leicht: Clausewitz „Vom Kriege“, vor rund 200 Jahren verfasst, unvollendet geblieben, was ja auch ein Symbol für die Kraft des Krieges ist, der alle Beteiligten verschlingen kann. Kühl und klar, nüchtern und sachlich hat es der geadelte preußische General geschrieben. Er glänzt durch Abwesenheit von Moral und die Dialektik von Politik und Krieg. Insofern Pflichtlektüre für von Haus aus romantische Menschenwesen, die ins Grübeln kommen wollen. Kommt die Außenministerin ins Grübeln?

Friedrich Merz sollte mal Dirk Oschmanns „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ lesen. Oschmann ist ein DDR-Arbeiterkind, das es zum Professor für Neuere Deutsche Literatur in Leipzig gebracht hat, eine tolle Karriere, aus der ihm keine reine Genugtuung erwächst. Denn das Arbeiterkind im Professor hat einen Wutschrei in Form eines Buches ausgestoßen. Daraus lässt sich viel über die herrschende Stimmung in den ostdeutschen Ländern herauslesen, in denen im nächsten Jahr gewählt wird. Nach der Lektüre sollte dem Radfahrer Merz die Erleuchtung heimsuchen, wer in Wahrheit der Hauptgegner der CDU ist.

Und dann wollen wir noch Christian Lindner literarisch beglücken und zwar mit Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“. Auf seiner Lebensreise begegnen ihm ebenso interessante wie eitle Figuren. Er selber findet zur Demut, eine Tugend, in der sich eine wahrhaft liberale Grundhaltung erkennen lässt, da sie andere zu ihrem Recht kommen. Ja, und Demut täte nicht nur Lindner gut, sondern auch anderen Regierungsmitgliedern, die im Übermaß auf sich selber bedacht sind.

Ich bin wirklich gespannt, wie sie in ein paar Wochen wieder auftauchen, die Minister und Ministerinnen, braun gebrannt und hoffentlich ausgeschlafen. Eines geht ja gar nicht: Einfach so weitermachen. Denn wenn sie selbstvergessen dort weitermachen, wo sie aufgehört haben, leidet das Ganze darunter, also wir, also das Land.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Unser aller Andie

Andreas Scheuer, vormals Dr. Andreas Scheuer, hüllt sich in Schweigen und er darf das, jedenfalls wird ihn niemand aus der CSU ein paar Monate vor der Landtagswahl zur Einsicht zwingen, dass er ungeheuer viel Mist gebaut hat. Er hält sich an die eiserne Regel: Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen. Andere Milieus sagen dazu: Omertà.

Die CSU hob bei der Vergabe der Ministerien unter CDU-Kanzlern reflexhaft den Finger, sobald das Verkehrsministerium dran kam. Sinn und Zweck der Fixierung erhellt sich, sobald man ein paar Zahlen ins Verhältnis setzt. In den Jahren 2014 bis 2018 standen dem Ministerium 1,6 Milliarden Euro für den Ausbau von Straßen im gesamten Bundesgebiet zur Verfügung. Davon flossen 551 Millionen Euro nach Bayern. Wundert das jemanden?

Die beiden letzten CSU-Minister, sie hießen Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer, machten kein Hehl aus der Bevorzugung ihres wunderschönen Landes. Scheuer argumentierte zum Beispiel entwaffnend so: Die dortige Verwaltung sei leistungsstark und könne somit in bereits geplante Bauvorhaben investieren. Noch Fragen in Nordrhein-Westfalen?

Die Sache mit der Maut fing mit Alexander Dobrindt an. Der war Minister im 3. Kabinett Merkel vom 17. Dezember 2013 bis zum 24. Oktober 2017. Der Ministerpräsident hieß zu dieser Zeit Horst Seehofer. In ihm darf man den Antreiber fürs Erheben einer Straßennutzungsgebühr vermuten. Ohne Rückendeckung in München keine Initiative in Berlin, ist schon klar.

Als noch von einer Maut für alle Autofahrer gleichermaßen, egal ob Ausländer oder Inländer, die Rede war, protestierten CSU-Landräte bayernweit, weil sie Angst vor Einbußen im Tourismus hatten. Darüber konnte die CSU natürlich nicht hinweggehen. Also kam dieser Kompromiss zustande: Maut für Ausländer, Verrechnung der Maut mit der Kfz-Steuer für Inländer. Genial, oder?

Ging halt schief. Kostet jetzt 243 Millionen Euro Entschädigung für die beiden potentiellen Maut-Betreiber. Geht noch, schien ja auf 700 Millionen hinaus zu laufen oder wenigstens auf 560 Millionen. Anwaltskosten 21,5 Millionen Euro. Blöd nur, dass niemand sich noch an Alexander Dobrindt erinnert und alles an Andreas Scheuer hängen bleibt. Bloß weil er Verträge mit den zukünftigen Maut-Betreibern schloss, ehe der Europäische Gerichtshof exakt das Urteil fasste, dass ihm vorhergesagt worden war: Ungleichbehandlung ist diskriminierend.

Was sagte der Übeltäter dazu? Wenig. „Ich als Minister hatte keine andere Wahl, ich musste das Gesetz umsetzen.“ Ernsthaft jetzt? Und auf die Frage, was die Katastrophe für ihn persönlich bedeute: „Es geht mir nah. Punkt. Privat bleibt privat.“ Dabei weiß jeder in der CSU, dass gerade das Private politisch ist, fragt nach bei Seehofer.

An Andreas Scheuer ist vieles abgeperlt. Der Verlust des kleinen Doktortitels, in Prag erworben und eigentlich PhDr abgekürzt, den er als einen großen Doktortitel ausgegeben hatte. Das Debakel mit der Maut, bei der normalerweise die letzten Hunde gebissen werden. Erst jetzt hagelt es Kritik am Teflon-Andi, ausgerechnet wegen einer alten Geschichte in München. Wer hätte das gedacht.

