„Russland stellt sich neu auf“

t-online: Herr General, Sie sind Kommandeur des multinationalen Korps in Stettin. Wie ist es aufgebaut und welchen Zweck hat es?

Sandrart: Das ist ein Nato-Hauptquartier in Stettin, das mit dem Beitritt Polens 1999 aus Deutschland dorthin verlegt wurde. Es war ein Signal an die neuen Mitgliedsländer der Nato, dass sie nicht nur formelle Mitglieder sind, sondern auch geografische Präsenz haben. Im September feiern wir das 25jährige Jubiläum unseres Nato-Hauptquartiers. 

Was ist der Zweck? 

Der Auftrag hat sich über die 25 Jahre parallel zur Entwicklung der Nato entfaltet. Anfangs war es die Absicht, die neuen Mitglieder an das Bündnis heranzuführen, von ihnen zu lernen und sich aneinander zu gewöhnen. Es ging dann über in die Teilnahme des Korps an friedenserhaltenden und friedensschaffenden Missionen, zum Beispiel in Afghanistan oder auf dem Balkan. So war das Hauptquartier auch zweimal  in Afghanistan eingesetzt, wo wir bedauerlicherweise einen polnischen und einen dänischen Offizier in einem Sprengstoffanschlag verloren.

Dann geriet Russland in den Fokus.

Ja, Mitte 2014 sind wir zur Bündnisverteidigung übergegangen. Denn drei Tage, nachdem die Olympischen Spiele in Sotschi geendet hatten, nahm Russland mit militärischer Gewalt die Krim ein. Das Hauptquartier bekam damals den Auftrag, die Verantwortung für die Verteidigung im Raum zwischen Narva in Estland und Nordostpolen zu übernehmen, Lettland und Litauen natürlich eingeschlossen. Daran hat sich seither nichts geändert.

Ich nehme an, dass Englisch die Umgangssprache ist. 

Das Hauptquartier in Stettin umfasst 22 Nationen. Englisch ist unsere Arbeitssprache. 

Wie viele solcher Korps hat die Nato? 

Sie verfügt derzeit über zehn solcher Hauptquartiere auf der Landdomäne. In der Regel sind sie multinational aufgestellt und der Nato-Force zugeordnet, Nato-Force ist die operative und taktische Ebene des Bündnisses. Finanziert werden die Hauptquartiere durch die Länder, die daran teilnehmen. Es gibt zum Beispiel ein englisch geführtes Korps in England, ein spanisch geführtes in Valencia und ein griechisch geführtes in Thessaloniki. Durch die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands wird voraussichtlich ein neues Korps mit neuem Hauptquartier entstehen.

Ist es überhaupt denkbar, dass die Bundeswehr einen Krieg alleine führt, ohne die Nato?

Das schließe ich für mich aus. Ich in seit 1982 Soldat und die unumstößliche Erkenntnis galt für mich schon immer: Keiner kann es alleine, wir können es nur gemeinsam. Es geht nur an der Seite der Bündnispartner, nur im Rahmen der Allianz. 

Die Nato verfügt über 3,39 Millionen Soldatinnen und Soldaten, eine gewaltige Zahl. Wie viele davon stehen, realistisch betrachtet, im Ernstfall zur Verfügung? 

Grundsätzlich gilt, dass jeder Soldat, der aktiv im Dienst steht, einsatzbereit sein soll. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass jeder Soldat für die Bündnisverteidigung sofort zur Verfügung steht, weil der Auftrag der Nato ja deutlich mehr umfasst als nur Bündnisverteidigung und auch weil die geografische Dislozierung unterschiedlich ist. 

Welche Rolle kommt der Bundeswehr in den in der Nato zu? 

Ich muss dazu ein bisschen ausholen. Ich bin als Sohn eines Soldaten aufgewachsen…

… Ihr Vater war Inspekteur des Heeres und später Oberbefehlshaber Europa Mitte. 

Mein Vater definierte Deutschlands nationales Sicherheitsinteresse als effektive, wahrhaftige Einbindung in die Nato und die Europäische Union. Für uns ist die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses von großer Bedeutung. Klug beraten sind wir darüberhinaus, wenn Deutschland als neutraler Anwalt kleinerer Partnernationen auftritt. In Zentraleuropa gehören wir zu den größten Beitragsländern und deshalb erwartet man von uns auch diese neutrale Führungsrolle Und da müssen wir deutlich besser werden. Wir warten noch zu sehr ab, was andere machen. Wir sind also eher im Verwaltungsmodus als im Gestaltungsmodus. 

In den vergangenen Monaten gab es ja jede Menge Großmanöver unter deutscher Beteiligung, zum Beispiel in Alaska oder in den baltischen Staaten. Was haben Sie daraus gelernt und welche Konsequenzen müssen Sie ziehen? 

Solche Manöver haben im Wesentlichen zwei Botschaften. Die eine richtet sich an Russland. Sie lautet: Wir stehen zusammen, wir sind einsatzbereit, wir sind überlegen, wir sind fähig und wir sind willens. Die zweite Botschaft richtet sich nach innen und soll Stärken und Schwächen eines Planes identifizieren. Das erreichen wir nur über  intelligentes Zusammenwirken von Planen, Ausbilden und Üben.

Sie rechnen in nicht allzu langer Zeit mit einem Angriff Putins auf den Nato-Raum. In welcher Zeitspanne spielen sich Ihre Szenarien ab?

Ich rechne derzeit nicht mit einem Angriff Russlands auf die Nato. Ich halte es für unwahrscheinlich, aber nicht für ausgeschlossen. Russland ist derzeit mit der Masse seiner Kräfte in seinem unrechtmäßigen Krieg gegen die Ukraine gebunden. Trotzdem hat Russland schon mit dem Prozess begonnen, sich neu aufzustellen. Es erhöht die Investitionen in die Streitkräfte, auch als Antwort auf den Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato.

Fakt ist aber auch, dass die Nato über die letzten drei Jahrzehnte Investitionen auf friedenserhaltende Missionen fokussiert hatte. Nun müssen wir uns rasch auf Landesverteidigung zurückbesinnen. Jetzt ist die Frage: Wer ist schneller?

Und: Wer ist schneller?

Der Vorteil Russlands liegt in der Tatsache begründet, dass es Putin viel einfacher fällt, Masse zusammenzubringen. Das führt im Endeffekt dazu, dass für Russland jetzt eine günstige Gelegenheit besteht, die Nato anzugreifen. Denn Putin weiß ganz genau, dass sich dieses „Window of Opportunity“ schließen wird, sobald die Nato erst einmal Fahrt aufgenommen hat. Deswegen bewerten zum Beispiel Länder wie Estland, Lettland und Litauen die nächsten 24 Monate als die risikoreichste Zeit. Denn wir brauchen ungefähr zwei Jahre, um uns zu konstituieren.

Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Wir bilden im Frieden aus, damit unsere Soldatinnen und Soldaten so erfolgreich und so überlebensfähig im Gefecht sind wie möglich. Russland hingegen bildet für den Krieg in der Ukraine momentan zum Beispiel 1000 Soldaten innerhalb von zwei Wochen aus und schickt sie ins Feuer. 600 davon fallen in den ersten Tagen, aber 400 überleben gehärtet und gestählt. Das ist die russische menschenverachtende Methode. Der Rückschluss für uns muss lauten: Wir sind gut beraten, diese Vorbereitung zu beschleunigen. 

Generalinspekteur Carsten Breuer spricht von 5 bis 8 Jahren, bis zu einem Angriff auf Nato-Raum. Ab 1929 müsste die Nato abwehrbereit sein.Teilen Sie diese Einschätzung? 

Nur insoweit, als bis dahin unsere Rekonstitution abgeschlossen sein muss. Denn eines ist nun einmal Fakt: Egal in welchem Zustand wir sind, müssen wir mit dem, was wir haben, einsatzbereit sein – heute, morgen und übermorgen. Denn die Bedrohung gibt es jetzt und darauf müssen wir antworten. Deswegen empfehle ich dringend damit aufzuhören, dass wir uns wegen unserer Defizite geißeln. Wir können unseren Männern und Frauen vertrauen, dass sie auch mit dem, was sie jetzt haben, einsatzbereit sind. 

Lassen Sie uns über die Lage in der Ukraine sprechen. Ist jetzt auch die russische Offensive gescheitert? 

Ich bin kein Fachmann für die Ukraine. Selbstverständlich verfolgen wir das Geschehen sehr genau. Ich sehe mehrere bestimmende Kraftfelder. Da ist die westliche oder proukrainische Allianz, daneben gibt es aber auch eine prorussische Allianz aus China, Nordkorea und Iran. Dann das Schlachtfeld selbst. Jedes dieser Kraftfelder kann durch Veränderung Einfluss auf die Entwicklung nehmen. Momentan scheinen sie so stabil zu sein, dass ich keinen schnellen Wandel erwarte. Ich denke, wir müssen uns darauf einstellen, dass dieser Krieg uns noch eine Weile fordern wird. 

Sollte Donald Trump wieder Präsident werden, dürfte das Kraftfeld Amerika, also die proukrainischen Kräfte, geschwächt werden. Steht und fällt die Ukraine mit Amerika?

Zunächst einmal stelle ich fest, dass Russlands Stärke unsere Schwäche ist. Das Dilemma, das wir mit der Wahl Trumps haben könnten, ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass wir aus seinen ersten Amtszeit im Weißen Haus nicht genug gelernt haben. Europa bleibt sicherlich auf das transatlantische Bündnis angewiesen. Aber es wäre zu einfach zu sagen, dass Europa nicht aus sich heraus die Stärke entwickeln könnte, um ein geringeres Engagement Amerikas zu kompensieren. Darauf sollten wir unseren Ehrgeiz richten, da künftig noch mehr amerikanische Ressourcen im Pazifik gebunden sein werden. Wir müssen unbedingt verhindern, dass unsere Schwäche Russland stärkt. Jede Investition, die jetzt nicht läuft, jeder Verteidigungshaushalt, der unter den Zielgrößen bleibt, schwächt uns zusätzlich. Diesen Wettlauf mit der Zeit nicht zu gewinnen erhöht unser Risiko. 

