Das Undenkbare denken

Jetzt haben wir den Salat. Was zu erwarten war, ist eingetreten. Vier Jahre Donald Trump, der mit seiner Mehrheit im Kongress durchregieren kann, stehen uns bevor. Zieht euch warm an.

Natürlich fragt man sich, wie sich Europa auf den Wiedergänger eingestellt hat. Nicht so richtig, oder? Und Deutschland? Unsere nervige Regierung könnte im Lauf des Tages oder der Nacht auseinander fallen. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Herren Scholz/Lindner/Habeck seit geraumer Zeit um sich kreisen, während sich draußen die Welt neu ordnet. 

Die Diskrepanz ist ein Grund dafür, ein Ende mit Schrecken dem endlosen Schrecken vorzuziehen. Die Ampel hat ihre Verdienste, die aber zurückliegen.  Sie ist ein Beleg dafür,, dass ein Land in Zeiten maximaler Unsicherheit keine unsichere Regierung braucht.

Man muss Friedrich Merz nicht mögen, aber die Union hat mit ihm als Kanzler eine Chance verdient. Der plötzlich nahe liegende Durchbruch zu einer neuen Regierung in Deutschland ist die erste Konsequenz der Wahl in Amerika.

Zum Opfer der zweiten Konsequenz wird die Ukraine werden. Die Unterstützung mit Waffen, Panzern, Raketen und Munition, die Trump systematisch reduzieren will, kann Europa nicht kompensieren. Damit sind wir bei der dritten Konsequenz, die uns ebenfalls betrifft.

Künftig wird die Nato mit weniger Amerika auskommen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen die Verteidigung Europas, womit vor allem Osteuropa gemeint ist, selber in die Hand nehmen.

Nicht zufällig gehörte Wladimir Putin zu den ersten Gratulanten, was Donald Trump sicherlich schmeichelt, weil er alles persönlich nimmt, das Gute wie das Schlechte. Russland bekommt nun freie Hand. Die enorme Aufrüstung, der sich Wladimir Putin widmet, lässt sich mit dem Krieg in der Ukraine nicht allein erklären. Da wird mehr vorbereitet, an der Flanke der Nato, zum Beispiel im Baltikum. Die schwächste Stelle an Europas Rand ist aber Moldau. Vielleicht beginnt die Wiedereroberung des Verlorenen, die Putin bedingungslos anstrebt, zuerst dort.

Eine Regierung Merz müsste nun ernst machen mit der Zeitenwende. Sie kann nicht genug am Wohlfahrtsstaat einsparen, um die Bundeswehr konsequent aufzurüsten. Wir werden vermutlich staunen, wie unversehens die Schuldenbremse ihren ideologischen Lindner-Gehalt verliert.

Die vierte Konsequenz aus Trumps-Wiederkehr lautet, dass nicht nur Deutschland, sondern Europa das Hoffnungsdenken Es-wird-schon-nicht so-schlimm-kommen hinter sich lässt. Das Friedensprojekt dürfte eine Wiederauferstehung erfahren. Frieden setzt die Bereitschaft zum Krieg voraus, das wussten schon die alten Römer.

Tatsächlich gibt es zwei Politiker, die unlängst für eine europäische Armee plädierten: der eine ist Emmanuel Macron, der andere erstaunlicherweise Viktor Orbán. Natürlich lassen sich Streitkräfte  aus vielen Ländern nicht blitzschnell aufstellen, aber etliche Ansätze dazu gibt es, die nun eben auch wirklich ausgeweitet werden sollten. Das dauert viele Jahre, wohl wahr, ist aber tatsächlich alternativlos.

Voraussetzung dafür ist das Überleben der Europäischen Union als Wirtschaftsmacht. In einer Zeit des um sich greifenden Protektionismus ist die Orientierung auf Export kein Vorteil. Trump dürfte den Handelskrieg mit China wiederaufnehmen und auf Europa ausdehnen. Die EU mischt ja kräftig mit, indem sie chinesische E-Autos, staatlich enorm subventioniert, mit Zöllen belegen will. 

Auf Dauer profitiert kein Land in der globalen Welt von ökonomischer Abschottung. Triumphe sind schal, das wird auch Trump erfahren. Am Ende ist vermutlich das staatlich gelenkte China am wenigsten verwundbar.

Die fünfte Konsequenz ist am heikelsten. Die Union hegt ja die Absicht, Kernkraftwerke zu reaktivieren. Zweifellos träumen auch einige Konservative und viele Rechte davon, dass Deutschland zur Atommacht aufsteigt. Diese Debatte hatte es schon in den 1950er Jahren gegeben. Damals wie heute war das Argument, wenn sich die USA von Europa abwenden sollten, gewährten am ehesten Atomwaffen unsere Unabhängigkeit. Aber trifft das Argument in unserer komplizierten Welt noch zu?

Zwei europäische Atommächte gibt es: Großbritannien und Frankreich. Nuklearwaffen sind eigentlich nicht dazu da, eingesetzt zu werden, weil nun einmal als zweiter stirbt, wer ballistische Raketen als erster abschießt. Atomwaffen sind politische Waffen zum Zweck der Gefahrenabwehr, so ging die Theorie bisher.

Umgekehrt ist es aber so, dass jedes atomar bewaffnete Land weiß, das andere atomar bewaffnete Land kann sie nicht einsetzen, auch wenn es einer Invasion ausgesetzt wird, weil eben die Folgen noch schrecklicher ausfallen. Was einmal galt, gilt heute nicht mehr. Die Drohung ist leer geworden.

Es gibt viel zu bedenken, auch neu zu bedenken, weil bald in Washington jemand regiert, der Amerika groß machen will. Die Logik ist, starke Männer machen, was sie wollen, in China, in Russland, in der Türkei usw. Und sie nehmen sich, was sie nehmen wollen. Nicht nur die Ukraine ist in seiner Existenz bedroht, auch Taiwan verliert seinen Rückhalt im Trump-Amerika.

Illusionen sind am heutigen Tag an vielen Orten der Welt zerstoben. Jetzt kommt es darauf an, die Konsequenzen aus der neuen geschichtlichen Lage zu ziehen, um die wir uns überlang gedrückt haben, in Deutschland, in Europa und anderen Weltgegenden. Ziehen wir uns warm an.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Anfall von Irrsinn 

In meinem Leben war Amerika früh da. Amerika waren die GIs, die in Hof auf Europas größter Radarstation in den Ostblock hinein lauschten. Amerika war der CIA-Agent, der in der Einliegerwöhnung unseres Haus wohnte und die Angewohnheit besaß, ein Glas Whiskey im Fonds seines Autos zu placieren, damit er auf der langen Fahrt von 7 Minuten nach Hause nicht verdurstete.

1975  war ich zum ersten Mal drüben. Aus Sioux City in Iowa, wo meine Freundin wohnte, fuhr ich mit dem Greyhound-Bus nach Denver, mietete einen Leihwagen, kurvte in die Rocky Mountains hoch und fuhr Ski auf diesem einmalig feinen Pulverschnee. Chicago ziehe ich bis heute New York vor. 

Amerika bedeutete Sicherheit in meinem Leben. Fünf Kilometer weiter östlich  geboren, wäre ich in der DDR aufgewachsen. Amerika war aber auch diese Weite, diese unfassbar eindrucksvolle Natur. Und als ich später Harvard besuchte, nahm ich mir vor, nach meiner Wiedergeburt in diesen heiligen Hallen bei den klügsten Professoren weltweit zu studieren.