Als Minister für Verkehr war Scheuer unter anderem zuständig für den Bau einer zweiten Stammstrecke für die Münchner S-Bahn im Auftrag des Freistaats. Seit heute ist ein Entwurf für den Bericht des Untersuchungsausschusses im Bayerischen Landtag in Umlauf. Darin wird der Scheuer Andi gegeißelt für sein erstaunlich geringes Interesse am Projekt, was in seinem Heimatland einem Todesurteil gleichkommt. Zudem wird er zitiert, er sei weder beunruhigt noch nervös gewesen, als sich die Kosten auf 8,5 Milliarden verdoppelten und auch noch ruchbar wurde, dass die Bauzeit viel, viel länger ausfallen würde als geplant. Für klärende Gespräche war der Herr Minister nicht zu haben. Noch eine Todsünde.

Man darf das höhere Gerechtigkeit nennen, wenn ein Verkehrsminister sehenden Auges an die Wand fährt, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, da er ja wohlweislich Gutes für seine Heimat getan hatte, und statt dessen über ein national unerhebliches Vorhaben am Pranger steht.

Es fügt sich auch privat günstig, dass  Andreas Scheuer ohnehin die Politik hinter sich lassen will. An diesem Samstag wird er den Vorsitz des CSU-Bezirks Niederbayern niederlegen, seine Hausmacht. Die Absicht war länger bekannt, das stimmt sogar.

Was wird jetzt aus ihm, 48 Jahre jung? Er liebäugle mit der Wirtschaft, lässt er wissen. Na ja, ist konsequent, Verträge kann er ja.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.

Herr Merz auf seinem Sonderweg

Das Erstaunliche ist weniger der parasitäre Erfolg der AfD, sondern die Schnelligkeit, mit der die Konkurrenzpartei CDU darüber hinweg geht. Das mit Tamtam vorgestellte Zehn-Punkte-Programm, sogar einträchtig mit der CSU verfasst, kommt ganz ohne Hinweis auf die halb neokonservative, halb faschistische AfD aus. Erstaunlich.

Als den Hauptgegner machen Friedrich Merz und Markus Söder die Grünen aus. Der CSU mag man die Eindimensionalität sogar nachsehen, sie muss ja im Herbst eine Landtagswahl bestehen und bis dahin kennt sie nur dreierlei: Bayern, Bayern, Bayern. Ja, so ist sie, die CSU, so kennen wir sie, ruchlos und einseitig. Alles andere ist Markus Söder bis dahin zweitrangig, um es milde zu sagen.

Der Vorsitzende der CDU, der mal für sich damit warb, dass einzig er den Aufstieg der AfD stoppen könne, dürfte sich allerdings nicht so viel Vergesslichkeit leisten. Oder ist ihm tatsächlich entgangen, dass seine CDU in Düsseldorf (seinem Bundesland), in Schleswig-Holstein, in Hessen, in Baden-Württemberg, in Brandenburg und in Sachsen mit den Grünen in der Regierung sitzen? Kein Wunder, dass zu den schärfsten Kritikern des Merzschen Sonderweges die Herren Wüst und Günther gehören, zwei Ministerpräsidenten, denen Merz mit seiner engstirnigen Opposition in Berlin Probleme bereitet.

Diese zehn Punkte, die sich Programm nennen, kommen tief aus der Mottenkiste der CDU: den Mittelstand steuerlich zu entlasten, Eigentum zu fördern und Anreize anstatt Verbote und Gebote – Helmut Kohl und Norbert Blum amüsieren sich vermutlich im Grab über den Pathos des Jahres 2023.  Mehr hat die CDU nicht anzubieten?

Es geht nicht nur um Sonneberg und jetzt auch noch um Raguhn-Jessnitz, um den neuen AfD-Landrat und den neuen AfD-Bürgermeister.. Es geht einerseits um die lose bis rohe Sprache, mit der zum Beispiel die FDP über Robert Habeck und sein Heizungsgesetz herzog und andererseits um mehr Ernsthaftigkeit bei eigentlich allen Parteien, die sich demokratisch nennen und von der AfD abgrenzen.

Die Grünen wissen, wer sie sind und wofür sie einstehen. Die FDP beschränkt sich mit kühler Professionalität auf ihre Klientel. Die SPD weiß in Person von Hubertus Heil, was ihre Sache ist, ansonsten ist sie ratlos. Die CDU aber ist ein Scheinriese, der den Vorteil nicht zu nutzen versteht, dass die Regierung mit sich selber im Unreinen ist. In der Opposition könnte sie eine breit gefächerte Diskussion darüber führen, was den Konservatismus heute ausmacht. Für das Gebäude-Energiegesetz zu sein, aber wegen der Eile das Bundesverfassungsgericht anzurufen – erhofft sich die CDU davon Auftrieb? Für Klimaschutz zu sein, aber bitte nicht so eilig – liegt darin die Garantie für 30 Prozent? Wenn Merz mit solchen Finten den Hauptgegner erledigen will, erledigt er sich gleich selber mit.

Machtversessenheit geht immer einher mit Machtvergessenheit. Die AfD ist ein Kollateralprodukt der CDU, was denn sonst. Friedrich Merz kannte diese Genealogie früher, als er noch frank und frei Angela Merkel auf der Nase herumtanzen durfte. Das Konservative, das mit ihm einhergehen sollte, war politisch gedacht als Angebot der CDU an ehemalige CDU-Wähler bei der AfD und nicht als ökonomischer Evergreen, den alteingesessene  CDU-Mitglieder im Schlaf singen können. 