Natürlich hat der Ukraine-Krieg auch Deutschland verändert. Haben Sie den Eindruck, die Zeitenwende ist stecken geblieben – 100 Milliarden und das war’s dann?

Kommt es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland, wird die Entscheidung an Land fallen. Entsprechend sollte die Investitionen auf Landstreitkräfte ausgerichtet sein. Das spiegelt sich aber in den Zuordnung der 100 Milliarden Euro und auch im Verteidigungshaushalt nicht wider. Am Ende wird Deutschland daran gemessen, ob es zwei oder drei Divisionen voll ausgestattet bereitstellen kann oder nicht. Braucht die Bundeswehr sechs Fregatten oder eine Division? Wir brauchen eine Division. Braucht sie Flieger? Ja, denn wir müssen über Luftverteidigung reden, über Flugabwehr, über Raketenabwehr. Ich meine, von den 100 Milliarden sollten 70 Milliarden ins deutsche Heer gehen, Munition eingeschlossen. Und der Rest hätte in die unterstellten Streitkräfte gehen können. Am Ende fragt die Nato, wie gesagt,  nicht nach Schiffen, sondern nach deutschen Divisionen.

Die 100 Milliarden, um mit dem Kanzler zu sprechen, waren der große Wumms. Dann aber hat er diskussionslos die Wiederaufnahme der Wehrpflicht gestrichen. Wie denken Sie darüber? 

Unser Minister, den ich sehr schätze, hat überhaupt erst wieder die Themen Kriegsfähigkeit und Wehrpflicht in die politische Debatte eingeführt. Ich persönlich halte es für notwendig und überfällig, dass wir die Wehrpflicht zu einem Dienst an der Gesellschaft in strukturierter Form für 12 bis 18 Monate entwickeln. Darunter fällt dann die Bundeswehr, aber auch das Gesundheitswesen und der Sozialbereich, etwa die Feuerwehr. Gute Modelle lassen sich in anderen Nationen studieren. In Estland, Lettland, Litauen und Polen, aber auch Schweden und Finnland steht völlig außer Frage, auch bei der Jugend, dass es selbstverständlich ist, dass man seinen Staat trägt und unterstützt.

Die Wehrpflicht wäre allerdings eine echte Herausforderung für die Bundeswehr. Sie hat nur noch 250 Kasernen – 2011 waren es noch 750 gewesen. Damals wurden auch die Kreiswehrersatzämter abgeschafft. Deshalb müsste zuerst eine neue teure Logistik aufgebaut werden. Das muss man wollen.

Ja, das stimmt. Ich habe gerade das Schreiben des Finanzministers an den Bundesminister der Verteidigung gelesen, warum das alles momentan nicht geht. Ich bin entsetzt, dass wir Sicherheit mit einer schwarzen Null definieren. Darin liegt eigentlich eine Verarmung des menschlichen Verstandes. Sicherheit muss uns wichtiger sein als eine numerische Zahl.

Natürlich hat die Bundeswehr im Moment nur begrenzte Fähigkeiten, parallel zu den anderen Aufträgen wieder zu einer Ausbildungsorganisation zu werden, die notwendig ist, um Wehrpflichtige aufzunehmen. Aber wir könnten ja mit kleinen Zahlen anfangen. Ich bin  seit 42 Jahren Soldat, war Bataillons, Brigade- und Divisionskommandeur und bin mir aus Erfahrung sicher: Wir können Wehrpflichtige ausbilden und integrieren. Wie andere Länder auch, fangen wir klein an und bauen darauf auf. Das ist ein ganz normaler Prozess. 

181 000 Soldaten und Soldatinnen hat die Bundeswehr heute. Wie viele sollten es sein? 

Auch hier plädiere ich dafür, nicht numerisch zu argumentieren, sondern in Fähigkeiten. Wenn das, was wir haben, so ausgestattet ist, dass es im Frieden wie im Krieg handlungsfähig ist, wäre schon viel gewonnen. Das hat für mich Priorität, bevor ich über Wachstum nachdenke. 

Boris Pistorius schlägt ersatzweise einen Auswahlwehrdienst vor. Was halten Sie davon? 

Die Idee ist an Schweden und Finnland angelehnt. Ich halte alles, was uns wieder an die Gesellschaft heranführt und junge Männer und Frauen erfasst, für einen Fortschritt. Es ist sicherlich weniger als erwartet, aber mehr als dieser Dienst ist unter den herrschenden Bedingungen nicht zu erreichen.

Momentan ist es ja so, dass der Verteidigungsminister auf einem eigenen Planeten unterwegs ist und weder  in seiner eigenen Partei noch in der Regierung ausreichende Unterstützung findet. Was sagt dieser Umstand über die gesellschaftliche Lage aus, in der sich die Bundeswehr bewegt?

Dazu möchte ich den estnischen General Martin Herem zitieren, der in einem Interview sagte: Wo Sie Rauch sehen, sehe ich Feuer. Viele Politiker in der Blase Berlin hegen noch immer die Hoffnung, dass die Rauchschwaden ausgetreten werden, weil sie kein Feuer sehen. Diese Fehleinschätzung muss unser Minister bedauerlicherweise derzeit ausbaden. Deswegen müssen wir den gesellschaftlichen Diskurs dringend intensivieren, um die Relevanz des Feuers in der Ukraine für unsere Sicherheit zu verdeutlichen, ohne Angst zu schüren.

Lassen Sie uns auch über Sie persönlich reden. Als ich Sie in Stettin besucht habe, trugen Sie Camouflage und ein Halstuch dazu. Dahinter steckt eine Geschichte. Würden Sie sie bitte erzählen? 

Das Halstuch wirkte für mich als Talisman. Das war im Norden Afghanistans am 28. Mai 2011, als wir in einen Hinterhalt in Taloqan gerieten. Elf Soldaten starben, darunter zwei Deutsche. Dieses Halstuch bewahrte mich vor Schrapnellen. Zum Überleben gehörte noch mehr als dieses beige Halstuch, das ich aber seit diesem traurigen Tag trage. 

Afghanistan war der längste und größte Einsatz im Bündnis unter Beteiligung der Bundeswehr. Sie haben dort gedient. 59 deutsche Soldaten starben. Welche Bedeutung hatte Afghanistan für die Bundeswehr? 

Ich erinnere mich sehr positiv an diesen Einsatz. Ich denke, dass es richtig war, sich dort zu engagieren. Ich denke auch, dass wir viel erreicht haben. Ich durfte ein multinationales Thema aus acht Nationen führen und wir haben die afghanischen Streitkräfte in 25 Operationen im eigenen Land begleitet. Ich bin überzeugt davon, dass die Bundeswehr einen beispielhaften Job gemacht haben. Deutsche Soldaten in Afghanistan genossen hohe Anerkennung, weil sie professionell und verlässlich waren.

Was haben Sie in Afghanistan gelernt?

Dass Soldat zu sein bitter sein kann. Kern des Kampfes ist das Überleben. Alle Einsätze, aber insbesondere der Afghanistaneinsatz, haben das Verständnis dafür geweckt, dass der Soldatenberuf ein Alleinstellungsmerkmal besitzt. Er ist der einzige Beruf, der sich nicht die Frage stellen darf: Gehe ich durch die Tür oder nicht. Egal was dahinter ist –  wir müssen durch diese Tür gehen und danach gibt es kein Zurück.

Bei der Rückkehr der Truppe aus Afghanistan entstand peinliche Verlegenheit für eine angemessene Feier. Was hat diese diese Diskussion in der Bundeswehr ausgelöst? 

Von der Rückkehr der Männer und Frauen aus Mazar-i-Sharif, dem Hauptkontingent, war ich persönlich betroffen, weil ich als Kommandeur der 1. Panzerdivision die Masse der Heeressoldaten zurück empfing. Der Empfang in Wunstorf war Deutschlands unwürdig. Dagegen ist die die Truppe, die für die Evakuierung verantwortlich war, würdig empfangen worden. Noch größer ist die Leistung der Männer und Frauen beim geordneten Rückzug aus Afghanistan, ohne Verlust und ohne einen einzigen Schuss, zu bewerten. Sie wiederum landeten gleichsam still und heimlich. Das hatten diese Männer und Frauen unter der Führung des großartigen Brigadegenerals Ansgar Meyer nicht verdient.

Die Ukraine verändert ja viel, verwandelte zum Beispiel grüne Pazifisten in grüne Bellizisten. Wie nachhaltig ist dieser Prozess Ihrer Meinung nach?

Ich bin beeindruckt, wie der eine oder die andere lieb gewordene Grundsätze überdacht hat. Demokratie muss ja nun einmal wehrhaft sein, um unsere Lebensform und unser Gesellschaftsmodell zu bewahren. In vielen Vorträgen und Diskussionen stießen wir in den vergangenen zwei Jahren auf Verständnis. Man fragte uns: Worum geht es? Erklär mir das Problem und was zur Lösung notwendig ist. Aus meiner Sicht ist das ein guter Einstieg in eine Diskussion, da wir am Ende möglichst zu einem gemeinsamen Verständnis von wehrhafter Demokratie kommen sollten.

Noch eine persönliche letzte Frage. Seit dem 18. Jahrhundert stellt Ihre Familie in preußischen und deutschen Armeen Offiziere und Generale. Hatten Sie nicht mal das Bedürfnis, aus dieser Tradition auszubüxen?