Unser Fernsehapparat war noch nicht angeschlossen, als ich, drei Wochen zuvor als „Spiegel“-Korrespondent hereingeschneit, 9/11 erlebte und in dessen Gefolge einen Anfall von Hysterie, wie ihn sich nur Amerika so tiefenscharf gönnt. Einschränkung der Grundrechte. Jagd auf arabisch aussehende Amerikaner. Guantanamo.

In seiner Geschichte gab sich Amerika immer wieder Aufwallungen hin, die man auch als Sympathisant dieses Landes nicht begreift. Die Lynchjustiz des Ku-Klux-Clan bis tief in die 1960er Jahre hinein. Die Jagd auf Kommunisten, die selten welche waren, in den McCarthy-Jahren. Die fingierten Beweise, um Saddam Hussein aus einem Erdloch zu ziehen. Und jetzt Donald Trump.

Ich frage mich, wann diese bürgerkriegsbereite Spaltung Amerikas in zwei Lager eigentlich begann. Erste Anzeichen tauchten unter George W. Bush auf, der den Neokons freien Lauf ließ. Bei den Neokons ragten  Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney (dem ein richtig guter Film gewidmet ist) heraus. Sie waren aggressive Nationalisten, wollten autokratische Regime stürzen und die Welt demokratisieren. In Südkorea und auf den Philippinen gelang es ihnen damals, im Irak aber nicht, mit den bekannten Folgen für Syrien und den ganzen Nahen Osten.

Die entscheidende Wirkung erzielte dann Barack Obama. Die weiße Unterschicht drehte durch, weil ein schwarzer Präsident es wagte, zwei Wahlen zu gewinnen. Anstatt dass sich Amerika versöhnte, brach Amerika auseinander. Die Folge war der Überraschungssieg Donald Trumps im Jahr 2016. Die Folge seiner Hetzkampagnen war der 6. Januar 2021, der Sturm auf das Kapitol, ausgeführt von seinen glühendsten Anhängern, die sich unter anderem „Proud Boys“ nannten.

Morgen, am Dienstag, entscheidet Amerika darüber, ob es sich dem Anfall von Wahnsinn weiterhin hingeben will oder die Reißleine zieht. Biegt das Land um wie damals bei McCarthy, der vier Jahre Narrenfreiheit bekommen hatte? Oder dreht das weiße Amerika die Uhr zurück und kehrt die Verhältnisse um? Und was bricht aus, falls Kamal Harris hauchdünn gewinnen sollte und Trump die „Proud Boys“ und die anderen rechten bewaffneten Gruppen zur Korrektur der Wahl aufruft?

Die Gründung Amerikas am 4. Juli 1776 ist bald 250 Jahre her. Kein anderes Land hat die Welt mehr bereichert. Ohne Amerika wären beide Weltkriege im 20. Jahrhundert anders ausgegangen. Nichts ist mit diesem riesigen Land an kulturellem und politischem Einfluss geschichtlich vergleichbar. Groß gehandelt hat es und groß geirrt. Es gibt jede Menge Gründe, Amerika zu hassen. Die Gründe, es zu bewundern, haben abgenommen.

Natürlich wäre es mir lieber, Kamala Harris würde Präsidentin. Denn mein Amerika wäre nicht mehr mein Amerika, wenn es kommt, wie es zu kommen scheint und Donald Trump an die Schaltstellen der Supermacht zurückkehrt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Faschist oder Frau

Wenn Amerika wählt, schaut die ganze Welt gebannt zu. Dieses Land ist eben nach wie vor eine Weltmacht sondergleichen, an der das Schicksal der Ukraine genauso hängt wie das Israels und natürlich möchte auch Europa seinen Schutzherren nicht verlieren. 

Kulturell besitzt Amerika sowieso hegemonialen Einfluss. 100 000 Chinesen studieren an den Elite-Universitäten der Ost- und Westküste. Naturwissenschaftliche Nobelpreise sind praktisch amerikanisches Monopol. Die digitalen Riesenkonzerne sind das Symbol technischer Überlegenheit, die dieses Land seit dem Zweiten Weltkrieg innehat.

Noch in den entlegensten nepalesischen Dörfern finden Touristen Coca Cola vor. Die Sportschuhe von Nike sind noch immer Kult und die Basketballspiele der NBA übertragen asiatische Fernsehanstalten ebenso selbstverständlich wie die Footballspiele der NFL. Diese Aufzählung könnte beliebig fortgesetzt werden.

240 Millionen Amerikaner dürfen am 5. November ihren 60. Präsidenten wählen. Aus europäischer Sicht eine Riesendemokratie, aus chinesischer Sicht eine Puppenstube. Ihre Funktion als Vorbild für wirtschaftlich und politisch aufstrebende Staaten haben die USA allerdings eingebüßt. Da war bei der Projektion der Macht in diversen Weltgegenden zu viel Doppelmoral im Spiel und, schlimmer noch, waren zu viele Fehleinschätzungen zu besichtigen, zum Beispiel seit 9/11 im Irak, in Afghanistan, in Syrien, in Libyen, in Ägypten.

Worauf es diesmal ankommt, liegt auf der Hand. Da ist Donald Trump, der Diktatoren liebt und selber gerne ein Diktator wäre. Wer ernsthaft das Militär gegen seine inneren Feinde einsetzen will und ebenso ernsthaft in Aussicht stellt, dass seine Anhänger nur noch einmal zur Wahl gehen müssten, denn dann werde er das System „in Ordnung bringen“, muss sich auch Faschist nennen lassen. Dieser ultimative Vorwurf stammt von einem General, John Kelly, der Trumps Stabschef in der ersten Amtszeit gewesen war. Der Chef hatte ihm in seiner Wut an den Kopf geworfen, er wünsche sich Generäle, wie sie Hitler umgeben hätten.

Natürlich wehrte sich Donald Trump nicht gegen die Stigmatisierung als Faschisten, sondern erklärte General Kelly für degeneriert und einen Schwachkopf. Das ist sein Prinzip: Nie ins Sachliche ausweichen, immer volle Kanne Offensive mit Beleidigungen und Beschimpfungen – Stärke zeigen. Dafür liebt ihn ungefähr die Hälfte Amerikas. Erstaunlich, aber wahr.

Kamala Harris griff Kellys Charakterisierung dankbar auf. Sie hatte ihre beste Phase, als sie Trump eher verwundert als schräg, als seltsam bezeichnete. Nebenbei bricht sie alle Rekorde im Spendensammeln – eine Milliarde Dollar in kurzer Zeit. In den letzten Wahlkampfwochen beschränkt sie sich auf den Alarmismus vom Ende der Demokratie, der mit Trump heraufziehen würde. Es ist gekommen, wie es kommen musste: Ihr Argument, sie zu wählen, ist Trump.

Somit steht der Mann im Zentrum, der es gar nicht aushält, nicht im Zentrum zu stehen. Ich oder der Untergang Amerikas, das ist seine Botschaft. Ich oder der Untergang Amerikas, das ist auch ihre Botschaft.

Die Demoskopen rätseln jetzt, was oder wer die Wahl entscheiden wird. Die illegale Einwanderung über die mexikanische Grenze – vielleicht. Abtreibung – möglich. Die Ukraine? Israel und die Palästinenser? Oder alles irgendwie zusammen?

Auf wen es womöglich ankommt: Auf die Frauen. Auf die Afroamerikaner. Auf die Latinos. Auf das ultrareiche Amerika in Gestalt von Elon Musk und Wall Street. Oder auf alle zusammen.

Aus der Vogelperspektive betrachtet fällt ein anderes Gesetz der Serie auf. In der Abfolge der Präsidenten ergibt sich über die Jahrzehnte ein Muster. Nicht besonders elaboriert, aber gerade deshalb überzeugend.