Es würde sich zum Beispiel für den CDU-Vorsitzenden lohnen, mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer über dessen Thesen zu diskutieren, anstatt sie tot zu schweigen. Kretschmer meint, dass „die Ostdeutschen ein besonderes Verhältnis zu Russland“ hätten. Welches denn? Polen und Balten haben auch ein besonderes Verhältnis zu Russland, historisch bestimmt. Offensichtlich aber meint Kretschmer, den Aufstand in der DDR am 17. Juni1953 ignorierend, Ostdeutsche hätten ein sentimentales Verhältnis zu Russland, wobei man gerne wüsste, woher diese Sentimentalität wohl rührt. Geneigt zu Moskau sind derzeit auch Ungarn, Kroatien, Bulgarien oder die Slowakei, die als Hitler-getreue Staaten von der Sowjetunion zuerst besiegt und dann deren Imperium einverleibt wurden. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen Identifikation mit dem Aggressor.

Kretschmer ist auch ein Gegner der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und verlangt nach einer diplomatischen Lösung. Warum eigentlich setzt sich niemand in der CDU ernsthaft mit diesen Thesen auseinander? Kann es sein, weil sie mindestens im Grenzbereich zur AfD liegen? Alexander Gauland wünscht sich auch mehr Bismarck in der deutschen Außenpolitik, mehr Nähe zu Russland und weniger Amerika-Abhängigkeit, politisch wie kulturell, eine Verkehrung der Verhältnisse, die zum Wesenskern der AfD gehört.

Im Sommer 2024 wählt Sachsen und in den Umfragen von heute liegen CDU und AfD gleichauf. Zu beobachten wird also das Experiment sein, ob Kretschmers unerschrockene Suche nach Nähe zur AfD der CDU am Ende hilft oder eben doch der AfD. Und natürlich wird das Ergebnis Auswirkungen auf die ganze CDU haben, deren (westdeutscher) Vorsitzender eine stumme Begleitperson bei allen ostdeutschen Dingen bleibt. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern

Kimmich? Lena Oberdorf!

Diese Saison ist seltsam unglücklich zu Ende gegangen. Bei meinem BVB hatte ich ein ungutes Gefühl, als ich vor dem letzten Spiel gegen Mainz darüber schrieb. Ja, ja, die Nerven, das Gemüt, die Last der Erwartungen, die weichen Knie und dann die Tränen. Jude Bellingham wäre auch dann zu Real Madrid gegangen, wenn Dortmund Meister geworden wäre, so viel scheint klar zu sein. Er ist ein guter Junge, dem man nur Glück wünschen kann. Andererseits: Wann kann der BVB mal die Leute halten, die er aufbaut: Mikhitaryan, Gündogan, Sahin, Haaland, Bellingham, Kagawa, Götze, Lewandowski, Hummels. Ziemlich illustre Reihe, wobei natürlich auffällt, dass Sahin und Götze anderswo nicht glücklich geworden sind und Hummels zurückkam (wie Sahin, gut möglich auch, dass es Sancho wieder nach Dortmund zieht). Auch deshalb ist es eine Katastrophe, dass der BVB im letzten Moment gescheitert ist, an Musiala, genau genommen. Denn irgendwann muss der Verein dazu übergehen, diese tollen Spieler zu halten, die dort reifen, sonst wird as nichts mit der europäischen Spitzenmannschaft, und das wollen wir doch sein, oder?

Mit dem HSV habe ich nur deshalb etwas am Hut, weil ich lange in Hamburg gelebt habe und weil Levin ein Anhänger ist. Levin ist der Freund unserer Tochter und ein ungemein liebenswerter, kluger Junge, mit dem ich gerne Champions League schaue (und heute auf seine Einladung zum bett1open gehe). Also, der HSV ist ein tragischer Verein. Hätte Heidenheim nicht in einer überlangen Verlängerung in Regensburg noch zwei Tore fabriziert, wäre der HSV direkt aufgestiegen. Ob er in der Bundesliga mit dieser Mannschaft überlebt hätte, ist eine andere Frage. Der nahtlose Übergang von Euphorie zu Depression hatte den HSV jedenfalls derart geschwächt, dass er gegen Stuttgart unterging. Der Verein, der vom Schicksal bevorzugt auf ewig in der Bundesliga zu bleiben schien, wird jetzt vom Schicksal bestraft und am Wiederaufstieg gehindert. So sieht es aus.

Der dritte Verein, mit dem ich gebangt habe, ist Viktoria Hamburg und zwar die Frauenmannschaft. Sie spielt in der Regionalliga und einige Bekannte machen sich daran, den Verein zu professionalisieren. Das Ziel ist: 1. Bundesliga innerhalb von fünf Jahren. Ein bemerkenswertes Projekt, dem ich folge. Viktoria war Erster in der Regionalliga Nordost und musste gegen den Ersten in der Regionalliga Nord um den Aufstieg in die 2. Bundesliga spielen. Warum nicht beide Meisterinnen aufsteigen, weiß der Teufel.

Viktoria musste also gegen den HSV spielen und verlor in Hamburg 0:3. Ich war nicht dabei, mir wurde aber gesagt, der HSV sei nicht um drei Tore besser. Dummerweise konnte ich nicht zum Rückspiel in Lichterfelde gehen, schaute mir aber mit Levin die letzte halbe Stunde beim Stande von 1:0 für den HSV auf Sport1 an. Dann Elfmeter, souverän verwandelt, 1:1, noch knapp 30 Minuten Zeit für einige Tore. Chancen nicht genutzt, hinten offen, 1:3 verloren. Macht aber nichts, neuer Anlauf.

Absurderweise gewann die HSV-Frauen mit den gleichen Ergebnissen, mit denen die Männer verloren hatte: 3:0 und 3:1. Da sorgte das Schicksal für ausgleichende Gerechtigkeit.