1982, als ich zur Bundeswehr ging, war klar, dass ich Reserveoffizier werde. Aber eigentlich wollte ich danach Land- und Forstwirt werden und zwar in Argentinien. Mein Großvater, der am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, war 1918 nach Argentinien ausgewandert und hatte in der Provinz Santa Fe eine Hacienda aufgebaut. Mein Vater wurde dort geboren. Dann aber das Schicksal meine Familie im Jahr 1938 zurück nach Deutschland gespült.  

Ausbüxen Innerhalb der Familientradition. 

Am Ende bin ich hier geblieben, weil Land- und Forstwirtschaft in Argentinien aufgrund der wirtschaftlichen Situation damals schwierig war.

Ihr Vater bekleidete hohe Ränge und der Sohn blieb dann auch in der Bundeswehr – nicht ganz einfach, oder?

Wie das im Vater-Sohn-Verhältnis häufig so ist, legte ich Wert auf einen gewissen Abstand. Es sollte nicht heißen: Der macht ja nur Karriere, weil der Vater da ist. Am Ende hatten wir neun Jahre gemeinsam in der Bundeswehr. 

Herr General, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht (leicht verändert auf t-online.de, heute.

Auch China mischt jetzt mit

Dass Israel in seiner Existenz bedroht ist, gerät dank des Kriegs im Gaza gelegentlich in Vergessenheit. Der Angriff am Wochenende in einem drusische Dorf auf den Golan-Höhen erinnerte daran. Kinder und Jugendliche spielten Fußball, als die Raketen einschlugen. Gibt es Unschuldigeres als zwölf Kinder, die hinter einem Ball herjagen, aus dem Leben zu reißen? Gibt es Grausameres, als Kinder zu töten, egal ob im Norden Israels oder im Gaza?

Die Hisbollah brüstet sich gerne damit, dass sie Raketen schickt, um ihre Hamas-Brüder zu unterstützen. Diesmal schwieg sie lärmend, denn Drusen vertreten, religiös betrachtet, eine spezielle Form des Islam. Die Hisbollah will Juden töten, auch wenn sie nur Fußball spielen oder ein Konzert besuchen. Darauf kommt es ihr an.

Wenn es eine Steigerung von Brutalität geben sollte, sorgt der Nahe Osten gerade wieder dafür. Wenn es eine Steigerung von Rache geben sollte, erleben wir sie seit fast zehn Monaten. Wenn sich das biblische Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn steigern lässt, dann liefern Hamas, Hisbollah, Houthi-Rebellen und Iran den Beweis dafür und Israel auch.

Seit geraumer Zeit laufen Verhandlungen, die dem Wahnsinn ein Ende bereiten sollen. Zu den nahezu konzilianten Bemerkungen Benjamin Netanjahus bei seinem Auftreten in Washington gehörte der Hinweis, dass es diplomatische Fortschritte gebe und eine Einigung womöglich bevorstünde. Darauf wartet die Welt schon seit vielen Wochen. Steht etwa ein Durchbruch bevor?

Die Verhandlungspartner sind Katar, Ägypten und die USA. Sie informieren jeweils die Hamas und die israelische Regierung. In einer ersten Phase sollen die Waffen für sechs Wochen schweigen. Dann dürfen verwundete oder tote Geiseln an Israel übergeben werden. Wie es dann weitergehen kann, ist nach wie vor ungeklärt, auch nach vielen Runden.

Überraschenderweise klinkte sich jetzt China ein. Die Weltmacht im Wartestand scheint zur Überzeugung gelangt zu sein, dass sich diplomatische Intervention in Nahost vorteilhaft auswirken könnte. Staatliche Medien in Peking berichteten, dass sich insgesamt 14 palästinensische Gruppierungen darauf geeinigt hätten, ihre Gegnerschaft zu überwinden. Dabei ist entscheidend, ob die Fatah, welche die Autonomiebehörde in Ramallah stellt, und die Hamas, die Gaza beherrscht, wirklich demnächst als Einheit auftreten. 

Natürlich wüsste man gerne, ob China und die USA in Abstimmung oder Konkurrenz für den Frieden im Nahen Osten eintreten. Ich vermute mal: in Konkurrenz. Aber dass China seinen Ehrgeiz als Friedensstifter entdeckt, lässt sich nicht übersehen. Seine Diplomaten hatten sich ja schon vor dem 7. Oktober 2023 darauf kapriziert, eine Annäherung zwischen den Feinden Saudi-Arabien und Iran zu vermitteln.

Glaubt man das? Machen Fatah und Hamas ernst? Oder wird daraus ebenso wenig wie aus der Versöhnung zwischen Iran und Saudi-Arabien? Schließlich dreht es sich um Todfeindschaft in einer Weltgegend, in der Todfeindschaft der Normall ist. In der das Gesetz, wonach es in der Geschichte nie nur abwärts geht, aufgehoben zu sein scheint.

Paradoxerweise könnten sich die Verhandlungen in Katar mit dem chinesischen Vorstoß ergänzen. Denn pragmatisch gesehen, kann Israel die Hamas nun einmal nicht auslöschen, auch wenn Netanjahu in Amerika dieses Kriegsziel wiederholt hat. Deshalb wäre es auf mittlere Sicht zweckmäßig, wenn die beiden palästinensischen Großgruppen gemeinsam Gaza regierten. Im Gegenzug könnte Israel seine Streitkräfte zurückziehen und ein neuer Anfang wäre gemacht.

Glaubt man daran? Man möchte es glauben. Es ist menschlich, diese Illusion zu hegen. Es ist aber realistisch anzunehmen, dass Iran im Hintergrund und die Hisbollah im Vordergrund diese Entwicklung torpedieren würden, ginge ihnen doch die Hamas als permanenter Störfaktor verloren. Und die Bereitschaft Israels, vom Krieg zu lassen, ist ja auch gering.

Selbst wenn der Gaza befriedet würde, wäre für den Frieden im Nahen Osten noch nichts Entscheidendes gewonnen. Immerhin würde sich die Konstellation womöglich verändern. Denn am Ende des Prozesses soll die diplomatische Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien stehen. Damit würde sich die Zahl der arabischen Staaten mehren, die sich mit Israels Existenz abfinden. 

Auf seiner Reise nach Washington wies Premier Netanjahu die Verantwortung für das Leid im Gaza wieder weit von sich. Das stimmt insofern, als am Anfang der Mord an 2000 Israelis und die Entführung von mehr als 200 steht. Das stimmt aber nicht, wenn man die Trümmerlandschaft Gaza als Ergebnis der Invasion in Betracht zieht. Der Wiederaufbau wird irgendwann zu einem gewaltigen Akt werden, der Jahre andauern dürfte.

Nach Schätzungen der Uno sind 70 Prozent aller Wohnungen zerstört. Ungefähr 40 Millionen Meter Schütt wollen weggeräumt werden. Nicht explodierte Bomben und Raketen müssten entschärft werden. Für den Übergang müssten Zeltstädte mit sanitären Anlagen und sauberem Wasser entstehen. Obst und Gemüse können auf längere Zeit nicht angebaut werden. Gaza wird auf Konvois mit Lastwagen, die das Nötigste herbeifahren, angewiesen bleiben.

Krankenhäuser haben israelische Streitkräfte gezielt zerstört, weil die Hamas darunter Waffenlager und Stützpunkte hielt. Daher sind wohl 20 Hospitäler nicht mehr funktionstüchtig. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 80 Prozent. Dass sich Verzweiflung und Apathie breitmachen, ist mehr als verständlich. Knapp zehn Monate können eine Unendlichkeit sein.

Ohne Waffenstillstand als Vorstufe zur Beendigung des Krieges ist an Wiederaufbau gar nicht zu denken. Keine der verhandelnden Mächte, weder die USA noch China, können die Kriegsparteien zum Nachgeben zwingen. So lange bleibt Gaza eine Mondlandschaft. So lange hält das Leid dort an.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Hüten wir uns vor Wunschdenken

online: Herr Ischinger, Sie waren auf dem Parteitag der Republikaner in Milwaukee. Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Ischinger: Positiv fiel mir die Begeisterung auf dem vorzüglich organisierten Parteitag für Donald Trump auf. Negativ fiel mir auf, dass diese rohe, lärmende Partei eine ganz andere Partei als der klassische „Country Club“ ist, der sie mal war. John McCain, aber auch Ronald Reagan hätten sich in Milwaukee fremd gefühlt. Vermutlich hätten sie sich sogar für diese Anhängerschaft geniert. Das gute Benehmen des klassischen, schlipstragenden US-Gentleman stand nicht gerade im Vordergrund. 

Was sehen seine Anhänger in Donald Trump?

Den Anführer gegen ein Washingtoner Establishment, das diese Leute für durch und durch korrupt ansehen. Trump ist ihr Herakles, der verspricht, den Stall auszumisten. 

Wie versteht sich Trump selber?

Als inzwischen von Gott gesalbter Feldherr im Kampf gegen das Establishment. Dass er das Attentat überlebt hat, stärkt seinen Narzissmus.

Stimmt die These, dass der Trumpismus inzwischen eine Weltanschauung darstellt, die über Trump hinausweist?

Elemente eines Personenkults sind im Trump-Camp ja schon länger sichtbar. Seit dem Attentat nimmt er noch rasant zu. Der Parteitag grenzte an eine Krönungsmesse. Und Trumps Vize, der kaum 40jährige JD Vance, könnte tatsächlich zu einer über Trump hinausweisenden Führungsfigur werden. 

Sie waren Botschafter in den USA, als George W. Bush regierte. Wodurch unterscheidet sich die republikanische Partei heute von de damals?