Das Gesetz lautet so: Der nächste Präsident muss sich diametral vom Amtsinhaber unterscheiden. Auf den ältlichen General Dwight D. Eisenhower folgte 1961 der jugendliche John F. Kennedy. Auf den diabolischen Richard Nixon folgte 1977 der fromme Jimmy Carter. Auf ihn folgte 1981 der charismatisch-lässige Ronald Reagan mit dem untrüglichem Gespür für Paradigmenwechsel.

Nach Vater Bush zog 1993 Bill Clinton ins Weiße Haus ein, virtuos in der Machtausübung und mit freihändiger Moral. Nach George W. Bush, schlicht und umgeben von Zynikern der Macht, kam 2007 Barack Obama – charismatisch, skandalfrei und übervorsichtig. Er wiederum machte den Weg 2016  frei für Donald Trump, das nun wirklich absolute weiße Antidot zum ersten schwarzen Präsidenten.

Weil mir dieses Gesetz aufgefallen war, schrieb ich im Mai 2016 auf „SpiegelOnline“ einen Artikel, in dem ich Trump zum Sieger ausrief, ein halbes Jahr vor der Wahl. Und diesmal?

Ja, Trump ist der maximale Kontrast zu Joe Biden, dem erfahrenen, arglosen Präsidenten. Und Kamala Harris wäre wie Hillary Clinton vor acht Jahren die Verlängerung des Amtsinhabers mit filigranen Veränderungen, die nicht ins Gewicht fallen.

Trifft das Gesetz der Serie noch zu, dann bekommt Donald Trump eine zweite Gelegenheit, Amerika nach seinem Willen und seinen Vorstellungen zu verändern – als Diktator, als Faschist.

Das Gesetz muss schon außer Kraft gesetzt worden sein, damit Kamala Harris ins Weiße Haus einziehen kann – als erste Frau.

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Kompromisse? Was für Schwächlinge

Eigentlich ist es ja aller Erfahrung nach so, dass sich Kriege erschöpfen. Sie lassen entweder aus Einsicht in die Notwendigkeit nach, weil genug getötet und gestorben worden ist. Oder das Waffenarsenal und der Nachwuchs an Soldaten schrumpfen, so dass die Moral sinkt und im Weiterkämpfen kein Sinn mehr liegt. Auf diesen toten Punkt könnte der Krieg in der Ukraine zusteuern.

Der Nahe Osten ist anders. Dort gibt es Aufstände und Konflikte seit 100 Jahren und die Zeitspanne ohne Attentate, ohne Krieg, ohne Sterben ist gering. Deshalb muss man sich trotz der jüngsten israelischen Triumphe keinen Illusionen hingeben, dass der Friedensplan, den Joe Biden schon vor Monaten vorgelegt hatte, auch nur den Hauch einer Chance auf Umsetzung besitzt.

Im Gegenteil ist es offenbar so, dass Israel die Gelegenheit zur Vernichtung ihrer Feinde sieht, was man ihm nicht einmal verdenken kann. Wer lässt schon dauerhaft die Hisbollah im Norden Raketen abschießen und die Hamas im Süden Mörser abfeuern und den 7. Oktober wiederholen. 

Das ist nun einmal die Logik in dieser Weltgegend. Bring so viele Menschen um, wie nur irgend geht. Lass deine Rache größer sein als das Leid, das du erfahren hast. Nutz die Schwäche deiner Feinde maximal aus. Erbarmungslosigkeit ist die Tugend der Starken. Kompromisse gehen nur Schwächlinge ein.

Friedensbemühungen? Lange her, fast 30 Jahre lang, als Jitzak Rabin noch lebte. Was widerfuhr ihm? Er wurde im November 1995 umgebracht – von einem rechtsextremistischen Juden, der den Ministerpräsidenten für einen Verräter hielt, da er für Ausgleich mit den Palästinensern eingetreten war. Einige der Minister im heutigen Kabinett Netanyahu denken genauso wie der Rabin-Mörder.

Der Krieg geht weiter, immer weiter. Der Geodaten-Geheimdienst der USA wertet Bilder und Informationen aus, die Satelliten sammeln. Sie weisen darauf hin, dass Israel Vorbereitungen für einen Anschlag auf Iran trifft. Sie sollten, versteht sich, ein Geheimnis bleiben, kursieren dennoch und vielleicht ist die Verbreitung sogar politisch gewünscht. Denn die Warnungen, die der amerikanische Präsident vor einem Krieg mit Iran ausstößt, stoßen ja bei Benjamin Netanyahu eher auf taube Ohren.

Nach diesen Geheimdienst-Informationen übt die israelische Luftwaffe den Ernstfall. Die Frage scheint nur noch zu sein, wann wie und wo sie zuschlagen wird. Von Premier Netanyahu weiß man, weil er es oft genug wissen ließ, dass er die Urananreicherungs-Anlagen und Forschungsstätten für das iranische Atomprogramm im Visier hat. Sie sind allerdings über das Land verteilt und in gesicherten unterirdischen Anlagen versteckt.

Ein leichteres militärisches Ziel sind die Häfen mit ihren Öl-Terminals. Sie in Brand zu stecken, würde die ohnehin fragile Wirtschaft schädigen und deshalb vielleicht sogar Unruhen im Land auslösen. Israel träumt von einem Regimewechsel in Teheran und arbeitet darauf hin.

Eine dritte Möglichkeit sind Attentate auf Politiker und Geistliche. Das Undenkbare ist denkbar, wie man seit den Morden an Atomwissenschaftlern und auch an Hamas-Führer Ismail Hanija mitten in Teheran weiß.

Bisher ist ein Krieg gegen Iran nur eine nahe liegende Option. Dagegen ist der Zweifrontenkrieg im Gaza und im Libanon Wirklichkeit.

Die Hisbollah versuchte gerade einen Anschlag auf das Privathaus der Familie Netanyahu, die allerdings nicht daheim war.  Im nördlichen Gaza hat die israelische Armee die Stadt Jaballija umzingelt und bombardiert. Angeblich hatten sich Hamas-Kämpfer dort reorganisiert. 20 000 Menschen sind auf der Flucht und man muss sich fragen, wohin sie in dieser Trümmerwüste noch fliehen sollen. 

Irgendwo dort in den Ruinen oder Tunneln sind auch die Geiseln, seit mehr als einem Jahr. Auf ihre Befreiung hoffen die Familien, die noch immer regelmäßig in Tel Aviv auf die Straße gehen, mit wachsender Verzweiflung. Sind ihre Kinder, Frauen, Männer, Großväter überhaupt noch am Leben und wenn ja, wie viele? Oder haben ihre Bewacher an ihnen Rache geübt, als ihre Ikone Jaja Sinwar gestorben war? Und warum unternimmt die Regierung Netanyahu eigentlich keine Anstrengung für einen Austausch?

Momentan finden keinerlei Verhandlungen über die Geiseln statt. Die Vermittler am Golf und in Ägypten erachten die Wiederaufnahme für zwecklos. Israel fühlt sich zu stark für Zugeständnisse. Die Hamas fühlt sich zu schwach für Zugeständnisse. 

Natürlich wäre es human, den Biden-Plan umzusetzen, die Geiseln freizulassen und an den Wiederaufbau im Gaza zu gehen, was ja unter den herrschenden Bedingungen ohne die Hamas möglich wäre. Aber auf Humanität ist hier nicht zu hoffen und somit bekommt die Hamas so gut wie eine Garantie zum Überleben.