Heute Abend spielen die Männer Deutschlands gegen Kolumbien. Auch dieses Phänomen, dass Flick kein Händchen für die Nationalmannschaft hat, muss ich unbedingt beobachten. Bei der vermaledeiten WM setzte er auf Bayern und ging, vor allem mit Müller, unter. Die Frage, die es zu klären gilt, lautet: War das Triple mit Bayern schieres Glück oder bekommt er es mit der Nationalelf noch hin? Hätte ich was zu sagen, würde ich Kimmich in den Urlaub schicken. Vielleicht stagniert er ja in seiner Entwicklung, aber vielleicht ist er auch nur überspielt und bräuchte ein Pause.

Mit erheblich größerer Spannung schaue ich der Frauen-WM entgegen. Ich finde Lena Oberdorf sensationell. Sie spielt, wie wir es von Kimmich erwarten. Poppi ist die Mittelstürmerin, die Bayern und Flick verzweifelt suchen. Merle Frohms hält so ruhig und sicher und souverän wie ter Stegen. Und die Abwehr (leider ohne die formidable Giulia Gwinn) steht so stabil, wie es der BVB und gerne hätten. Alles Gute! Viel Glück!

Diese nagende Unzufriedenheit

In einer Volksabstimmung sprach sich eine klare Mehrheit der Schweizer für ein Klimaschutzgesetz aus. Es sieht vor, dass der Verbrauch an Öl und Gas gesenkt und der Umstieg auf regenerative Energie staatlich gefördert wird. Auch Firmen, die in den Klimaschutz investieren, bekommen Subventionen von der Bundesregierung. Kommt uns bekannt vor, oder?

Volksabstimmungen sind in der Schweiz der normale Weg, um politisch hoch umstrittene Probleme zu lösen. Wenn es gut geht, herrscht hinterher die Ruhe nach dem Sturm. Deutschland hat eine andere demokratische Tradition als die Schweiz. Aber ein bisschen neidisch darf man schon sein auf ein Verfahren, das imstande ist, die Gemüter abzukühlen und die Regierung von einer Entscheidung zu entlasten.

In Deutschland wird das entsprechende Gesetz vielleicht noch in den nächsten drei Wochen durch den Bundestag und den Bundesrat gepeitscht. An Abkühlung der Gemüter kann auch hinterher nicht gehofft werden. Die Regierung besteht aus Teilen, die auseinander streben. Die Demoskopen berichten von Vertrauensverlust und Protestbereitschaft, von der die AfD den Nießnutz hat. Da ist ziemlich viel Porzellan zu Bruch gegangen.

Nun gibt es eine Art Gesetz, wonach deutsche Regierungen, egal wer sie anführt, in ihren Frühphasen in schwerwiegende Krisen geraten. Helmut Kohl, Kanzler seit Herbst 1982, trudelte von Krise zu Krise. Gerhard Schröder brauchte auch nicht lange, um als Brioni-Kanzler Furore zu machen und in „Wetten, dass…“ aufzutreten, ehe Oskar Lafontaine den Bettel hinschmiss. Angela Merkel musste zwei Jahre nach Amtsantritt mit der Weltfinanzkrise klar kommen.

Zur halben Ehrenrettung der Ampel-Koalition muss man ihr zugestehen, dass sie auf den Angriff Russlands auf die Ukraine gute Antworte fand. Dass Olaf Scholz keinen Übereifer an den Tag legte, um schwere Waffen nach Gutdünken zu liefern, war in Ordnung. Auch die Umsicht, mit der diese Regierung die Energie umsteuerte und die Preise für Gas und Strom dämpfte, war nicht zu verachten. Selbst die Inflation ebbt jetzt ab, die Preise für Nahrungsmittel fallen sogar. Diese Partien der Bilanz sollte man nicht vernachlässigen.

Was lernt uns das? Niemand hätte geglaubt, dass Helmut Kohl 16 Jahre lang Bundeskanzler bleibt, schon eher, dass Gerhard Schröder knapp 7 Jahre dran bleibt, aber wiederum schien nicht daran zu denken sein, dass Angela Merkel !6 Jahre lang amtiert. Und was sagt das über Olaf Scholz aus?

Mit zwei anderen Fraktionen regieren zu müssen, schließt fast systematisch lange Verweildauern im Kanzleramt aus. Die Fliehkräfte sind enorm, vor allem dann, wenn die FDP Dreh- und Kreisbewegungen ausführt, die von der Rotationsachse nach außen gerichtet sind. Die Zentripetalkraft müsste der Kanzler sein, dem aber die Haltung der leicht amüsierten Entrücktheit besser entspricht. Das Problem ist nur: So wird das ganz bestimmt nix mit längerer Verweildauer.

Die Grünen sind im schmerzhaften Prozess der Gewöhnung an Realpolitik begriffen. Realpolitik schließt moralische Ignoranz ein. Deshalb fällt es der Basis so schwer, die härtere Gangart im europäischen Asylrecht hinzunehmen. Diese neue Kälte trifft tiefenscharf ins Herz der Grünen. Die Entfremdung der Minister von ihrer Partei hat die SPD unter Helmut Schmidt und Gerhard Schröder vorgemacht. Damals profitierten die Grünen vom kalten Pragmatismus der etablierten Parteien. Heute sehen sie sich selber dazu gezwungen und haben den Schaden davon.

Als eigenständige Größe fällt die SPD in der Regierung aus. Einerseits liegt der Grund in der Rücksichtnahme auf den Kanzler, andererseits in der Ratlosigkeit über die eigene Rolle. Und ein Kanzler, der nur ab und zu bei peripheren Veranstaltungen aus der Haut fährt, ansonsten aber die Pferde laufen lässt, gewinnt bestimmt nicht an Autorität.