Die klassischen Republikaner vom Schlage etwa der Familie Bush oder zum Beispiel der frühere Außenminister Mike Pompeo oder die ehemalige Uno-Botschafterin Nikki Haley repräsentierten das Ostküsten-Establishment, das transatlantisch ausgerichtet und mit Europa stärker als mit Asien verbunden ist. Diese klassischen Republikaner wirkten fast wie Fremdkörper auf dem Parteitag. Aber natürlich spielen sie mit, denn am Ende geht es ja auch um Ministerämter. 

Hat sich Joe Biden noch rechtzeitig als Kandidat zurückgezogen und was gab den Ausschlag dafür?

Gerade noch rechtzeitig, denke ich. Der körperliche und beginnende geistige Verfall war ja nicht mehr zu übersehen. So hat er sich zu einer großen menschlichen und politischen Geste aufgerafft, die ihm sicherlich nach mehr als 50 Jahren in der Politik sehr schwer fiel. Aber: Money talks, wie man in Milwaukee sagte – die Spendeneinnahmen gingen nach Joe Bidens verheerendem TV-Auftritt massiv zurück. Panik brach unter den Demokraten aus. Jeder Kongress-Abgeordnete steht ja am 5. November zur Wahl, genauso wie ein Drittel der Senatoren. Das Rennen gegen Trump schien schon lange vor dem Parteitag der Demokraten im August verloren zu sein. 

Ist Kamala Harris die beste Wahl oder nur die naheliegende Wahl?

Unter den aktuellen Umständen ist sie ganz klar sowohl die beste als auch die naheliegende Wahl. 

Sie kennen Kamala Harris. Worin liegt Ihre Stärke?

Anders als  der bedrohlich wirkende Trump ist sie eine sympathische Frau, die Lebensfreude ausstrahlt, auch durch ihr ansteckendes Lachen. Außerdem ist sie 18 Jahre jünger als Trump. Beim Thema Altersschwäche kann sie jetzt den Spieß herumdrehen. 

Hat sie die nötige Härte für einen höllischen Wahlkampf?

Ganz sicher bringt sie Härte und Standvermögen mit. Zudem hat sie als jahrelange Staatsanwältin durchaus Biss. Ihre intellektuelle Schärfe hat  sie auch als Senatorin oftmals unter Beweis gestellt.

Trump überzieht sie schon mit Kaskaden von Beleidigungen. Was würden Sie ihr als Reaktion empfehlen?

Sie macht das gut, finde ich, denn sie zieht schon jetzt die Karte, die vermutlich in ihrem Sinne wirkt: Sie als Profi-Anklägerin steht dem Mehrfachtäter Donald Trump gegenüber.

Worin liegt Kamala Harris’ Schwäche?

Sie musste sich nicht dem Fegefeuer der Vorwahlen stellen. Dieses Manko schwächt ihre Legitimation. Und dann stellt sich natürlich die Frage, ob Amerika schon so weit und imstande ist, eine nichtweiße Frau zu wählen  – das ist die ganz grosse offene Frage. 

Trauen Sie ihr zu, im TV-Duell gegen Trump zu bestehen?

Durchaus. Sie ist ja geübt darin, den Gegner im Gerichtssaal fertig zu machen. Allerdings haben sich viele Wähler längst festgelegt und ihnen ist es egal, wer im Wahlkampf jetzt rhetorisch und inhaltlich besser wirkt. 

Barack Obama hat noch immer große Autorität unter den Demokraten. Er schwieg auffällg lange zur Kandidatin Harris. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Nein, aber vielleicht dachte er, dass er ihr damit keinen Gefallen tun würde, wenn er sie ganz schnell öffentlich unterstützt, weil er damit nur das rassistische Schwarz-Weiß-Argument anheizen würde.

Weiß gegen Schwarz, illiberal gegen liberal, Macho gegen emanzipierte Frau, Immigranten-Ideologe gegen Einwandererkind: Mehr Symbolik geht kaum in einem Wahlkampf. Welchem Narrativ geben Sie die größeren Chancen auf Durchsetzung?

Es könnte auf die Konfrontation zwischen dem alten bösen Macho und Abtreibungsgegner mit der liberalen, emanzipierten, selbstbewussten Frau hinauslaufen.

Die Demokraten haben sich bisher damit begnügt, Trump als Kriminellen, Lügner und Verderber der Nation zu stigmatisieren. Ist das genug als Strategie?

Nein, sie müssen nicht nur behaupten, dass Donald Trump der falsche Präsident wäre. Sie müssen mit ihrer Strategie vorführen, dass Kamala Harris die Richtige für Amerika ist, weil sie den Job kann und das bessere Programm für ihr Land hat.

Viel hängt von dem Team ab, das Kamala Harris um sich versammelt. Haben Sie den Eindruck, dass sie auf gutem Wege ist?

Da traue ich ihr einiges zu. Ihren außenpolitischen Berater Phil Gordon kenne ich seit vielen Jahren, er ist ein transatlantischer Profi. Da mache ich mir keine Sorgen. Sie kann sich ja im übrigen in vieler Hinsicht auf das erfahrene Biden-Team im Weißen Haus stützen. Das hilft ungemein. 

Was würde ein Sieg von Trump für Amerika und Europa bedeuten?

Wir sollten nicht in Panik ausbrechen. Wir sollten auch nicht Trump unnötig dämonisieren! Seine zweite Präsidentschaft wäre nicht gleichbedeutend mit dem  Ende der transatlantischen Partnerschaft, aber sie würde eine weitere Entfremdung auslösen und erhebliche sicherheitspolitische Risiken verursachen. Dazu kämen weitere handelspolitische Belastungen.

Was würde der Sieg von Kamala Harris für Amerika und Europa bedeuten?

Auf jeden Fall aussenpolitische Kontinuität, anstatt transatlantischem Auseinanderdriften. Gesellschaftlich betrachtet, könnte Amerika ähnliche Modernisierungsschritte wie in Europa unternehmen.

Und nun Ihr Tip: Wer von beiden wird das Rennen machen?

Wir müssen uns vor Wunschdenken hüten. Ich lag 2016 falsch, als ich Hilary Clinton als Siegerin vorne sah. Sagen wir es mal so: Ich halte es für möglich, dass Kamala Harris Donald Trump schlagen wird. Sicher ist das aber noch lange nicht.

Veröffentlich auf t-online.de, heute.

Treulos davon

Wir haben eine neue Wohnung bezogen. Darin fühlen wir uns sehr wohl, wir genießen das Urbane, dieses Abends-auf-die-Straße-gehen, Leute zu treffen, die wir erst seit kurzem kennen, die aber schon vertraut sind, im Restaurant über der Straße oder gleich nebenan oder einen Block weiter. Der Hund muss sich erst noch an die Stadt gewöhnen, denn er ist ein Landei, ein Waldhund, dem so ziemlich alles fremd hier ist, die Gerüche, die Geräusche, seltsame Menschen, die unverhofft an den Tisch treten, weil sie uns Zeitungen verkaufen wollen.

An mir fällt mir wieder einmal auf, wie treulos ich sein kann. Ich konnte schon immer gut weg gehen. Aus Städten. Aus Wohnungen. Bekannte, auch Freunde hinter mir lassen. Zuerst war Mainz, immerhin die Stadt, in der ich zehn Jahre gelebt hatte, zehn entscheidende Lebensjahre mit Studium, Promotion, Heirat, Geburt eines Sohnes. Dann Hamburg. Zwischendurch Amerika. Eine sehr schöne Wohnung in Winterhude, eingetauscht gegen eine Eigentumswohnung an der Elbchaussee. Dann Berlin. Jetzt zweiter Umzug innerhalb Berlins.

Ich bin weiß Gott nicht mehr der Jüngste und verlasse dennoch ohne Wehmut jetzt wieder einen sehr schönen Stadtteil mit viel Wald und zwei Seen. Tausche Urbanität ein. Das Alte streife ich ab und stürze mich ins Neue. Ohne Nostalgie. Warum ist das so?

Vielleicht liegt der Grund darin, dass ich in einer Stadt aufgewachsen bin, die man verlassen musste, wenn man vorankommen wollte. Also Übung im Weggehen früh in mir angelegt. Na ja, andererseits sind viele meiner Mitschüler zurückgegangen und haben ans Frühere angeknüpft. Für mich kam es nicht in Frage. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht. Das Verlassen muss tiefer in mir liegen.

Vielleicht ist eine existentielle Unruhe in mir angelegt. Sie könnte ihre Ursache in frühem Leid durch schwere Krankheit haben. Daraus mag eine innere Unabhängigkeit von äußeren Umständen entstanden sein. Diese Freiheit hat mir die Tuberkulose verschafft. Das ewige Lesen, das eine existentielle Note besaß, weil es mich vor der Langeweile, der Wiederkehr derselben Abläufe Tag für Tag bewahrte. Dazu diese Angst vor einer Operation und die Verstörung darüber, dass Menschen, die ich kannte, plötzlich starben. Da blieb eben die Notwendigkeit zum Rückzug auf mich selber.

Ich erzähle immer, mein heutiges Leben habe damals in Kutzenberg begonnen, in der Lungenheilanstalt, in die ich am Tag vor meinem 18. Geburtstag eingeliefert worden war. Die Selbstbeschäftigung war mir auferlegt. Es gab den Zwang zur Anpassung und der Zwang führte dazu, dass aus mir ein anderer wurde. Auch vorher hatte ich gelesen, aber jetzt bekam das Lesen eine andere Funktion für mich. Der Weg ins Innere vollzog sich nicht freiwillig. Die Freiheit, die mir die Krankheit verschaffte, war der Ausgang aus der Not, in die sie mich stürzte.

