Wie viel Veränderung verträgt Berlin?

Berlin ist wild, bunt, anarchisch auch. Zugleich ist Berlin in manchen Kiezen genauso bürgerlich wie Hamburg und ähnlich ordentlich wie München, manchmal sogar langweilig wie Stuttgart, wenn man Stuttgart 21 mit dem BER aufrechnet. Aber die Stimmung, ja die ist einzigartig in dieser großen Stadt.

Wurschtig. Übellaunig. Zynisch amüsiert über all das, was nicht klappt, und das ist ja bekanntlich ziemlich viel. Wenn es so etwas wie autoaggressiven Stadt-Patriotismus gibt, dann findet der sich hier.

Deshalb lieben sie die Hertha, weil es dem Verein gelingt, Hunderte Millionen Euro zu verpulvern, mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass sie immer noch weiter hinten in der Tabelle herum krebst, als sich dunkel erahnen ließ. Hertha versucht es nun ja mit einer Berliner Lösung, was immer die Vereinsführung darunter verstehen mag, vielleicht dass Bescheidenheit ziert und Investoren böse sind. Stimmt ja beides, oder?

Der Big City Club aber liegt weit drüben im Osten, in der Alten Försterei, nix Olympiastadion. Der 1. FC Union ausgerechnet steigt und steigt, in der Tabelle und finanziell, wer hätte das gedacht. Ist doch eine herrliche Überraschung, mit der sich endlich mal renommieren ließe. Lässt sich aber nur bedingt, weil Erfolgsgeschichten in Berlin gegen den Komment verstoßen, nicht wahr?

Berlin wählt neuerdings gerne, zum zweiten Mal schon innerhalb von anderthalb Jahren, während eine Legislaturperiode eigentlich fünf Jahre dauert. Multitasking ist nicht so die Sache der Stadt. War ja auch viel, an jenem Sonntag im September 2021: Marathon und Bundestagswahl, Bezirkswahl und Volksentscheid. Nach dem Gesetz, wonach alles schief geht, was schief gehen kann, ging eben einfach alles schief. 

Das Schöne an Wahlkämpfen ist allerdings, dass wir vom Spitzenpersonal der Parteien erfahren, welches Berlin sie meinen, wenn sie über Berlin sprechen.

Fangen wir mit Bettina Jarasch an, der es gerade wie Annalena Baerbock ergeht – sie springt weit und dürfte zu kurz landen. Regierende Bürgermeisterin will sie werden und zwar als Patronin aller Radfahrer, für die sie Raum gegenüber den Automobilen schaffen will, ein redliches Unterfangen, das schon. Nun zeichnet es allerdings viele Radfahrer aus, dass sie die Farbe Rot für eine Empfehlung halten, die sie großmütig ausschlagen, wodurch sie sich wenig von vielen Autofahrern unterscheiden, die in aller Gemütsruhe bei Dunkelrot über die Kreuzung trudeln.

Selbstverständlich hat Bettina Jarasch nur die regelkonformen Radfahrer im Sinn, wie sie in vielen Interviews sagt. In diesem Zusammenhang fiel aber ein Satz, es war bei t-online zufällig, der Beachtung verdient. Er lautet so: „Mein Maßstab für das Gemeinwohl sind immer die Schwächsten. Im Straßenverkehr sind die Schwächsten die Fußgänger und Radfahrer.“

Gemeinwohl ist ein hehres Wort, ein staatstragender Begriff, leicht angestaubt in einer Zeit, die bis zum Abwinken Authentizität und Nahe-bei-den-Menschen bei allzeit politischer Korrektheit einklagt. Beim Gemeinwohl geht es um das Gesamtinteresse einer Gesellschaft, das ist geradezu der Gegenbegriff zu Einzel- oder Gruppeninteressen wie den Radfahrern. 

Damit sind wir beim Grundproblem des politischen Berlin angelangt. Jede Partei beschränkt sich auf Gruppeninteressen – die Grünen, die Linken sowieso, die FDP aus Prinzip. Ergänzt wird dieser Tatbestand durch ein Ungleichgewicht zwischen den Spitzen und ihren Parteien. Bettina Jaraschs Spielraum engen Hardcore-Grüne in Kreuzberg und Friedrichshain ein. Franziska Giffey wollte schon 2021 mit der CDU regieren, was ihr die SPD jedoch verwehrte. 