Das Gebäudeenergiegesetz hat im Vergleich zum ersten Entwurf an moralischem Impetus verloren und an rationaler Anpassung an die herrschenden Verhältnisse gewonnen. Mit dem Ergebnis kann Deutschland leben. Fraglich bleibt, ob das Ziel so erreicht wird, die Erderwärmung auf anderthalb Grad zu begrenzen.

Eigentlich ein passables Gesetz. Eigentlich eine passable Bilanz. Aber niemand glaubt so recht daran, dass Ruhe und Besonnenheit einkehren, weder in der Regierung mit ihren Fliehkräften noch unter den Wählern mit ihrer nagenden Unzufriedenheit über den Lauf der Dinge. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Regieren wie hinter Milchglas

Der Bundeskanzler hat ein paar bedenkenswerte Sätze ausgesprochen, es wurde ja auch Zeit. Aber sie klingen wie in Watte gepackt, merkwürdig unangemessen. Ja, es ist so, der zwangsweise Austausch alter Heizungsanlagen betrifft sehr viele Menschen, wie Olaf Scholz sagt, genauer gesagt sämtliche Besitzer von Wohnungen oder Häusern und dazu jeden Mieter hierzulande, auf die Investitionen im Keller oder auf dem Dach oder am Gebäude abgewälzt werden könnten. Es ist auch wahr, dass dieser Umstand „unmittelbar für Aufregung geeignet ist“, wie er anfügt.

Alles richtig, es gibt nur ein Problem mit diesen Aussagen. Sie wirken merkwürdig lakonisch, fast unernst. Scholz moniert, dass es ab und zu quietsche, wobei alle „ein bisschen Recht“ hätten, aber was sie zu sagen haben, sollten „ein bisschen leiser vortragen“. Ernsthaft jetzt?

Es ist die Stärke dieses Bundeskanzlers, dass er sich nicht andauernd aufregt und Machtworte ausspuckt. Es ist zugleich seine Schwäche, dass er die Dinge laufen lässt,  Abstinenz übt und entrückt wirkt. Seine Sätze, die wie in Watte verpackt daher kommen, hat er in der langen Nacht der „Zeit“ vorgetragen, nicht etwa auf einer Pressekonferenz in Berlin oder in einem offiziellen Interview. Eben so nebenbei bei einer halboffiziellen Gelegenheit, so dass seine Worte zwar zur Kenntnis genommen werden, aber kein übermäßiges Gewicht bekommen.

Die Dinge liegen aber anders. Sie haben die Tendenz zum Drama. Die FDP gefällt sich als Opposition in der Regierung. Der Wirtschaftsminister hat sein schönes Gebäudeenergiegesetz gegen die Wand gefahren. Die SPD schaut interessiert zu. Und der Kanzler hockt wie hinter Milchglas in seinem Kanzleramt und wenn er heraus tritt, tut er so, als kabbelten sich vor seinem Adlerauge junge Hunde miteinander, denen es verständlicherweise an Reife fehlt: Alles halb so wild, liebe Leute, wird schon wieder, ich erziehe sie, keine Sorge.

Den Schaden hat die Regierung und jede der drei Parteien, die sie tragen. Denn Koalitionen gewinnen und verlieren miteinander. Die FDP, die sich vom Sabotieren grüner Vorhaben Zugewinne erhofft, hat nichts davon. Die demoskopischen Erhebungen der letzten Woche sprechen Bände. Nicht die FDP und auch nicht die CDU profitiert von dem Tohuwabohu in der Regierung, sondern die blassen Erben von Alexander Gauland, die für den Verfassungsschutz ein Verdachtsfall sind. 

Olaf Scholz war schon mal weiter mit seinen Einsichten, was unter welchen Umständen passieren kann. Im Wahlkampf sagte er, es dürfe in Deutschland zu keiner Polarisierung zwischen liberal-kosmopolitischen Eliten und sozial-nationalen Populisten kommen. Ihm dienten Frankreich und Polen als abschreckende Beispiele, auch Italien gehört in diese Reihe. Noch ist es hierzulande nicht so weit wie in jenen Ländern, aber die Momentaufnahmen sollten besser zum heilsamen Schock gereichen, damit Deutschland Abstand zu Ländern hält, welche die Demokratie ramponieren.

Deutschland ist eben nicht nur Berlin und München und Hamburg. Metropolen sind die Ausnahme. Deutschland besteht mehrheitlich aus Mittelstädten und Kleinstädten, in denen das Gendern und die Cancel Culture und die Rücksichtnahme auf Minderheiten nicht zu den viel beachteten Problemen gehören. In diesen Kommunen ist es entscheidend, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen, unterbringen und bürokratisch betreuen müssen. Die Überarbeitung des Asylgesetzes ist in Berlin vielleicht ein mechanischer Vorgang, aber nicht in Aschaffenburg oder Darmstadt oder Kaiserslautern oder Hagen. Und natürlich sorgt das baldige Verbot für Öl- und Gasheizungen nicht nur Aufregung, sondern für Protest aus Wut auf und Unverständnis für die Regierung.

Die Eliten in Berlin, die sich in dieser Bundesregierung ein Stelldichein geben, haben in ihren internen Scharmützeln die Wirkung ihrer selbstvergessenen Auseinandersetzungen aus den Augen verloren. Das Habeck-Gesetz betrifft 40 Millionen Haushalte, nicht wenig, oder? Da ist einige Aufklärung nötig, ob die Fernwärmenetze ausgebaut  werden oder die Pelletheizung okay ist und in welcher Höhe die Wärmepumpe staatlich gefördert wird. Kein Hexenwerk, doch dem Selbstreflexionsakrobaten Robert Habeck ist passiert, was ihm nicht hätte passieren dürfen: Er versäumte es bis heute, seine Vorhaben verständlich zu erklären. Und der Kanzler schreitet nicht ein, ruft niemanden zur Ordnung und behält für sich, was er selber über die Klimawende denkt. Warum eigentlich?