Natürlich frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht in Kutzenberg gelandet wäre. Wenn mein Leben einfach auf der Bahn weitergegangen wäre, auf der ich gestartet war. Wahrscheinlich wäre ich Lehrer geworden wie mein Bruder. Wahrscheinlich wäre ich im Mainzer Umland geblieben. Auch kein schlechtes Leben.

Die Unruhe hatte ihren Preis. Meine erste Ehe ging auch deswegen in die Brüche, weil meine Frau sich in der neuen Stadt Hamburg einsam fühlte. Ihre Kindheitsfreundin zog weg und dann war da niemand Vertrautes für sie, während ich viele Stunden arbeiten ging. Ein paar Jahre später wechselte ich nach Bonn aus beruflichen Gründen. Zu viel Veränderung für sie. Keine Kontinuität. Kaum war sie eingewöhnt, wollte ich weiterziehen. Scheidung.

Dabei bin ich eigentlich gar nicht sonderlich unruhig. Ich suche nicht nach Veränderung, ich sehne mich auch nicht danach. Aber wenn es sich anbietet, das Leben neu einzurichten, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land, in einer anderen Wohnung, dann bin ich dabei. Eher als Unruhe ist es Neugierde, die mich antreibt. Neugierig kann man auch ohne Wohnung- oder Stadtwechsel sein. Man kann am selben Fleck bleiben und sich mit einer Philosophin beschäftigen oder mit einer Autorin. Judith Shklar lief mir über den Weg, ich hatte sie nicht gekannt. Sie ist das Äquivalent zu Hannah Arendt, ohne Ausflug in die Metaphysik. Chimamanda Ngozi Adichie wurde mir empfohlen und daraufhin las ich alles von ihr. Bob Dylan beschäftigte mich, weil ich herausfinden wollte, ob er zurecht den Literaturnobelpreis bekam (hat er).

Aber damit ist nicht verständlich gemacht, warum ich mit Städten auch Menschen verlasse Freunde, mit denen ich Zeit verbracht hatte, die mir gerade noch wichtig waren und dann plötzlich nicht mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn. Moralisch ist dieser blinde Fleck fragwürdig. Man macht das nicht, man bleibt in Kontakt mit Menschen, die einem etwas bedeuten. Ich bringe es trotzdem fertig, als würde ich denken, alles hat seine Zeit und dann eben tschüs. Ich denke aber in dieser Phase des Übergangs gar nicht darüber nach, ob ich die Verbindung aufrechterhalten möchte oder nicht. Es passiert mir. Und diese Gedankenlosigkeit macht es noch schlimmer.

Ich würde es nicht mögen, wenn mich jemand so zurückließe, wie ich andere zurück lasse. Ich mag es auch nicht an mir. Es macht mich aber anscheinend sogar aus, dass ich zu dieser Treulosigkeit fähig bin. Mir fallen, während ich dies schreibe, etliche Namen ein, bei denen ich mich entschuldigen müsste.

Kann sie Trump verhindern?

Joe Biden zieht sich zurück. Er macht den Weg für Kamala Harris frei. Dafür gebührt ihm Anerkennung und seine Partei sollte es ihm danken. Biden kann jetzt in Anstand seine Präsidentschaft zu Ende bringen. Ab jetzt ist er nur noch eine Nebenfigur in dieser wichtigen Phase der amerikanischen Geschichte.

Ins Zentrum rücken nun zwei Menschen, die das bis zum Zerreißen gespaltene Amerika versinnbildlichen. Der Frauenverächter Donald Trump bekommt es mit einer Frau zu tun. Der ultimative alte weiße Macho steht gegen Kamala Harris, die eine Inderin als Mutter und einen Jamaikaner zum Vater hat. Illiberal trifft auf liberal. Er ist 78 und damit ist er jetzt der Alte, der sich dafür rechtfertigen muss. Sie wird im Oktober 60, auch nicht die Jüngste, aber eben 18 Jahre jünger als Trump. Und schließlich steht New York gegen Kalifornien, Wall Street gegen HiTech.

Aus heutiger Sicht wäre es natürlich besser gewesen, wenn Joe Biden seine Vizepräsidentin als seine Nachfolgerin aufgebaut hätte. Hat er aber nicht, wollte er nicht. Vielleicht vertraute er ihr nicht und bedachte sie deshalb mit unangenehmen Aufgaben wie der Grenzsicherung. Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings, dass sie sich gegen Zumutungen nicht wehrte. Sie schien sich damit zu begnügen, Vizepräsidentin zu sein. Dieses Stigma muss sie schnell abstreifen.

Wer Präsidentin werden will, muss es wirklich wollen, mit allen Fasern ihrer Person. Wahlkampf in Amerika ist die Hölle. Kamala Harris’ Leben wird nun ausgeleuchtet, abgetastet, auf den Kopf gestellt. Sie war zuerst Bezirksanwältin und dann Generalstaatsanwältin. Die Todesstrafe vermied sie. Ihre dunkle Hautfarbe spielt in ihrem Leben eine Rolle. Sie und ihre kleine Schwester waren isoliert. Dazu sagt Kamala Harris: „Die Kinder in der Nachbarschaft durften nicht mit uns spielen, weil wir schwarz waren.“

Donald Trump kennt keine Skrupel und Grenzen sind ihm fremd. Er wird sich auf sie stürzen und sie schlecht reden. Rücksicht verbietet sich aus seiner Sicht schon einmal deshalb, weil Schwarze ihn ohnehin nicht wählen. Entscheidend wird sein, ob die großen Geldgeber der Demokraten Kamala Harris zutrauen, Trump zu verhindern oder nicht.

Auf dem Spiel steht viel. Im Jahr 2008 besiegte Barack Obama den Konkurrenten John McCain. Kamala Harris ist nicht Obama und gegen Trump war McCain ein Waisenknabe. Dennoch dürfte sich verschärft wiederholen, was sich damals nur andeutete: Das weiße republikanische Trump-Amerika wird alle Register ziehen, um eine schwarze Frau im Weißen Haus zu verhindern.

Bis zum 5. November ist noch viel Zeit. Die nächste Etappe ist der Parteitag der Demokraten ab dem 19. August. Dort muss Kamal Harris einen Sog entfalten, der diese zerrissene, gespaltene Partei mitreißt. Gelingt es ihr nicht, wächst sofort die Kritik an ihr. Ihre fragile Partei würde sofort wieder in viele Partikularinteressen zerfallen.

Die gute Nachricht für Kamala Harris kommt aus der Demoskopie. Der knappe Vorsprung Donald Trumps ist immer noch knapp. Er ist in der Endphase des Kandidaten Biden nicht gewachsen, wie man meinen könnte, er stagniert. Daraus folgt, dass Harris das Ruder noch herumreißen kann. Die Voraussetzung ist selbstverständlich eine kluge Strategie, durch die unentschlossene Wähler angezogen werden.

Auf Dauer genügt es nicht, Donald Trump als Lügner, Kriminellen und Demokratiefeind zu bezeichnen. All das ist er, aber das weiß jetzt auch jeder und es kann ihm in seiner Anhängerschaft nichts anhaben. Es verfängt auch nicht, immer wieder an das Kapern des Kapitols zu erinnern. Es gibt Richter, von Trump eingesetzt, die in seinem Sinne urteilen. Darüber zu jammern ist ebenso verständlich wie nutzlos. Die Demokraten müssen einsehen, dass der Trumpismus zu einer Weltanschauung geworden ist, die über Trump hinausweist.

Die Republikaner, die mal die Partei der Wall Street war, haben sich in eine Partei der Arbeiterklasse verwandelt, wie sich im übrigen auch rechte Parteien in Europa so wandeln. Der Vize und damit politische Erbe, den Trump wählte, JD Vance, kommt aus einer prekären Familie und schrieb ein Buch („Hillbillie Elegy“) über die Transformation der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten. Dieser Schicht zollt Trump Respekt, so merkwürdig es auch anmutet, wenn ein New Yorker Geschäftsmann sich zum Champion der Entrechteten und Verlorenen im Lande aufschwingt. 

Trump und Vance entwerfen ein düsteres Bild der Gegenwart. Kriminelle Horden strömen ins Land. China beutet Amerika aus und Europa legt sich auf die faule Haut, anstatt angemessen in die Nato einzuzahlen. Der Krieg in der Ukraine kostet zu viele Milliarden Dollar. Gefahr durch Veränderung, wohin immer auch Trump und Vance blicken.

Schon wahr, Unsicherheit und Unübersichtlichkeit bereiten breiten Wählerschichten Angst. Sie verlangen nach Garantien für mehr Sicherheit in jeder Form. Trump verspricht Schutz vor der Dynamik des Globalismus, der sich nirgendwo stärker ausprägt als in Amerika. Aber diese destruktive Kraft des Kapitalismus ist für Trump und seine Wähler nur die Schuld der Eliten an Ost- und Westküste, die sich um die sozialen Folgen der Entindustrialisierung wenig scheren.

Düstere Erzählungen sind immer noch ungewöhnlich für einen Kandidaten der Republikaner. Der idealtypische Vertreter des Gegenteils war Ronald Reagan. Für ihn war die Zukunft rosig. An jedem Tag, den Gott werden ließ, ging die Sonne golden für Amerika auf. Und die Implosion des Kommunismus war für ihn nur eine Frage der Zeit.

Amerika ist eigentlich identisch mit Optimismus. Optimismus verhalf zu Erfolgen. Pessimismus war die Ideologie der Verlierer. Pessimismus war unamerikanisch. Insofern hat Trump die republikanische Partei wirklich nach seinem Bild geformt.