Denn sie war schon einmal in einer ähnlichen Krise, damals in den 1990er Jahren und wieder zehn Jahre später, als fast ihre gesamte Führung entweder umgebracht worden war oder in israelischen Gefängnissen steckte. Dort saß auch jaja Sinwar viele Jahre lang ein und geht nun als Märtyrer und Mastermind des 7. Oktober 2023 in die arabischen Geschichtsbücher ein.

Gut möglich also, dass sich dieser schreckliche Krieg noch ausweitet. Und für die nächsten Kriege wächst die nächste Generation heute schon heran. 

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Die Besserwisser-Keule

Die Lage ist verdammt unübersichtlich, darüber könnten sich schon mal alle Parteien einig sein. Gerade deshalb üben sie sich im Anlegen von Brandmauern, mal nach rechts, mal nach links – oder was sie für links halten.

Markus Söder, der angeblich fein damit ist, dass er nicht die Nummer 1 der Union sein darf, brandmauert neuerdings gegen Grün. Natürlich nicht aus Überzeugung, denn was ist schon Überzeugung mehr als Selbstüberredung zum hurtigen Meinungswechsel, wenn sich der Wind dreht.

Die Grünen sind für ihn des Teufels, weil sie links-ideologische Überzeugungen vertreten. Und weil es tatsächlich zwei CDU-Hanseln gibt, den Hendrik (Wüst) im Westen und den Daniel (Günther) im Norden, die es noch immer wagen, mit den Grünen zu regieren, muss der fränkische Bayer ihnen heimleuchten, dass ihnen das Denken im großen Ganzen ganz einfach abgeht, das  wiederum ihn, dem Markus, so ungemein auszeichnet.

Es ist immer wieder interessant, wen sich Söder als neues Feindbild erwählt. Er hätte ja auch gegen die beiden anderen CDU-Ministerpräsidenten Michael (Kretschmer) und Mario (Voigt) stänkern können, die in einem gemeinsamen FAZ-Artikel mit  SPD-Dietmar (Woidke) für mehr Diplomatie und Frieden in der Ukraine plädieren. Natürlich aus tiefster Überzeugung – um Sahra Wagenknecht gefällig zu sein, mit der sie regieren müssen. 

Die Grünen stehen im Dauerregen. Gegen sie zu sein, ist momentan leicht. Markus Söder macht es sich gerne leicht. Also schwingt er sich auf zum apokalyptischen Vorreiter gegen eine Koalition im Bund. Vielleicht entfällt ihm aber auch bald wieder die Überzeugung von heute, sobald sich der Wind dreht, wovon man eigentlich ausgehen sollte. Bis dahin tut er eben so, als hätte er die Deutungshoheit über Weltinnen- wie Weltaußenpolitik, die für ihn identisch ist mit CDU/CSU, versteht sich.

Was sich in den drei ostdeutschen Ländern ereignet (oder vielleicht auch nicht), ist ein heißes Eisen und deshalb erst mal Friedrich Merz überlassen. Läuft es schief, hat es Markus Söder mit seinem weiten Horizont immer schon besser gewusst, darauf können wir uns verlassen. Auch so sieht sie aus, die Solidarität unter Demokraten.

In Sachsens CDU kursiert ein Brief, in dem Honoratioren von gestern dazu auffordern, die AfD nicht weiterhin auszugrenzen. Der Meinung kann man sein und ist man nicht nur dort. Nur hat Michael Kretschmer Zusammenarbeit mit der AfD genauso ausgeschlossen wie Kohabitation mit der Linken und auch eine Minderheitsregierung hat er gebrandmauert. Der Mach-ich-nicht-Will-ich-nicht Rundumschlag brachte Kretschmer den knappen Vorsprung vor der AfD ein, hat sich folglich bewährt und wird in dieser Unübersichtlichkeit gegen Renegaten, und davon gibt es ja nicht wenige, verschärft verteidigt.

Da macht sich Kretschmer lieber abhängig vom BSW und lässt sich auf außenpolitische Lippenbekenntnisse ein, welche die Landespolitik übersteigen, aber egal. Sahra Wagenknecht will es so und bekommt es eben so.

In Thüringen ist man schon weiter. Dort haben CDU und BSW gemeinsam einen Covid-Untersuchungsausschuss einberufen. Worin seine Wahrheitsfindung bestehen soll, ist unklar, aber darauf kommt es auch nicht an, oder?

In Thüringen muss es geben, was es in Sachsen nicht geben darf: eine Minderheitsregierung. CDU, SPD und BSW bringen es auf exakt die Hälfte aller Stimmen im Landtag: 44. Also muss sich Mario Voigt eine Mehrheit suchen, wo er sie nicht suchen darf, und hat dabei die freie Wahl zwischen der Linken und der AFD.

Zum Glück gibt es den überaus pragmatischen Bodo Ramelow, ehemals linker Ministerpräsident, dem es zuzutrauen wäre, dass er aus sachlichen Erwägungen wie ein Neutrum mit der Regierung stimmen wird. Aber auch die AfD wird es sich nicht nehmen lassen, die Koalition dann und wann durch Ja-Sagen in Verlegenheit zu stürzen. Für permanente Aufregung ist in Thüringen jetzt schon gesorgt.

Ist das dann noch eine Brandmauer oder kann das weg, dank der Lex Ramelow? Und wie tief hängt sich Friedrich Merz überhaupt in den drei ostdeutschen Ländern rein? Theoretisch können Brandmauern wegen neuer Umstände geschliffen werden. Oder man ignoriert sie aus übergeordneten Gesichtspunkten. Aber ignoriert Markus Söder dann mit oder holt er wieder die Besserwisser-Keule heraus?

Hübsch kompliziert ist auch die Lage in Brandenburg. Dort hat sich das Landesparlament noch nicht konstituiert. Wer regieren muss, ist unumstritten: SPD und BSW. Den ersten Kotau hat Dietmar Woidke mit dem FAZ-Artikel schon geleistet, den Sahra Wagenknecht klug und differenziert fand, so ein Zufall.

Trotzdem verhält sich der weiterhin amtierende Ministerpräsident sperrig, weil er sich nicht Vorschriften von der unumschränkt herrschenden Namensgeberin des BSW gefallen lassen möchte. Ziemlich widersprüchlich, aber na ja, wir müssen uns alle an undankbare Umstände gewöhnen.

Die Anpassung mag sich hinziehen, dann verliert sie womöglich sogar ihren Schrecken. Aber auch die nächsten Aufwallungen werden in Ostdeutschland ganz bestimmt nicht ausbleiben. Der fränkische Bayer, der sich fürs große Ganze zuständig fühlt wie sonst niemand, wird sie autoritativ kommentieren, soviel ist sicher.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Friede ihren Seelen

Die „Einheit 200“ war dazu da, das überreichliche Material aus den Überwachungskameras und Abhöranlagen im Gaza zu sichten, zu sortieren und zu bewerten. Von ihrer Aufmerksamkeit und Hellsicht hing einiges ab, das wusste jeder im israelischen Geheimdienst.

Am 23. Juli 2023, also weit vor dem Massaker, schrieb eine Unteroffizierin eine Zusammenfassung über das Gehörte und Gesehene. Darin erwähnte sie, dass einiges auf Vorbereitungen für eine Invasion hindeute. Als Beleg für ein sinistres Vorhaben diente ihr auch der verschärfte Ton der Predigten in den Moscheen im Gaza: Man solle in Israel „maximales Leid verursachen, Grauen verbreiten und die Moral der Juden brechen“.

Am 19. September, da waren es noch 18 Tage bis zum Massaker, lag ein weiterer Rapport vor, aus dem hervorging, dass offenbar eine Invasion geplant sei. Darin stand sogar, dass 200 bis 250 Geiseln in den Gaza verschleppt werden sollten.