Funktional ist unsere Demokratie eine Kanzler-Demokratie, was in den Tagen von Olaf Scholz in Vergessenheit gerät. Gute Kanzler von schlechten Kanzlern unterscheidet der Sinn fürs Timing, fürs Handeln im richtigen Augenblick. Wäre vorteilhaft, wenn er sich darauf besinnen könnte.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Dr. K., der die Macht so sehr liebt

Vor 100 Jahren, am 27. Mai 1923, wurde in Fürth ein Junge namens Heinz- Alfred Kissinger geboren. Vater Louis unterrichtete Erdkunde und Geschichte am Gymnasium. Die Mutter, Tochter aus wohlhabender Familie, erzog die Kinder Heinz und Walter. Später erinnert sich Henry, wie er sich in Amerika nennt, an eine große Bibliothek, in der er schmökerte, wenn er nicht Fußball spielte, was er mit Hingabe tat, als Torwart oder im Mittelfeld.

Im Jahr 1923 stand Deutschland im Bann von Revolution und Gegenrevolution, vom Zusammenbruch der alten Ordnung und der instabilen neuen. Kissinger war kapp 10, als die Nazis an die Macht gerufen wurden, und 15, als seine Familie emigrierte. Seine Vorliebe für Metternich und das systematische Ordnungsdenken erklären sich biographisch aus diesem frühem Leid. Ein starker, zivilisierter, demokratischer Staat erschien ihm unabdingbar, um die Gesellschaft an Exzessen zu hindern, wie er sie erfahren hatte.

Das Exil für die Familie war Amerika. Für den hochbegabten, blitzschnell studierenden Jungen war es wie eine Traumlandschaft, in der ihm mehr gelang, als er sich vorgenommen hatte. Als Jude in Harvard eine Professur zu bekommen, war in den 1950er Jahren eigentlich nicht vorgesehen. Aber Dr. K., wie sie ihn nannten, war brillant und zog junge begabte Menschen wie ein Magnet an. Um die Teilnahme an seinen internationalen Sommerseminaren rissen sich die zukünftigen Professoren und Chefredakteure aus ganz Europa.

Dr. K. war ein Star. Er wollte nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart verstehen. In der Gegenwart standen sich zwei nuklear hochgerüstete Supermächte feindlich gegenüber und so befaßte er sich mit der Philosophie der Abschreckung zur Vermeidung wechselseitiger Vernichtung. Auch in Helmut Schmidt, seinem späteren Freund, fand er einen begierigen Leser.

Henry Kissinger dachte nicht nur über die Geschichte nach. Ihn drängte es, auch Geschichte zu machen. Wie sich zeigte, liebte er die Macht. Macht war für ihn ein Aphrodisiakum – als Bonmot gemeint, kam es der Wahrheit sehr

nahe. Auch ein demokratischer Staat war zu Exzessen fähig und dafür lieferte Dr. Kissinger als Nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten Richard Nixon ein abschreckendes Beispiel.

Nixon kam 1968 an die Macht. Kissinger, der ihn gerade noch verachtet hatte, wurde sein wichtigster Mitarbeiter mit ungewöhnlichen Befugnissen. 1968 hätte es vielleicht die Möglichkeit gegeben, den Vietnam-Krieg zu beenden. Aber das Duo dachte sich eine erstaunliche Logik aus: Um einen ehrenhaften Frieden zu ermöglich, sollte der Krieg eskaliert werden – mit B-52-Bombern, die nordvietnamesische Dörfer auslöschten; mit Napalm, einer Brandwaffe mit dem Hauptbestandteil Benzin, das Menschen wie Fackeln brennen ließ; mit der Ausweitung des Krieges auf das neutrale Kambodscha, ein Bruch mit dem Völkerrecht.

58 000 US-Soldaten starben in diesem Krieg. 3 Millionen Vietnamesen, darunter 2 Millionen Zivilisten, starben. Und wofür? Im geschichtlichen Ringen der freien Welt mit dem Kommunismus, so sahen es Nixon und Kissinger. Ihn ihrer Paranoia trauten die beiden China und Russland, die hinter Nordvietnam standen, die Welteroberung zu. Was für ein gigantischer Irrtum: Vom ersten asymmetrischen Krieg verstand weder der kluge Professor noch der verklemmte Präsident auch nur das Geringste. Deshalb mutet es wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass Dr. K., der den Krieg barbarisch verschärft hatte, für dessen Beendigung den Friedensnobelpreis 1973 erhielt.

100 Jahre ist Dr. K. heute. Er hat sie alle überlebt, seine Gegner, seine Feinde, auch seine Verächter, die ihn zum Beispiel für den Tod Salvador Allendes in Chile 1973 verantwortlich machten. Er ist noch immer neugierig, er reist durch die Welt, er ist gefragt. Im Herbst kommt er nach Deutschland; seine Heimatstadt will ihn zum 100. ehren. Vor kurzem veröffentlichte er wieder einen dicken Wälzer, den er „Staatskunst“ betitelte. Darin beschreibt und beurteilt er die Großen seiner Zeit, von de Gaulle über Adenauer bis zu Lee Kuan Yew, den Begründer Singapurs.

Dem „Economist“ gab er gerade ein Interview, in dem er dafür plädiert, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Der Grund ist interessant, denn ihm geht es nicht um den Schutz vor dem Aggressor Russland, sondern um den Schutz Europas vor Zumutungen, weil dann nämlich die eingebundene Ukraine keine territorialen Forderungen an Russland erheben kann, zum Beispiel auf Reannexion der Krim. Aus Sicht Kissingers sollte die Ukraine nämlich freiwillig auf die Halbinsel verzichten, denn wenn sie es nicht tue, entstehe ein Gleichgewicht der Unzufriedenheit mit inhärenter Instabilität.