Was folgt für Kamala Harris und die Demokraten daraus? Sie müssen ihre Neigung zügeln, in Trumps Wähler nur Verirrte zu sehen und ihnen falsches Bewusstsein zu attestieren. Und der düsteren Weltanschauung des Trumpismus sollten sie eine Prise Optimismus entgegensetzen. Dazu ließe sich an die alte Erzählung anknüpfen, die Reagan, aber auch Bill Clinton und Barack Obama ins Weiße Haus trug. Schließlich hat sich Amerika in seiner Geschichte immer wieder neu erfunden. Warum nicht auch jetzt?

Kamala Harris strahlt diese Zuversicht aus. Sie besitzt dieses ansteckende Lachen und eine besondere Herzlichkeit. Die Bühne gehört jetzt ihr. Das ganze Land wird sie gespannt unter die Lupe nehmen. Bis zum 5. November kann sie zeigen, was in ihr steckt. Hat sie die gläserne Härte, die Widerstandskraft und die Ausdauer, Trumps Gemeinheiten zu verkraften und ihr Narrativ durchzusetzen, kann sie durchaus die erste schwarze Präsidentin Amerikas werden. Wir sollten es ihr wünschen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Erinnerung an Henry, Seine Durchlaucht

Henry ist gestorben. Henry habe ich für eine Weile gut gekannt. Wir waren Freunde. Unsere Wege trennten sich, wie das so ist, wenn der eine aus einer normalen Familie stammt und der andere aus einem uralten Adelsgeschlecht. Manchmal wollte es der Zufall, dass ich irgendwo las, was ihm widerfahren war. Heirat. Erbfolge. Eine Geschichte, die sich um Kokain drehte. Vielleicht verfolgte Henry meinen Weg aus der Ferne so sporadisch wie ich den seinen.

Als ich 15 war, zog ich es vor, in ein Internat zu gehen. Die Lehrer am Schiller Gymnasium in Hof hatten mich auf dem Kieker, was ich ihnen aus der salomonischen Sicht von heute nicht einmal verdenken kann. Ich war faul, ich schwänzte den Unterricht. Ich war schlecht in Mathe und Physik. Ich war verwundbar, weil man mit zwei 5 im Zeugnis in Bayern durchfiel. Ich war 15 und in der 9. Klasse, mächtig pubertär. Die Herausforderung nahm ich an, kam durch ohne 5, wollte mich aber nach Bad Wiessee ins Internat begeben. Davon hatte mir Schnolzo erzählt, ein Freund, den ich beim Skifahren kennengelernt hatte.

Schnolzo war unfreiwillig dort, seine Eltern wollten es so. Ich wollte freiwillig dorthin, meine Eltern waren überrascht, aber einverstanden. So kam ich ins Internat. Genauer gesagt waren Internat und Schule getrennt. Das Internat war in Bad Wiessee, die Schule in Tegernsee. Jeden Morgen fuhren wir mit dem Schiff über den Tegernsee und nach der Schule zurück.

Wir waren höchstens 30 Schüler, darunter wenige Mädchen. Henry bezog das Zimmer gegenüber. Er war Neuling wie ich. Dieser Umstand verband uns. Wir mochten uns. Henry trug eine Brille und besaß Vergangenheit. Aus mehreren Internaten war er rausgeflogen, zuletzt aus St. Blasien. Henry war nicht der Schlaueste. Er ging in die achte Klasse, war genauso alt wie ich, aber zwei Klassen unter mir, also zweimal sitzengeblieben. Henry hatte ein Lernproblem.

Mit vollem Namen hieß Henry Heinrich Maximillian Egon Karl Prinz zu Fürstenberg. Er durfte und musste in Donaueschingen mit Durchlaucht angesprochen werden. Der Titel kommt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet ursprünglich hell leuchten. Na ja, eine helle Leuchte war Henry nicht, aber ein netter Kerl, an den ich mich gerne erinnere.

Den gewaltigen sozialen Unterschied bemerkten wir immer dann, wenn ein Hubschrauber einschwebte und Henry fürs Wochenende heimholte. Er trug dann Blazer mit Einstecktuch und war weniger Henry als wochentags. Seinem Gesicht sahen wir an, dass ihm nicht wohl war, zur Familie zu fliegen. Wir bedauerten ihn und beneideten ihn zugleich. Hubschrauber! Schloss! Durchlaucht! Riesenvermögen! Sonntagabend war er zurück und wieder ganz Henry.

Bei der Erinnerung an Henry frage ich mich natürlich, warum ich ihn nicht mal angerufen oder geschrieben habe. Wie man sich eben nicht nur sinnvolle Fragen stellt, wenn jemand stirbt, den man kannte. Ich war nur für ein Jahr im Internat. Henry pflügte viele Internate durch.

Er sei nach langer Krankheit gestorben, heißt es in Nachrufen. Ruhe in Frieden, Henry.

Der beste Skatspieler ever

Vor ein paar Tagen ist Klaus Töpfer gestorben. Er war unter Helmut Kohl Umweltminister. Kein Parteisoldat, sondern ein unabhängiger Kopf mit weitreichender Kompetenz. Geschätzt von vielen über sämtliche Grenzen hinweg, die für weniger kundige Köpfe hochgezogen werden. Er ist mal durch den Rhein geschwommen, zum Beweis, dass seine Gewässer sich erholt hätten. Diese Show passte gar nicht zu ihm. Später ist er international unterwegs gewesen, für die Uno.

Ich will aber eine andere Geschichte mit Klaus Töpfer erzählen. Sie spielt in Rheinland-Pfalz, wo er sich die Meriten erwarb, die Helmut Kohl aufmerksam werden ließen. Eines Tages war ich in Mainz, um mir einen Ausschuss anzuschauen, der landesweite Bedeutung hatte. Ich mochte Mainz, ich hatte dort studiert und promoviert. Mein Sohn Vincent kam dort auf die Welt. Zehn Jahre meines Lebens verbrachte ich in dieser Stadt mit ihrer stolzen Geschichte, ihrer Lässigkeit und dem heiteren Dualismus von Landeshauptstadt und Campus-Universität.

An diesem Tag war Ich aus Hamburg angereist und fröhlich, wieder da zu sein. Die Sitzung des Ausschusses, es ging um eine Falschaussage des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl, war erwartbar langweilig. Da fragte mich Jürgen Busche, der auch vor kurzem starb, ob ich nicht Lust auf einen Skat hätte. Ich spiele gerne Skat, obwohl mir der Sinn nicht unbedingt in diesem Augenblick danach stand, als mich der Kollege der FAZ, den ich wegen seiner Unberechenbarkeit schätzte, dazu aufforderte. Er sagte, wie könnten Klaus Töpfer im Ministerium abholen und bei dem zu Hause biertrinkend Skat klopfen.

Ich staunte. Ich wusste nicht, dass man einen Landesminister nachmittags gegen 3 Uhr von seinem Schreibtisch loseisen konnte. Noch mehr staunte ich, als es genauso kam, wie Jürgen Busche vorausgesehen hatte. Wir gingen ins Ministerium, wir stießen in Töpfers Büro vor, der stand auf, der Fahrer fuhr uns nach Hause zu den Töpfers. Wir setzten uns hin und droschen stundenlang Skat. Wir tranken Bier auf Bier. Es war wunderbar.

Busche gehörte zu den Trinkern, die schon nach dem nächsten Bier jammern, wenn das vor ihnen stehende Glas noch knapp halbvoll war. Töpfer trank gleichmäßig. Ich hielt mich zurück. Was aber das Erstaunlichste an diesem wilden, überraschenden, lustigen, angeregten Nachmittag war, hatte mit dem Skatspieler Klaus Töpfer zu tun. Er war der beste Spieler, dem ich jemals gegenüber gesessen habe. Er machte aus wenig viel. Wir nahmen Busche Spiele ab, die er gut hätte gewinnen können. Busche, ein Choleriker, geriet in Wallung und vermutete Komplotte zu seinen Ungunsten, wo er doch so sehr Komplotte zu anderer Leute Ungunsten liebte.

An diesen Mainzer Nachmittag, der sich tief in die Abendstunden hinein bohrte, musste ich bei Klaus Töpfers Tod denken. Ich hoffe, er und Jürgen Busche finden einen dritten Mann in Himmel oder Hölle, wo auch immer sie sich getroffen haben mögen.

Der Mensch hinter der Maske

Als sie noch diese junge Frau aus dem Osten war, da fielen ihre großen Augen auf, mit denen sie wach und neugierig und immer leicht amüsiert die Welt und die Menschen betrachtete. Auch der Mund neigte sich ein bisschen belustigt, als wäre sie über das Getümmel um sie herum bass erstaunt.

Kurz vorher war sie noch Tag für Tag mit der S-Bahn an der Mauer entlang früh gegen 6 Uhr in ihr Institut gefahren. Ein monotones, berechenbares, langweiliges Leben an einem sicheren Ort, abgeschottet von der Diktatur des Proletariats. Jetzt aber ließ sie die Wissenschaft hinter sich, als hätte sie das immer im Sinn gehabt, und stürzte sich in die Politik.

Ehe diese Dr. Angela Merkel, Pfarrerstochter aus Templin, geboren in Hamburg am 17. Juli 1955, zahlreiche Parteifreunde aus dem West beiseite räumte, kaltblütig und machtfroh, hatte sie einige wichtige Förderer. Rainer Eppelmann, der mutige Pfarrer und Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruch“, war der erste Mentor. Er empfahl sie Lothar de Maizière, dem letzten DDR-Ministerpräsidenten, der sie wiederum Helmut Kohl ans Herz legte.

Keiner von ihnen hielt für möglich, dass sie Kanzlerin werden könnte. Frau! Aus dem Osten! Kohls Mädchen! Unterschätzung kann ein brauchbarer Weg zur Macht sein.