Es waren junge Soldatinnen, die zu deuten wussten, was die Hamas bezweckte. Es waren ihre Vorgesetzten, die ihrem Urteil nicht vertrauten, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Sie kollaborierten in der Ignoranz mit der Regierung Netanyahu, die auf das Westjordanland fixiert war. So konnte sich entfalten, wovor die jungen Frauen vergeblich gewarnt hatten.

Die Mörder der Hamas kamen mit Feldküchen zur Verpflegung. Ihre Kommandeure hielten sie dazu an, Kugeln nicht zu verschwenden. Sie töteten Babys, kastrierten Männer, vergewaltigten Frauen und zündeten auf dem Nova-Festival Autos an, so dass die jungen Menschen, die sich im Kofferraum versteckt hatten, bei lebendigem Leib verbrannten. Die Bestatter empfahlen den Hinterbliebenen, mit den Toten die Autos zu begraben, weil nur so die mit dem Stahl verschmolzenen Seelen ihren Frieden finden könnten. 

Angeblich fanden sich Unterlagen in den unterirdischen Tunneln, wonach die Hamas darauf hoffen durfte, dass Iran militärisch eingreifen würde, wenn die israelische Armee, wie gewünscht, Gaza bombardieren und besetzen würde. Denn die Hamas zielte auf einen großen Krieg, der Israel endlich nach so vielen vergeblichen Versuchen in die Knie zwingen würde.

Ein Jahr danach ist die Region dem großen Krieg tatsächlich so nahe wie selten zuvor. Nur bleiben die iranischen Revolutionsgarden wie eh und je im Hintergrund und schicken Hisbollah und Houthi-Rebellen nach vorn. Die militärische Initiative liegt beim gedemütigten Israel und nicht bei den Todesbeschwörern in Teheran. Von dort kommen sogar einige Signale, die für geringes Interesse an einem Big Bang sprechen.

Denn militärisch ist Israel zu stark für die Mullahs, vor allem mit der Unterstützung der USA, die nicht zufällig noch mehr Flugzeugträger und Kriegsschiffe in diese Weltgegend schickt. Die beiden Raketenangriffe im Ende April und Anfang Oktober kamen mit Ansage und ließen sich mit vereinten Kräften abfangen.

Gut möglich also, dass Israel gestärkt und Iran geschwächt aus diesem explosiven Konflikt hervorgeht, der am 7. Oktober 2023 mit einer Blutorgie und der Geiselnahme begann. So sieht es momentan aus, muss es aber nicht bleiben.

Für die Hamas ging Iran nicht ins Feuer. Für die Hisbollah schon eher, weil sie ihr verlängerte Arm im Libanon, im Irak und in Syrien ist. Aber mit der Ermordung der Kommandeure samt des geistlichen Führers Hassan Nasrallah in wenigen Tagen zeigte Israel eine verblüffende Kenntnis des geheimsten Inneren der Miliz. Von diesem gewaltigen Schock müssen sich Hisbollah und Iran erst einmal erholen.

Israel steht jetzt in einem Zweifrontenkrieg. Gaza ist allerdings zum Nebenkriegsschauplatz geraten. Niemand weiß vermutlich genau, wie viele Geiseln irgendwo im Labyrinth noch leben. Für die Regierung Netanyahu besaß ihre Befreiung höchstens kurzfristig Priorität; nunmehr gar keine mehr. Diese Schande wird noch über sie kommen.

Wie so oft verstrickt sich die israelische Armee im Libanon. Wie 1982. Wie 2002. Wie 2006. Vielleicht gelingt es ihr sogar, die Hisbollah bleibend zu schwächen. Vielleicht gelingt es ihr am Ende, die 30-Kilometer-Zone bis zum Litani-Fluss als dauerhafte Pufferzone zu etablieren, so dass der Norden Israels ruhiger leben kann. Und dann?

Wahrscheinlich sind Syrien und der Irak sogar ganz froh darum, wenn die Hisbollah und damit Iran an Einfluss verliert. In beiden Ländern haben sie ihre Schuldigkeit getan, meint man dort, und könnten gehen. Auch im Libanon soll es viele Christen, Drusen, Maroniten und sicherlich auch Moslems geben, die wenig vom Todeskult der Hisbollah halten. Aber Freunde Israels sind sie deshalb noch lange nicht. Und wie die ethnisch-religiösen Kräfte in Beirut einst austariert werden sollten, kann niemand genau sagen.

Amerika ist nicht mehr die starke Ordnungsmacht, die Einfluss auf den gesamten Nahen Osten nehmen kann. Saudi-Arabien hat eigentlich den Geltungs- und Gestaltungsdrang für Größeres, bleibt aber auch gerne im Hintergrund und erfreut sich an der Schwächung Irans. Ägypten könnte am ehesten, gemeinsam mit der Uno, vielleicht auch mit China, zu einem Libanon-Gipfel einladen.

Aber bevor man an eine Neuordnung der Region ernsthaft denken kann, muss zuerst einmal Waffenruhe herrschen. Und die hängt von Israel ab.

Der große Unsicherheitsfaktor ein Jahr danach ist Benjamin Netanyahu. Er schwimmt auf einer Woge des Erfolgs. Ihm liegt daran, mit seinen elektronischen Scoops die Schmach und die Schande vom 7. Oktober zu vergessen. Und die Gunst der Stunde, auf die er schon lange wartete, könnte ihm zum Angriff auf Iran verleiten.

Der amerikanische Präsident zieht vorsorglich rote Linien: kein Angriff auf Ölraffinerien, keiner auf die Energieversorgung, geschweige denn die Atomanlage in Natanz. Überhaupt kein israelischer Angriff!

Nun weiß man ja aus einiger Erfahrung, wie Benjamin Netanyahu solche Ratschläge behandelt. Zur Kenntnis nehmen. Mit Schweigen bedenken. Nicht ganz ignorieren, aber weitgehend. Zur Tagesordnung übergehen. Und was ist seine Tagesordnung?

Man verliert ja das Vertrauen in die List der Vernunft, die gerade aus grauenvollen Kriegen etwas Sinnvolles hervorbringen kann. Man darf sie aber nicht ganz verlieren, da so vielen Menschen an so vielen Orten in dieser geschundenen Region sonst noch mehr Grauen und Elend bevorsteht.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Netanyahu gegen den Rest der Welt

Amerikanische Kriegsschiffe halfen dabei, die anfliegenden1 800 iranischen Raketen abzuschießen. Außerdem sind drei Lenkwaffenzerstörer in der Region und noch ein Flugzeugträger ist auf dem Weg dorthin. Insgesamt 40 000 US-Soldaten sind über den Nahen Osten verteilt, von Irak bis Kuweit.

Die Weltmacht befindet sich einer undankbaren Doppelrolle. Sie garantiert, einerseits die Existenz des Staates Israel, der sich von Feinden umzingelt sieht, und erhöht die militärische Präsenz in der Gegend. Sie vermag, andererseits, so gut wie keinen Einfluss auf Benjamin Netanyahu auszuüben. Waffenstillstand und Geiselaustausch in Gaza: abgelehnt. Warnung vor Bodenoffensive in Gaza: abgetan. Warnung vor Bodenoffensive im Libanon: Nebbich! 

Israel gegen den Rest der Welt. Netanyahus historischer Auftritt vor der Uno bestand aus einer Suada der Verachtung für diese Institution, gegen die sich viel sagen lässt, außer dass es nichts Besseres gibt. Wer nicht für Israel eintritt, verfällt seinem Bannspruch wie Antonio Guteress, der Uno-Generalsekretär, der nun nicht mehr ins Land einreisen darf. Wer ist der oder die nächste?