Da ist es wieder, das Metternichsche Ordnungsdenken, dem immer auch Macchiavelli innewohnt, für den Moral keine Kategorie war. Dieses Denken passt in unsere Gegenwart, in Europa, im Nahen Osten und in Asien. Und noch immer liebt Dr. K. die Macht, auf die es ankommt. Auf Einladungen ins Weiße Haus ist er wie eh und je erpicht, egal wer dort residiert, Obama oder Trump oder Biden.

Wer 100 Jahre alt ist, hinter dem liegt viel. Was er war und wo er irrte, verliert an Schärfe. Aber an dem großen Vergessen kann einer historischen Persönlichkeit wie Henry Kissinger nicht gelegen sein. Es nähme ihm die Größe.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Endlich wieder der BVB

Wenn es mit einigermaßen rechten Dingen zugehen sollte, wird der BVB heute deutscher Meister und die Südwand explodiert vor Freude und Hingabe. Ich war am Tag, als der BVB zum letzten Mal Erster wurde, im Stadion. Es war der 29. April 2012, drittletzter Spieltag, der Club (Nürnberg) war zu Gast, es stand schnell 2:0 und dann hörte das Spiel auf dem Rasen so gut wie auf. Alles lauschte nach Köln, wo Leverkusen spielte und verlor und damit war der BVB deutscher Meister. Robert Lewandowski, ein aufblühender Mittelstürmer. und Kevin Großkreutz, Klopps Allzweckwaffe schossen die Tore. Zur Erinnerung die Aufstellung: Weidenfeller/Pisczek/Subotić/Hummels/Schmelzer/Bender/Götze/Großkreutz/Gündogan/Kagawa/Lewandowski.

Heute also wieder ein Heimspiel und der Konkurrent spielt wieder in Köln. Ich hätte nichts dagegen, wenn die Spiele wieder so ausgingen wie vor 11 Jahren.

Mir geht es um etwas anderes. Heute sind die Bayern in der Krise, nicht alleine die Mannschaft, sondern der gesamte Verein, weil sie einen Trainer unter falschen Begründungen vom Hof gejagt haben und einen Trainer einstellten, der bald gemerkt hat: Huch, ich finde hier eine instabile Mannschaft vor, der es an Selbstbewusstsein, Moral und Kampfkraft mangelt. Thomas Tuchel ist der beste Beweis dafür, dass sich Brazzo und der Titan geirrt haben, als sie den Nagelsmann für die instabile Mannschaft verantwortlich machten und behaupteten, er hätte die Kabine verloren. Die Mannschaft ist das Problem gewesen und noch mehr zum Problem geworden, weil die Vereinsführung die Spieler überschätzte. Von wegen, bester Kader Europas! Ich hoffe, sie haben gesehen, wie ManCity Real im Rückspiel zerlegt hat. Das beste Spiel, das ich seit vielen Jahren gesehen habe.

Aus einem ähnlichen Grund blieb Borussia Dortmund jahrelang Stabilität versagt. Thomas Tuchel war ein junger, unbequemer Trainer. Er kam nach Klopp. Der BVB verlor vor Tuchels Amtsantritt die Achse Hummels/Gündogan/Mikhytarian. Einfach mal so, ohne adäquaten Ersatz. Dennoch schaffte der BVB nicht nur die Qualifikation für die Champions League, sondern wurde auch noch Pokalsieger. Nebenbei galt es, ein Attentat zu verkraften, was ja auch nicht so einfach ist. Die Mannschaft blieb unter diesem Trainer so intakt wie nur irgend möglich. Dennoch gefiel es Aki Watzke, den Trainer zu entlassen. Danach kamen Bosz/Stöger/Favre. Keine Stabilität im Verein. Die talentierte Mannschaft blieb unter ihrem Niveau, weshalb die Trainer gehen mussten. Dann durfte der junge Edin Terzić ran. Die Mannschaft qualifizierte sich für die Champions League und wurde Pokalsieger. Verdammt gut. Aber leider, leider hatte Aki Witzke längst schon Marco Rose verpflichtet.

Dass Tuchel inkompatibel mit Watzke war (geht ins Theater, spielt nicht Skat, ist einfach nicht Klopp), führte zu einem Fehler. Und Fehler in diesem Geschäft, in der die Psyche der Spieler mindestens so viel ausmacht wie die körperliche Ertüchtigung, haben Langzeitwirkung. Wäre Terzić nicht so ein grundtreuer und grundanständiger Trainer, hätte er eines der Angebote angenommen, die auf ihn eingeprasselt waren. So aber hatte Aki Watzke jemanden im Management, der den glücklosen Rose beerben konnte und wollte. Unverdientes Glück.

Terzić hat vieles richtig gemacht. Can (den ich nicht leiden kann, weil er gerne einen haarsträubenden Fehler pro Spiel macht) reaktiviert. Wolf zum Verteidiger gemacht. Einen meiner Lieblingsspieler, Guerrero, ins Mittelfeld gestellt. Adeyemi und Malen gestärkt. Haller Zeit gegeben. Reus zum Auswechselspieler überredet. Gute Trainer machen gute Spieler besser. Gute Trainer können eine Mannschaft zusammenstellen. Gute Trainer üben sich in Bescheidenheit.

Und gute Geschäftsführer wissen, wo sie warum geirrt haben.

Die Königin unserer Seelen

Die Königin ist tot. Lasst uns trauern und eine Scheibe auflegen oder eine CD reinschieben und dann tobt sie noch einmal über die Bühne, wie sie immer über die Bühne getobt ist, bis in ihr siebtes Lebensjahrzehnt hinein. Diese Explosion an Energie, diese kraftvolle Stimme, die wirbelnden Beine, die fliegenden Haare. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib. Sie gab immer alles und dafür liebte ihr Publikum sie bedingungslos.