Die noch und vielleicht auch wieder Regierende Bürgermeisterin erweckt noch am ehesten den Anschein, dass sie an das ganze Berlin denkt – eben an das Gemeinwohl. Zu den Silvester-Angriffen auf Polizei und Feuerwehr fand sie alleine, die mal Bürgermeister in Neukölln war, angemessene Worte. Die CDU hingegen wollte unbedingt die Vornamen der Täter in Erfahrung bringen. Was sie damit bezweckte, bleibt ihr Geheimnis. Auf die Provokation kam es ihr an, da sie doch wissen musste, dass im Zweifelsfall Feuerwehrleute oder Polizisten die gleichen türkischen oder arabischen Vornamen tragen wie die Angreifer, welche die CDU stigmatisieren wollte.

Dennoch darf sich die CDU, ihr Vorsitzender heißt Kai Wegner und versteht sich als Schutzpatron der Verdrängung erleidenden Autofahrer, in der Hoffnung wiegen, die stärkste Partei zu werden. Seit ihrem Untergang mit der Bankengesellschaft vor 22 Jahren wäre das eine Wiederauferstehung. Nicht dass der Spitzenkandidat ein Ausbund an Popularität wäre, aber wer nicht länger Rot-Rot-Grün wie ein Perpetuum Mobile bekommen will, bedient sich eben der CDU.

Vielleicht tut sich ja was in Berlin, politisch gesehen. Aber kann man sich die Stadt ohne den Kultursenator Klaus Lederer vorstellen? Und die Bundesliga ohne Hertha, während der 1. FC Union Champions League spielt? Und darf man Berlin, das sich wohlig in seiner Dysfunktionalität eingerichtet hat, so viel Veränderung überhaupt zumuten?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der Mann, der die DDR nicht retten durfte

Hans Modrow war ein milder Mann, der Metall in seine Stimme legte, um Missverständnissen vorzubeugen. Diese Gewohnheit hatte er sich zugelegt, weil die beiden Erichs, Honecker und Mielke, ihn ernst nehmen sollten, was sie allerdings nicht nahmen. Ihnen war der Genosse zu soft, zu unentschlossen, er sollte bleiben, was er war, Bezirksleiter der SED in Dresden, in der Provinz.

Modrows Stunde schlug erst, als die beiden Erichs und der dritte dazu, Krenz nämlich, auf dem Friedhof des Sozialismus gelandet waren. Plötzlich stand der ewige Außenseiter im Zentrum der Ereignisse und versuchte sich als ehrlicher Makler, das muss man ihm zugute halten, auch wenn er sein Land nicht retten durfte, wie sich alsbald erwies.

Am 19. Dezember 1989 nahm der bundesdeutsche Machtpolitiker Helmut Kohl diesen Modrow in Augenschein und befand ihn ebenfalls als zu weich, zu ideenlos, wie die DDR ökonomisch überleben könnte. Am Abend feierte Kohl  dann mit Zehntausenden begeisterter DDR-Bürger die Vorwegnahme der Wiedervereinigung, ein dramatisches Ereignis unter nächtlichem Winterhimmel, das mich schwer beeindruckte.

Seither war Hans Modrow kalt gestellt. Die Geschichte räumte ihm nur noch die tragische Rolle des Erblassers der Resterampe DDR ein. Von ihm geblieben ist ironischerweise lediglich das „Modrow-Gesetz“ vom 1. März 1990, womit sämtliche volkseigene Betriebe und Kombinate in Kapitalgesellschaften übergeführt wurden. 

Interessant ist, wie sich Modrows Ruf unter seinen ostdeutschen Landsleuten veränderte. Jahrzehntelang hatte er der SED-Nomenklatura angehört. Die Menschen, die seit Oktober auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk“ gegen Honecker/Mielke/Wolf/Modrow skandierten, machten keinen Unterschied zwischen den Erichs und ihm. Die kleinen feinen Unterschiede fielen erst im Nachhinein ins Gewicht, als sich die Folgen der Transformation zum Kapitalismus in Massenarbeitslosigkeit und sozialer Entwurzelung niederschlugen.