Benjamin Netanyahu ist der Inbegriff der Maßlosigkeit. Wir gegen sie, Gut gegen Böse: Seinem Denken haftet etwas Archaisches an. Kritik verbietet er sich in negativen Superlativen. Der Scoop mit den präparierten Pagern und Walkie Talkies und der Mord an Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bestätigen ihm, dass Israel in der Region beispiellos überlegen ist und keine Verbündeten braucht. Sie bemühen sich ja freiwillig um Ausgleich mit Israel wie Saudi-Arabien oder Katar. Und sie beteiligen sich sogar am Abfangen der iranischen Raketen wie Jordanien.

Netanyahu hat die Eskalationsdominanz im Nahen Osten. In den Geschichtsbüchern wird später einmal stehen, dass ihm dieses Massaker vor ziemlich genau einem Jahr nach und nach die Gelegenheit bot, nicht nur die Hamas, sondern auch die Hisbollah entscheidend zu schwächen. Immer schon traute man ihm auch einen Schlag gegen Iran zu und er redete oft genug davon, dass Israel den Iran mit allen Mittel daran hindern müsste, Atommacht zu werden. Jetzt sagte er, Iran werde einen hohen Preis für den Raketenangriff zahlen. Welchen?

Iran ist offenbar nicht mehr weit davon entfernt, genügend waffenfähiges Plutonium für eine Atombombe zu entwickeln. Aber selbst wenn spaltbares Material im rechten Maß vorhanden sein sollte, dauert es eine gewisse Zeit, eine nukleare Waffe zu bauen, um so mehr für eine kleine. Hilfe bekommt Iran von Freunden wie Russland, Nordkorea oder China. Alles scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Iran soweit ist.

Das Uran wird in einer unterirdischen Anlage in Natanz angereichert, im trockenen Landesinneren, 225 Kilometer südöstlich Teherans. Natanz wäre das bevorzugte Ziel im Fall der Fälle, genauso wie das Nukleartechnische Zentrum in Isfahan. Kann man sich aber vorstellen, dass Israel entsprechende Waffen besitzt, um zum Beispiel Bunker zu sprengen? Muss man sich sogar vorstellen, nach der Erfahrung der letzten Tage.

Draußen in der Welt wird Netanyahu als kriegslüstern wahrgenommen, als ein Mann, für den Ausgleich, Frieden oder Diplomatie keine Kategorien darstellen. Draußen in der Welt wird Netanyahu als ein inhumaner Politiker kritisiert, der 120 Geiseln preisgibt, weil sein höheres Gut die Befreiung von Feinden in Gaza und im Libanon bleibt.

Drinnen in Israel sieht es anders aus. Der Erfolg spricht für Netanyahu und deshalb steht wohl noch immer eine größere Mehrheit hinter ihm. Sie findet es richtig, die arabischen Bauern aus dem Westjordanland zu vertreiben. Auch findet es sie richtig, dass die Hamas zerschlagen wird, so dass der Raketenbeschuss in den Süden Israels aufhört. Sie findet es sowieso richtig, dass die Hisbollah dezimiert wird, dank der Findigkeit des Mossad.

Invasionen sind allerdings immer ein unkalkulierbares Risiko mit hohem Blutzoll. Und der Libanon ist seit dem Bürgerkrieg in den siebziger Jahren, als das komplizierte Gebilde mit seiner Machtteilung für Maroniten und Drusen, Muslime und Christen dahinsiechte. Nur deshalb konnte die schiitische Hisbollah in kurzer Zeit mit iranischer Begleitung zum entscheidenden Machtfaktor im Libanon aufsteigen.

Was aber wird aus diesem Land nach einer Bodenoffensive und, nehmen wir mal an, ohne Hisbollah? Gut möglich, dass die von Netanyahu geschmähte Uno stärker in Spiel kommen müsste.

Krieg ist immer einfach. Aber was kommt danach? Großzügige Sieger sorgen dafür, dass die Demütigung für den Verlierer nicht zu tief reicht, weil ja sonst die Saat für den nächsten Krieg gelegt wird. Umsichtige Kriegsherren verfügen über einen Plan, wie die neue Ordnung danach gestaltet werden kann.

Weder Benjamin Netanyahu noch das von ihm geprägte Israel geben Anlass zu Hoffnung, dass sie den Grundstein für einen anderen, einen weniger kriegsgeplagten Nahen Osten legen wollen. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Die Krise frisst ihre Kinder

Ein paar Nachrichten aus Deutschland in den letzten Tagen: Die Wirtschaft wird im Jahr 2024 erneut schrumpfen. Eine Rezession von 0,1 Prozent ist nicht die Welt, aber in einem Land, dem das Selbstvertrauen abhanden kommt, das unruhig, sogar unberechenbar wirkt und müde der Veränderungslast, fällt vieles ins Gewicht, was unter besseren Umständen abgeschüttelt würde.

Anderen Ländern ergeht es ökonomisch besser, zum Beispiel Frankreich und den USA, auch China. Dort wächst die Wirtschaft. Man könnte hoffen, dass es sich bei uns um einen vorübergehenden Effekt handelt, aber wir ahnen, dass die Gründe tiefer liegen könnten.

Weiter: Erheblich weniger deutsche Autos gehen in den Export. Der Optimismus wegen der E-Autos ist aus vielerlei Gründen verflogen. Dazu denkt VW daran, die seit 30 Jahre bestehende Beschäftigungssicherung aufzuheben, so dass 30 000 Jobs gefährdet sind. Bayer hat sich mit dem Glyphosat-Konzern Monsanto verhoben. BASF sitzt auf einem Schuldenberg bei sinkendem Eigenkapital.

Dellen in der Konjunktur, national begründet oder international, gehören zum Kapitalismus. Volkswirtschaften wandeln sich und dabei entstehen Gefälle in Industrie und Unternehmen – die einen kommen mit, die anderen hinken hinterher. Wenn allerdings ein Exportland wie Deutschland an der Modernisierung, Stichwort Digitalisierung, nicht rechtzeitig teilnimmt, können Verwerfungen von Dauer entstehen. Wenn zu viele Big Player kränkeln und ganze Branchen, wie die Chemie, unter hohen Energiepreisen stöhnen, wird es bitter. 

In solchen serienartigen Krisen richtet sich der Blick auf die Bundesregierung. Überhaupt ist die Überschätzung der Möglichkeiten von Politik in Deutschland besonders ausgeprägt. Die Regierung, auch nicht die Ampel, ist jedoch weder für goldene Zeiten noch für bleierne Zeiten ursächlich zuständig. Zuerst kommt die Ökonomie, dann die Politik, so ist das nun mal in marktwirtschaftlichen Demokratien. 

Was daraus folgt hat die CDU schon unter Konrad Adenauer verstanden: Wir bauen den Sozialstaat auf, aber in Maßen; ansonsten geben wir der Wirtschaft, was sie braucht. Die FDP ist, vor allem heute, eine CDU in Schrumpfausgabe: Die Schuldenbremse ist unantastbar,  Steuererleichterungen für die Wirtschaft und freie Fahrt für schnelle Bürger.

Dass die Grünen in ihrer DNA mit der SPD zwillingshaft verbunden sind, erweist sich am Verhältnis zum Staat. Anders gesagt, befanden sich beide Parteien in ihrem Element, als Pandemie und Ukraine-Invasion die Schleusen öffnete. Der Staat alimentierte ins Trudeln geratene Firmen und Unternehmen, steuerte die Energieversorgung um und half, wo er musste. Die Gegensätze zur FDP wirkten sich erst destruktiv aus, als das Bundesverfassungsgericht die Schleusen schloss. Seitdem ging nichts mehr und das Ansehen der Regierung rauschte in den Keller.