Die Texte ihrer Lieder waren reines Leben, hartes Leben. „Private Dancer“ erzählt von einer Frau, die für Geld für geile Männer tanzt, die alle gleich aussehen und keinen Namen haben  – „du denkst an das Geld und du schaust die Wand an“, singt sie um Lakonik bemüht, aber eigentlich ist sie todtraurig. Auch „Proud Mary“ erzählt im Kern die Geschichte einer Frau, die miese Gelegenheitsjobs erledigt und erst die schönen Viertel der Stadt vom Fluss aus sieht, den sie im Dampfer herunterfährt.

Oder „Steamy Windows“: Angeschlagen sind die Fenster im Auto wegen der Körperhitze, die das Pärchen auf dem Rücksitz beim Sex erzeugt. Es ist, wie es ist, sie beschwert sich nicht. Der Mann, ihr Baby, hat kein Gesicht, keinen Namen. Nur seine Körperausdünstung ist erwähnenswert.

„Nice and easy“ ist in diesem Leben gar nichts, allenfalls „nice and rough“. Tina Turners Texte sind einem harten Leben abgerungen und natürlich singt sie Geschichten mit dem Erfahrungsschatz einer schwarzen Frau. 1939 ist sie in der Kleinstadt Brownsville geboren, im tiefsten Tennessee. Der Süden der Vereinigten Staaten vor 83 Jahren: Rassismus pur. Segregation in Schwarz und Weiß. Tina Turner war Mitte 20, als der Präsident, er hieß Lyndon B. Johnson, die Nationalgarde in den obstinaten Süden schickte, damit Frauen und Männer mit ihrer Hautfarbe in weiße Schulen gehen durften, im Bus nicht mehr hinten sitzen mussten usw.

Aus dieser bipolaren Welt rettete sie die Musik. Ein Mann namens Ike Turner hatte seit Jahren eine populäre Band und Anna Mae Bullock, das war Tinas Taufname, durfte zuerst Background singen und dann vorne am Mikrophon Leadsängerin sein. Aus zwei Autobiographien, die unter dem Namen Tina Turner erschienen, wissen wir zur Genüge über Ike Bescheid. Ein Schläger war er. Ein Tyrann.

Mit Ike & Tina Turner ist ein herrliches, bewegendes, aufwühlendes Lied untrennbar verbunden: River deep, mountain high. Die witzige Entstehungsgeschichte ist erzählenswert: Der Produzent Phil Specter, damals eine Größe in Los Angeles (und viele Jahre später als Mörder verurteilt) gab Ike 20 000 Doller, damit er dem Studio fern blieb. 5 Sitzungen brauchte es, 21 profilierte Studiomusiker machten mit, 21 Background-Sängerinnen halfen. Außerdem sprangen im Studio Dennis Hopper und Mick Jagger herum. Es wurde gemischt und gesampelt, bis einer der größten Songs der jüngeren Musikgeschichte auf Platte gepresst war.

Von da an ging es musikalisch bergauf mit Ike & Tina Turner. Sie wurden als Vorgruppe der Rolling Stones gebucht. Sie kamen in die Charts. Sie hatten Erfolg. Aber Tina war zu unglücklich, um den Triumph zu genießen. So unglücklich, dass sie 1976 die Steuerschulden des Gatten übernahm und sich scheiden ließ.

Nun war sie frei, 37 Jahre alt, hatte mehrere Kinder und musste wieder von ganz unten anfangen. Sie spielte vor wenigen Leuten in kleinen Klitschen. Ihre Alben verkauften sich schlecht. Andere wären daran zerbrochen. Frauen hatten es im Geschäft, das Männer beherrschten, ohnehin verdammt schwer. Tina Turner gab aber nicht auf. Und sie traf auf den Manager Roger Davies, der ihr Talent erkannte und aus ihr den umwerfenden Bühnenstar machte, die Königin unserer Seelen.

Erst einmal verschaffte ihr Davies Gastauftritte bei Tom Jones, Rod Stewart, David Bowie. Dann stand sie endlich auf ihrer eigenen Bühne. Knapp zehn Jahre hatte sie von unten nach ganz oben gebraucht. „What’s love got to do with it?“, singt sie jetzt, das Liebeslied einer Frau, die aus Erfahrung vorsichtig ist, denn „who needs a heart, when a heart can be broken“. Der Ton ist neu, die Geschichte ist anders, die Frau, von der Tina singt, denkt über die Liebe nach. Das Lied hat jetzt eine Metaebene. Tina Turner ist nun, eine Frau in ihren Vierzigern, auf dem Höhepunkt ihres Könnens.

Sie geht auf Touren. Füllt große Häuser, große Arenen. Sie geht ins Guiness’ Buch der Rekorde ein, als sie das Maracaña-Stadion in Rio mit 188 000 Zuschauern füllt. Fans hat sie weltweit. Ihre Platten und CD verkaufen sich. Sie trifft einen Mann, Erwin Bach aus Köln, Musikmanager ihrer Plattenfirma, 16 Jahre jünger, aber was soll’s.  In einer buddhistischen Zeremonie heiraten die beiden. Ein Musical über ihr Leben kommt heraus, von ihr autorisiert.

Sie lebt in der Schweiz, sie wird sogar Schweizerin. Aber die Krankheiten nehmen zu. Kurz nach der Hochzeit hat sie einen Schlaganfall. Sie ist nierenkrank; Erwin Bach lässt ihr seine Niere implantieren. An Auftritte ist nicht mehr zu denken.

Heute Abend ist sie gestorben. Wir denken an sie. An das Bühnengewitter! Die Alterslosigkeit! Ihre Stimme! An dieses Leben, das erst spät nicht mehr rough war. Sie bleibt die Königin aus Brownsville, eine große Kämpferin, vor der man sich nur verneigen kann.