Der Rest ist Geschichte. Die mutige, witzige, forsche junge Frau verschwand hinter einer Maske. Die Hände formten sich zur Raute, einer Geste, die ihr Ruhe gab, ihr Inneres ordnete. Der Körper versteckte sich in ihrer Uniform, Jackett plus Hose. Die Wort verriegelte sie in Vorsicht.

Noch jedem Kanzler ist es so ergangen, dass die Macht ihren menschlichen Preise einforderte. Jeder von ihnen liebte es, die Nummer 1 im Staate zu sein, und jeder mochte sich vornehmen, dass er sich auch im hohen Staatsamt sein Ich bewahren würde. Keinem von ihnen ist es gelungen.

Immerhin erhielt sich Angela Merkel ihr ursprüngliches Ich im vertrauten Kreis, wie der berühmte Schauspieler Ulrich Matthes in einer fünfteiligen Dokumentation über Angela Merkel erzählt. Dann habe sie zum Beispiel andere Staatenführer imitiert, offenkundig eine besondere Gabe. Nicolas Sarkozy ahmte sie wohl besonders treffend nach. Dieser französische Präsident war ja auch der ultimative Macho, eine Spezies, auf die sie immer und überall traf. Wenn Angela Merkel sich sicher fühlte, durfte sie sein, wie sie war.

70 wird sie heute. Glückwunsch, Altkanzlerin! Seit knapp drei Jahren ist sie im Ruhestand. Sollte Olaf Scholz bis zur nächsten Bundestagswahl durchhalten, wird er genauso alt sein wie sie bei ihrem Rücktritt nach 16 Jahren Kanzlerschaft.

Angela Merkel ist Geschichte. Wir können sie jetzt unter die Lupe nehmen. Sie kann sich nicht wehren. Wir können barmherzig mit ihr umgehen oder umbarmherzig.

Ich habe mich immer gewundert, wie sehr die Kanzlerin moderat temperierte Gemüter in Wallung versetzen konnte. Ansonsten differenzierte Mensch ließen nicht erst 2015 kein gutes Haar an ihr. Sie wetterten gegen sie, erklärten sie zur Versagerin auf ganzer Linie und begruben sie unter wilden Adjektiven. Es war ziemlich egal, ob diese Unbarmherzigen eher liberal oder eher links standen. Die Wut, der Zorn auf die Kanzlerin fiel bemerkenswert tiefenscharf aus.

Natürlich kann man ihr im Nachhinein anlasten, dass sie einseitig auf Russland als Energielieferanten setzte. Dabei gerät allerdings in Vergessenheit, dass ihre Vorgänger seit dem Kalten Krieg in den 1970er Jahren das Land mit billigem Öl und Gas versorgten. Unser Wohlstand hing ja auch davon ab, wie denn auch nicht. Was hätten Industrie und Wirtschaft aufgeheult, wenn die Kanzlerin Nord Stream 2 nicht zugestimmt hätte. CDU und CSU hätten sie dafür gesteinigt.

Heute wissen wir auch, dass es keine gute Idee war, die Wehrpflicht so mir nichts, dir nichts auszusetzen. Sogar die rasche Abwicklung der Kernkraft war übereilt, weil die Eindimensionalität der Energievorsorge unbedacht blieb. Und wir kennen Wladimir Putin, dem sie mehr als andere misstraute, nun besser, da er die Ukraine überfallen ließ.

Geschichte, die gerade vergangen ist, wird kaum gerecht beurteilt. Angela Merkel wird am Wissen von heute gemessen. Wer vom Rathaus kommt, ist klüger als zuvor. Darüber kann sich die Altkanzlerin nicht beschweren. So ist Politik eben, keine rationale Wissenschaft, eher die schnöde Kunst, recht zu behalten, vor allem hinterher.

Seltsam mutet im Rückblick diese seltsame Kombination aus zähem Pragmatismus und spontihafter Abruptheit an, die sie auszeichnete. Sie konnte lange zuschauen und Dinge, die zur Entscheidung anstanden, sich entwickeln lassen. Sie konnte aber auch blitzschnell auf umwälzende Ereignisse reagieren und die Dinge auf den Kopf stellen. Beides war ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich.

Mir hat ein Konstruktionsfehler ihres politischen Verhaltens missfallen. Als Physikerin betrachtete sie sich entfaltende Ereignisse wie im Lichte einer Versuchsanordnung. Dafür gab es Hypothesen und Vermutungen. Entwickelte sich der Versuch anders als erhofft, änderte sie die Anordnung, oft eben sogar abrupt.

Die wirkliche Kunst der Politik aber besteht in der Doppelstrategie. Willy Brandt verband Annäherung mit Osteuropa mit der Hoffnung auf Wandel. Helmut Schmidts Doppelbeschluss beruhte auf einem Angebot, gepaart mit einer Drohung. Helmut Kohl sicherte die Wiedervereinigung durch den Euro ab. 

Angela Merkel beherrschte diese Kunst, das Eine mit dem Anderen zu verbinden, leider nicht. Geflüchtete ins Land zu lassen, war ein Akt der Humanität, der Deutschland Respekt und Anerkennung einbrachte. Dabei blieb sie aber stehen. Sie verknüpfte die Menschlichkeit nicht mit verschärfter staatlicher Aufsicht, wer da kommt und wie das Land vor den Gefahren der Immigration geschützt werden kann. Und deshalb förderte sie unwillentlich den rechten Rand der CDU/CSU. So konnte aus der insularen Professoren-Partei AfD eine rechte Massenpartei mit antidemokratischer Gesinnung entstehen.

Im übrigen schaue ich eher barmherzig auf Angela Merkel. Die Weltfinanzkrise 2007/8 mit ihren Auswirkungen auf Europa meisterte sie vorbildhaft. In der Pandemie hielt sie beispielhaft einfühlsame Reden und tat das Richtige. Das Ausland beneidete uns um sie. Im Inland allerdings lag sie oft quer zu Ministerpräsidenten wie Armin Laschet oder Markus Söder, die Eigeninteressen verfolgten. Und am Ende war Angela Merkel nicht mehr tatkräftig genug, um sich durchzusetzen.

Heute wird sie 70. Das ist nicht besonders alt, aber doch ein Vorbote der Endlichkeit des Daseins, ein Gedanke, der ihr als Pfarrerstochter vertraut ist. Wir sollten ihr wünschen, dass sie heiter und ausgelassen mit Freunden feiert – mit ihrem alten Ich, das sie nun nicht mehr verbergen muss.

Da läuft einer gegen die Wand

Mit mittellauter Stimme, aber unnachgiebig, erinnert Boris Pistorius daran, dass gerade einiges schief läuft. Die Bundeswehr benötigt mehr Soldaten, aber die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist blockiert. Um kriegstüchtig zu sein, braucht sie auch mehr Waffen jeder Art. Für beides müsste der Wehretat stark angehoben werden, was Pistorius allerdings verwehrt ist.

Aus seiner Sicht wiederholt sich damit eine Fehleinschätzung, die Tradition hat. Mehrere deutsche Regierungen haben Wladimir Putiin nicht richtig eingeschätzt. Seit dem 24. Februar 2022 könnte jedermann es besser wissen. Erst kommt die Ukraine und dann setzt Russland die Korrektur der Geschichtstragödie fort, die im Schwinden der Weltmacht seit 1989 bestand – das ist die Logik. Darüber redet Putin, Imperialismus hat er im Sinn, man sollte ihn nun wirklich ernst nehmen.

Demokratien sind aller Erfahrung nach friedlich gesonnen. Sie verbünden sich ökonomisch und militärisch mit anderen Demokratien, treffen damit Vorsorge für den Ernstfall, von dem sie aber annehmen, dass er nicht eintreffen wird. Ansonsten widmen sie sich der Marktwirtschaft und dem inneren Ausbau der Demokratie. Das ist der Normalfall, der allerdings hinter uns liegt.

In Zeiten wie diesen sind Zielkonflikte in der Demokratie unvermeidlich. Die Regierung Scholz/Habeck/Lindner stellt die Ökologie notgedrungen hintan und widmet sich dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Die Kindergrundsicherung bleibt zwar vermutlich auf der Strecke und das Bürgergeld wird aus einer milden Gabe zu einer auch fordernden Gabe umgewandelt. Aber vor allem die SPD würde gerne den Mindestlohn nochmals erhöhen und ist überdies der Auffassung, dass die Schuldenbremse ein massives Ärgernis ist.

Doch was ist mit Putin und dem Geschichtsrevisionismus? Boris Pistorius wird nicht müde auf die reale Gefahr hinzuweisen, dass Russland in einer zweiten Phase die baltischen Staaten angreifen wird, so dass für die Nato, also auch für Deutschland, der Bündnisfall eintritt. Nicht irgendwann, sondern schon bald. Aber wird er ernst genommen?

In den letzten Tagen ließ sich der Verteidigungsminister nicht zufällig von zwei Generälen flankieren, die er sehr schätzt und die hohes Ansehen in der Truppe genießen. Der eine heißt Jürgen-Joachim von Sandrart und befehligt das multinationale Korps Nordost, das in Stettin stationiert ist. Im dessen Stab sind 25 Nato-Länder vertreten.