Ökonomie ist nicht alles, aber ohne Ökonomie ist alles nichts. Ökonomie verschärft auch kulturelle Konflikte wie den über Migration und Asyl. Auf diesem Feld entwickelte die Ampel urplötzlich Betriebsamkeit, weil sie den wachsenden Unmut der wählenden Bürger vernahm. War ja auch überfällig und wird ihr deshalb nicht gutgeschrieben. Diese Identitätskrise fiele ohne ökonomische Krise womöglich weniger toxisch aus.

Was tun? Ändert sich ernsthaft etwas, wenn die FDP die Regierung sprengt? Sie hätte es längst getan, wenn sie sich davon etwas versprechen dürfte. Ändert sich etwas, wenn Boris Pistorius Kanzler wird? Die Stimmung ja, aber nicht die SPD, zerrissen wie sie ist. Und wer glaubt schon, dass in der Ampel unter einem neuen Kanzler plötzlich Harmonie ausbricht?

Dazu kommt, dass die Grünen noch schwächer werden, wenn es kommt, wie es zu kommen scheint. Aller Voraussicht nach sind sie jetzt dran mit der Abspaltung. Kann gut sein, dass die ausgetretenen jungen Grünen eine linksökologische, antikapitalistische Partei gründen. Dass man mit solchen Start Ups Erfolg haben kann, hat das BSW vorgemacht. Und natürlich auch die AfD, die als Fleisch vom Fleisch der CDU begann. Nur die FDP ist vor Halbierung gefeit, ausgedünnt wie sie ist.

Die CDU sollte sich diese Bedingungen sehr gut anschauen, ehe sie die Wahl gewinnt, wovon man ausgehen kann. Wäre ja schön, wenn die Erleichterung nicht nur einen Wimpernschlag lang anhielte, weil das Trio Scholz/Lindner/Habeck abgelöst worden ist. Aber diese Doppelkrise aus Ökonomie und Migration ist nun einmal tückisch und kann auch eine neue Regierung unter Friedrich Merz leicht auffressen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Im Zweifrontenkrieg

Anwohner in Beirut und anderen libanesischen Städten erhielten heute morgen Textbotschaften auf ihren Handys, in denen sie aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen. Im Büro des libanesischen Informationsministers ging ein Anruf ein, das Gebäude solle sofort geräumt werden. Auf diese Weise warnte die israelische Luftwaffe vor neuen massiven Angriffe, die sie seit Tagen auf ausgesuchte Ziele fliegt.

Die Regierung Netanyahu weitet den Krieg auf eine zweite Front aus. Denn die Einsätze im Gaza und auch im Westjordanland gegen die Hamas gehen ja weiter. Was seit dem 7. Oktober 2023 zu befürchten war, tritt jetzt ein – die Ausweitung eines Konfliktes, der die ganze Region ins Chaos stürzen kann.

Allerdings entwickelt sich die Ausdehnung des Krieges anders, als die Experten in Europa und Amerika angenommen hatten. Die Initiative liegt nicht bei der schiitischen Hisbollah, sondern bei Israel. Netanyahu geht damit ein enormes Risiko ein. Denn Zweifrontenkriege gehen selten gut aus. Die Überdehnung der Armee mit entsprechenden Rückschlägen ist fast immer die zwangsläufige Folge. Israel besitzt zwar eine starke Armee, ist aber dennoch ein kleines Land.

Die Hisbollah, geschwächt durch das Eliminieren fast ihrer gesamten Führung, verfügt schätzungsweise über 100 000 Raketen unterschiedlicher Reichweite. Mehrere davon schlugen gestern in Haifa ein, der Hafenstadt, die nur 50 Kilometer hinter der Grenze zum Libanon liegt. Fliegen zu viele Raketen zur selben Zeit über die Grenze, ist auch der viel gepriesenen Iron Dome machtlos.

Die große Frage ist nun, wie sich Iran verhalten wird. Es sind schon einige Wochen vergangen, seit mitten in Teheran Ismail Haniyeh, der politische Führer der Hamas, getötet wurde. Niemand bezweifelte, dass der israelische Geheimdienst für den Mordanschlag verantwortlich war. Die Führung um den greisen Ali Chamenei kündigte sofort martialisch wie immer härteste Vergeltung an, die jedoch bislang ausgeblieben ist. Um Mäßigung könnte der amerikanische Präsident Joe Biden angehalten haben.

Und nun? Wer könnte noch mäßigen? Wer will es überhaupt?

Eine Ordnungsmacht entfällt, seitdem Netanyahu es gefiel, den amerikanischen Präsidenten hinzuhalten, um ihn schließlich ganz zu ignorieren. Xi Jinping versuchte anfangs sehr vorsichtig, als Vermittler ins Spiel zu kommen. Unter den neuen Umständen wird sich China aber fürs Erste zurückziehen. Und europäische Länder wie Deutschland oder Frankreich bemühen sich redlich um Einfluss, der jedoch keinem von beiden Ländern zugestanden wird, weder in Israel noch in Iran.

Wenn es kommt, wie es im Nahen Osten immer kommt, dann wird die Hisbollah mit neuer Führung in nächster Zeit Stärke demonstrieren. Hochgerüstet ist sie. Iran kann sie unschwer mit noch weiter reichenden Waffen versorgen, die nicht nur im Norden Israels einschlagen, sondern in Haifa oder sogar in Tel Aviv.

Iran sah bisher davon ab, aus dem Hintergrund in den Vordergrund zu treten. Die Hamas gaben die Mullahs dran, jedenfalls schien ihnen der Gaza eher ein unvermeidliches Opfer zu sein. Anders liegt der Fall bei der Hisbollah, die ein verlängerter Arm der Revolutionsgarden ist und auch im Bürgerkrieg in Syrien eine wichtige Rolle einnahm. Die Enthauptung der Hisbollah und der Verlust Libanons könnte die rote Linie sein, die Iran zur Verteidigung seiner regionalen Hegemonie in den Krieg hineinzieht.

Die Logik im Nahen Osten lautet ja: Hass gebiert noch mehr Hass. Rache ruft noch mehr Rache hervor. Massaker folgt auf noch größere Massaker. Tod folgt auf Tod.

Zwei große traurige Verlierer gibt es jetzt schon kraft der Ausweitung des Krieges. So gut wie verloren sind  die israelischen Geiseln in den Labyrinthen des Gaza. An ihnen, es sind wohl noch 120, kann sich die Hamas rächen und damit Israel demütigen. Dass sie zum Töten der Geiseln ohne weiteres imstande ist, hat sie schon unter Beweis gestellt.

Der zweite Verlierer ist Amerika. Joe Biden scheiterte mit seiner Doppelstrategie, einerseits Israels Existenz zu garantieren und andererseits enormen Druck auf Netanyahu aufzubauen. Sein Plan sah einen Waffenstillstand vor, dem die Freilassung der Geiseln folgen sollte, woraufhin der Krieg geendet hätte, damit der Wiederaufbau beginnen konnte. Das ausgefeilte Vorhaben starb mit der Explosion der Pager.

Interessant wird sein, wie Benjamin Netanyahu in die Geschichte Eingang findet. Als unerschrockener, eigensinniger Held, der zwei Feinde Israels entscheidend schwächte und deren Mentor in die Schranken wies? Oder als Mann mit größtmöglicher Hybris, der aus Eigennutz Kriege ausweitete, die Israel an den Abgrund führten?

Momentan steht Israel wieder als der Tausendsassa dar, der vieles vermag, was Araber wie Palästinenser wie auch der Rest der Welt ihm nicht zugetraut hätte. Die Explosion von Pager und Walkie Talkies ist die eigentliche Rache für das Massaker am 7. Oktober. Die Führung der Hisbollah steht nun so dilettantisch da, wie Armee und Geheimdienst Israel damals. Dazu kommt dann noch ein zerstörtes Gebäude in Beirut, in dessen Trümmern mehrere Kommandeure der Hisbollah umkamen.

Heute erscheint Israel stark und entschlossen. Und morgen? Frieden ist so fern wie der Mond. Der Ausweitung des Krieges könnte die neuerliche Ausweitung des Krieges folgen. Es geht weiter, immer weiter. Wer kein Herz aus Stein hat, möchte daran verzweifeln.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Vergiftetes Lob

Um mal mit etwas Positivem anzufangen: Weil er in meiner Heimatstadt Hof mit zwei Macheten etliche Soldaten der Bundeswehr niedermetzeln wollte, ist ein 27jähriger Syrer festgenommen worden. Der Hinweis kam „aus dessen Umfeld“, so heißt es.

Mit ein bisschen Wirklichkeitssinn lässt sich festhalten, dass es schon öfter gut gegangen ist, als sich im öffentliche Bewusstsein niederschlug. Meist sind es ausländische Geheimdienste, die einen Tip geben. Manchmal verdankt es sich der Aufmerksamkeit der Polizei, wenn ein Attentat verhindert wird. Oder aber, wie in Hof, fällt einem Bekanntem oder Landsmann auf, dass da jemand Menschen umbringen will.

Aber natürlich sind es die Anschläge von Solingen, Mannheim oder München, die fragen lassen, was schief läuft und wie man Nachahmer abhalten kann. Und vor allem muss und soll etwas geschehen, damit die AfD, die mit jedem Messer-Mord noch mehr aufblüht, nicht weiter davon profitieren kann.

Ab heute lässt die Bundesregierung sämtliche Landesgrenzen kontrollieren. Damit will sie, die „irreguläre Migration weiter zurückdrängen, Schleuser stoppen, Kriminellen das Handwerk legen, Islamisten erkennen und aufhalten“, wie Innenministerin Nancy Faeser ziemlich markig sagt. Viel verlangt sie auf einmal und nach aller Erfahrung zu viel. 

Die Falle besteht darin, dass die Innenministerin (wie auch CDU-Chef Friedrich Merz) Migration und Terrorismus nicht auseinanderhält. Für die Eindämmung des Terrorismus, den einzelne Migranten ausüben, wäre es zum Beispiel sinnvoll, endliche eine europäische Gefährder-Datei einzurichten. Den Migranten, die über Österreich oder Polen einreisen, kann ja kein Bundespolizist ansehen, ob sie sich hierzulande radikalisieren werden oder sogar dem Auftrag des IS folgen, so viele Menschen wie möglich umzubringen. Aber einschlägig Bekannte, die eine Datei erfasst hat, lassen sich abfangen.

Von heute an werden auch die Grenzen zu Frankreich, Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg kontrolliert. An den Übergängen zu Österreich, Tschechien, die Schweiz und Polen wird schon untersucht, wer da kommt. Das schöne Schengen-Abkommen, wonach freier Reiseverkehr in der Europäischen Union herrschen darf, ist für sechs Monate außer kraft gesetzt.

Das Echo klingt nicht amüsiert. Polen legt Protest ein, Griechenland auch. Österreich will sich weigern, abgewiesene Migranten zurückzunehmen, auch wenn sie dort registriert worden waren. In Österreich ist in zwei Wochen Wahl, die FPÖ liegt bei 30 Prozent und ruft Ungarn als leuchtendes Beispiel aus. Denn Ungarn registriert Asylbewerber nicht, sondern weist sie entweder ab oder schickt sie einfach durch. Viktor Orbán, der Ministerpräsident, schickte übrigens ein vergiftetes Lob nach Berlin: „Jetzt ist Deutschland aufgewacht.“

Auch Friedrich Merz schwebt das ungarische Beispiel vor, auch wenn er sich nicht darauf beruft. Er verlangt ja nach blanker Zurückweisung von Migranten an der Grenze, womit dann auch Deutschland gegen das Dublin-Abkommen verstieße, das zur Aufnahme von Asylbewerbern verpflichtet. Die auch nicht mehr zimperliche Bundesregierung ist dagegen, weil sie sich ungern vom Europäischen Gerichtshof verurteilen ließe oder finanzielle Strafen verhängt sähe. Ungarn übrigens ist mit 200 Millionen Euro wegen seiner systematischen Zurückweisung sanktioniert worden.

Der große Irrtum des Kampfes gegen irreguläre Migration besteht aber darin, dass er sich innerhalb der EU gewinnen lässt. Wenn sie aber erst einmal in Italien, Griechenland oder Polen angekommen sind, fragt sich nur noch, welches Land sie aufnehmen muss. Nach der Dublin-Vereinbarung liegt die Verantwortung bei dem Land, in dem sie eintreffen. Aber weder Italien noch Polen oder Österreich oder Griechenland hindern Geflüchtete daran, weiter nach Deutschland zu ziehen. 300 000 waren es im Jahr 2023.

Deutschland wiederum wollte im vergangenen Jahr rund 75 000 Migranten in ihr europäisches Erstland zurückschicken. Nur 5 000 bekam sie los. Den übergroßen Rest wollte kein anderes Land zurück haben. In Wahrheit ist das Dublin-Abkommen tot.

Jedes europäische Land treibt nationale Migrations-Politik. Jedes Land achtet darauf, dass es möglichst stabil bleibt. Deshalb ist Migrations-Politik in Wirklichkeit Anti-Migrations-Politik. Dänemark macht keinen Hehl daraus, dass ihm Abschreckung vorgeht. Die Niederlande sind dabei, dem Beispiel zu folgen. Österreich dürfte es auch so halten, sobald die FPÖ die Wahl gewinnt.

Wenn Deutschland wirklich will, dass die Zahl der Migranten dramatisch sinkt, dann sollte die Bundesregierung zugeben, dass diese Demokratie nicht mehr so liberal ausfallen kann wie bisher. Sie könnte mit Fug und Recht argumentieren, dass Stabilität unter den Umständen wichtiger ist. Und sie müsste in Brüssel dafür sorgen, dass nicht jeder seins macht, sondern die europäischen Außengrenzen geschlossen werden, anstatt der nationalen. 

Das deutsche Abkommen mit der Türkei ist wahrlich kein Ruhmesblatt. Außerdem gibt es Migrations-Vereinbarungen mit Mauretanien und Ägypten, Marokko und Sudan. Das sind amoralische Deals, was denn sonst.

Deutschland war bislang, kraft seiner Geschichte, weniger dazu geneigt, entschieden restriktive Migrations-Politik zu betreiben. Diese Haltung ändert sich gerade. Die interimistische Schließung der Grenzen ist, so gesehen, sogar ein großer Schritt. Doch eine effektive Politik im Umgang mit diesem wahrlich komplexen Problem sieht anders aus. In Europa muss die Bundesregierung für  kollektives Handeln eintreten.

Der Gradmesser für die politische Wirksamkeit der neuen Maßnahmen ist die Wahl in Brandenburg am kommenden Sonntag. Brandenburg gehört der SPD – bisher. Liegt die AfD diesmal vorne, wäre das die nächste Abrissbirne für die SPD und ihren Kanzler.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.