Sandrart sagte vor kurzem, „Russland klein zu hoffen und zu denken, das wäre ein existentieller Fehler“. Dazu gehört aus seiner Sicht die Illusion, dass Putin durch den Krieg gegen die Ukraine auf Dauer gebunden ist: „Es besteht bereits jetzt ein Potenzial, das es Moskau ermöglichen könnte – sicherlich limitiert in Raum, Zeit und Kräfteansatz – einen weiteren Konfliktherd zu entfachen, unter anderem auch gegenüber der Nato.“

Der andere General heißt Carsten Breuer, ist Generalinspekteur der Bundeswehr und damit Ratgeber seines Ministers. Als sich abzeichnete, dass die Regierung die Streitkräfte nicht hinreichend im Etat bedenken würde, gab auch Breuer Interviews. Er sagte, das Sondervernögen von 100 Milliarden Euro diene zur Kriegstüchtigkeit und verlange konsequent nach einem steigenden Etat: „Denn neben der Ausstattung geht es um die Betriebsausgaben, die Instandsetzung, Ausbildung und Übungen, ohne die wir die Einsatzbereitschaft der Truppe nicht erhalten können. Was hilft also mehr Material, wenn die Soldaten es nicht nutzen können?“

Breuer spricht auch aus, was andere hohe Ränge in der Bundeswehr denken: „In fünf bis acht Jahren wird Russland sein Militär so erneuert haben, dass ein Angriff auf Nato-Gebiet möglich sein könnte. Das bedeutet für uns: Wir müssen uns an 2029 ausrichten. Bis dahin müssen wir spätestens bereit sein, uns gegen einen möglichen russischen Angriff verteidigen zu können.“

Vielleicht ist es gewöhnungsbedürftig, dass sich Generäle konzertiert in eine politische Debatte einschalten. Deutschlands Außenpolitik war eben über viele Jahrzehnte auf Ausgleich durch Entspannung eingestellt und damit auch erstaunlich erfolgreich. Ohne den Verzicht auf Großmannssucht wäre die Wiedervereinigung am Ende nicht so glatt über die Bühne gegangen. Die Schrumpfung der Bundeswehr schien konsequent zu sein, weil wir ja damals von Freunden umzingelt waren. Und wir wollten ja Pazifisten sein.

Vergangen, verweht. Die Welt ist gefährlich geworden. Der Kalte Krieg ist zurück. Jeder weiß es, auch Christian Lindner und Olaf Scholz wissen es. Nur ziehen sie anscheinend keine Konsequenzen daraus.

Die Stärkung der Bundeswehr im erforderlichen Maße scheitert schon mal an der Partei, der Boris Pistorius angehört. Die SPD ist mehrheitlich nach wie vor pazifistisch gesonnen. Sie mag zwar im Verteidigungsminister einen Kanzler-Ersatz sehen, teilt aber seine Überzeugung nicht, dass die Lage bitterernst ist und schon gar nicht die Einschätzung, dass schon in wenigen Jahren Deutschland der Nato-Ernstfall bevorstehen könnte.

Vielleicht ist die Prognose übertrieben, dass die baltischen Staaten in Kürze die nächsten Angriffsziele sein sollen und das Bündnis ihnen beispringen muss. Vielleicht steckt in der Skepsis aber auch magisches Denken – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Was ist also das Richtige?

Richtig ist Vorsorge für den Fall der Fälle. Auch wer Krieg nicht will, muss sich auf ihn vorbereiten. Deshalb ist eine starke Bundeswehr eine Notwendigkeit, ob einem das gefällt oder nicht. Sie braucht Geld, also sollte sie es bekommen. Die Regierung könnte das einsehen, wenn sie wollte. Die Demokratie muss ja wohl wehrhaft sein, oder etwa nicht?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Wenn die Kräfte schwinden

Alter zählt. Alter schwächt. Egon Bahr, der mit 93 starb, erzählte davon, dass es meistens bei den Beinen beginnt. Der Kopf mag noch eine Zeitlang solide arbeiten, aber die Gliedmaßen lassen zuerst nach.

An Joe Biden lässt sich der schleichende Verfall ablesen. Groß wie er ist, stakst er mit kleinen Schritten, weil er das Gleichgewicht nicht mehr sicher halten kann. Äußerlich wirkt er maskenhaft, was vermutlich an ästhetischen Korrekturen liegt, die so viele Menschen in fortgeschrittenem Alter an sich vornehmen lassen. Beim Reden verliert er den Faden, fängt irgendwo an und hört stockend anderswo auf.

Nur noch eine Frage von Tagen oder wenigen Wochen dürfte es sein, bis er die Konsequenzen aus seinen schwindenden Kräften zieht. Danach wird Donald Trump der alte Mann sein, der unter Beobachtung steht.

Kein Zweifel, der Wunsch nach Rache hält den Narzissten Trump unter Strom und deshalb wirkt er vital. Sein Problem ist auch nicht die Stringenz der Gedanken, sondern die Flut der Beschimpfungen, die aus seinem Munde quillt, wenn er meint, es geschehe ihm Unrecht. So ist es, wenn in Menschen der solipsistische Glaube vorherrscht, die Welt drehe sich ausschließlich um sie.

Aber was ist das richtige Alter für einen Präsidenten, einen Regierungschef, einen Kandidaten für hohe Staatsämter? Gibt es zu alt, gibt es zu jung?

Barack Obama war erst 55 am Ende seiner Zeit im Weißen Haus. Als er dort eingezogen war, wirkte er nicht nur jung, sondern auch unerfahren. Den Mangel kompensierte er mit Intelligenz und einem Schwarm ergebener, kluger Berater. Emmanuel Macron erreichte mit knapp 39 das Amt, das er mit 49 verlassen wird. Dann wird er ein Präsident gewesen sein, der seiner Neigung zu einsamen Beschlüssen umfassend nachgab. So sind Obama und Macron die größtmöglichen Gegensätze bei ähnlichen Ausgangspunkten.

Das Alter ist wichtig in der Politik, keine Frage. Mehr Gewicht fällt aber dem Gemüt zu, jenem inneren Mittelpunkt eines Menschen, in dem sich der Charakter, das politische Können und der Sinn für das Handeln im richtigen Moment bündelt. Darin unterscheiden sich die Menschen, die in höchste Ämter gelangen.

Keir Starmer ist 61 Jahre alt und seit Freitag Premierminister.

Wenig nur wissen wir über den haushohen Gewinner der britischen Unterhauswahlen. Bisher profitierte er vom Kontrast zu seinem linken Vorgänger Jeremy Corbyn, dessen Gefolgsleute er aus den vorderen Rängen vertrieb. Auch unterscheidet er sich vorteilhaft von Gaudiburschen wie Boris Johnson. Starmer gilt als langweilig, aber das ist momentan noch kein Nachteil, weil Großbritannien von egozentrischen Charismatikern die Nase voll hat.

Wer Keir Starmer ist und was er kann, ob er ein stabiles Gemüt und einen inneren Kompass besitzt, muss er jetzt zeigen. Aus dem Stand, ohne Anlauf. Morgen beginnt der Nato-Jubiläumsgipfel in Washington. Seine neuen Kolleginnen und Kollegen werden ihn freundlich begrüßen und neugierig verfolgen, ob er sich mit Redebeiträgen vordrängelt oder diskret zurückhält.

So stark wie am Tag der Machtübernahme wird Starmer nie wieder sein. Dafür dürfte auch seine Labour Party sorgen, die momentan trunken vor Siegesfreude ist und gerade deshalb Ansprüche an die Umgestaltung der herrschenden Verhältnisse stellen wird, die der Premierminister tunlichst nicht erfüllen sollte. Und wie verhält er sich gegenüber der EU – sucht er Annäherung, auch wenn er an den Brexit nicht rühren will?

Frankreich ist anders. Frankreich hätte fast einen blutjungen Premierminister bekommen, wenn denn die Linke und Macrons Mitte-Partei nicht ein Bündnis gegen die Rechte geschlossen hätten. 28 Jahre alt ist Jordan Bardella und Vorsitzender des Rassemblement National. Seine Altersgenossen mögen lange Wochenstunden in ihren ersten Jobs abreißen und schon gutes Geld verdienen. Bardella aber brach sein Studium ab und warf alles auf die Politik. Von seiner Mentorin Marine LePen lernte er, was ein rechter Anführer auf dem Kasten haben muss. Den Mangel an Erfahrung sucht er mit geschliffener Rhetorik wett zu machen.

Erfahrung kommt mit den Jahren, wie denn sonst. Olaf Scholz zum Beispiel ist vor kurzem 66 Jahre alt geworden. Klein und schlank, diszipliniert und sportlich wie er ist, könnte er eigentlich noch länger Bundeskanzler bleiben. An Erfahrung kommt ihm kaum einer gleich. Seine Schwäche ist diese merkwürdige Arroganz, vieles besser als viele andere zu wissen, und ein gewisser Realitätsverlust. 

Friedrich Merz wiederum wird im November 69. Mit knapp 70 könnte er unser nächster Bundeskanzler sein. Seine Neigung zu flapsiger Arroganz könnte ihn mehr noch als sein Alter in Schwierigkeiten bringen. Eigentlich wäre er die ideale Übergangsfigur. Wenn er nur wollte, könnte er einem jüngeren Christdemokraten den Weg ebnen und somit die Voraussetzung für längeres Regieren seiner Partei schaffen.

Wen sollte er protegieren? Na ja, da gibt es Hendrik Wüst oder Boris Rhein oder Daniel Günther. Es wäre doch ein Akt der Souveränität, wenn Merz einen der Drei ins Kabinett holte, ihn förderte und ihm nach zwei Jahren das Ruder überließe. Aber wer bringt ihn auf diese Idee? Auch bei Merz stellt sich die Frage, ob er sich etwas sagen lässt – nach dem Charakter.

Alter ist schwierig, Alter kann auch eher gemütliche Gemüter zu Starrsinn veranlassen und so ein Drama verursachen, das über das Persönliche weit hinausgeht. In Washington entfaltet es sich gerade. Joe Biden ist noch im Stadium Ich-will-es-nicht-wahrhaben, dass ich mich als Kandidat zurückziehen soll. Eine gewisse Frist bleibt ihm sogar noch, weil ja eine Alternative erst noch gefunden und auf biographische Unangreifbarkeit getestet werden muss. Auch das Unabänderliche will Weile haben.