Modrow hatte anderes gewollt, darauf kam es jetzt an. Ein Drei-Phasen-Modell zur Wiedervereinigung hatte ihm vorgeschwebt, gestreckt über viele, viele Jahre. Am Ende dann sollte das neue Gebilde Gesamtdeutschland Neutralität wahren. Denn da sich der Warschauer Pakt aufgelöst hatte, die militärische Organisation des Ostblocks, sollte sich konsequent auch die westliche Nato auflösen, das war die Überlegung, die nicht ganz von der Hand zu weisen war. Außerdem hatte Modrow die Idee aufgegriffen, dass den Bürgern der DDR Anteilsscheine an allen Betrieben und Unternehmen der DDR zustünden, die sie dann verkaufen durften, wenn sie wollten. Dem Volk sollten die volkseigenen Betriebe wenigstens nominell gehören.

Plausible Vorstellungen waren das zu ihrer Zeit. Die Geschichte ging allerdings kaltherzig, wie sie ist, darüber hinweg – in Gestalt der Regierung Kohl/Genscher/Waigel und deren Ausführungsorgan Treuhand. Doch die treibende geschichtliche Kraft waren diese Zehntausenden Demonstranten im Herbst 1989, die unbedingt die DDR loshaben wollten. Sie waren der eminenten Beschleuniger, der auch über bedenkenswerte Vorstellungen hinwegfegte.

Noch in seinen letzten Interviews rügte Hans Modrow den Mann, auf den es in diesen geschichtlichen Augenblicken wirklich ankam: Michail Gorbatschow. Im Grunde konnte Modrow es nicht fassen, das die glorreiche Sowjetunion, die Panzer in die DDR, nach Ungarn und die Tschechoslowakei zur Rettung ihres Nachkriegsimperiums geschickt hatte, so mir nichts, dir nichts weggab, was ohne sie keine Zukunft haben würde.

Modrow wollte noch im Oktober 1989 im alten Geist handeln, das gehört zu seiner Lebensgeschichte. Er entwarf Pläne zur gewaltsamen Unterdrückung der Demonstranten in Dresden. Er ließ Tausende Bürger verhaften, die zum Bahnhof geeilt waren, als die Freiheitszüge aus Prag Dresden passierten.

Das Milde war gepaart mit eisernen Zähnen. Seltsamerweise aber lag der metallene Modrow neben der historischen Spur. Milde in diesem Augenblick wäre taktisch klüger gewesen. Aber gutes Timing gehörte nicht zu seinen Stärken. Das erwies sich auch in einer Episode am 3. Dezember 1989, an die sich die Nachwelt erinnern sollte.

Überliefert hat sie Wolfgang Berghofer, der damals neben Modrow Oberbürgermeister der schönen Stadt Dresden gewesen war und im Westen ebenfalls als Mann mit Zukunft galt. „Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige“, habe Modrow gesagt. „Die Schuldigen sind wir“, will Berghofer eingewandt haben, was Modrow nicht beeindruckte: Die Massen müssten schnell einen Verantwortlichen präsentiert bekommen, der Schuldige solle das Ministerium für Staatssicherheit sein.

Stümperhaft, könnte man sagen, mit dem Wissen von heute. Die friedliche Revolution war Anfang Dezember 1989 über solche Vorstellungen längst hinweggegangen. Freundlicher formuliert dachte Modrow noch immer innerhalb der DDR-Systemlogik, weil er sich sich ein Europa ohne DDR einfach nicht vorstellen konnte.

Hans Modrow blieb hell und wach und streitbar bis an sein Ende im Alter von 95 Jahren. Sein Land, die sozialistische DDR, konnte er nicht retten, aber das hätte ja auch wirklich niemand vermocht.

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Mesut Özil, das Genie, hört auf

Mesut Özil hört auf, habe ich gelesen. Von ihm kam noch keine offizielle Verlautbarung, wonach er sich aus dem Fußballsport zurückziehen wird. Es passt zu ihm, dass er sich nicht äußert oder mit Verspätung oder eben erst dann, wenn er es für nötig befindet.

Ich habe ihm anfangs ungläubig, dann mit Staunen und, als ich mich an sein Ingenium gewöhnt hatte, voller Neugierde zugeschaut. Er war der erste deutsche Fußballspieler, der Räume sah, die kein anderer sah. Er führte den Ball am linken Fuß, schob ihn mit dem Außenrist knapp am Gegenspieler vorbei, so dass der wie ein Tölpel aussah, und schon war ein Mitspieler in den freien Raum gestartet, zog den Ball mit und wie aus dem Nichts war eine Chance entstanden.

Mesut Özil fing bei RW Essen und bei Schalke 04 an. Den Schalkern müssen die Tränen kommen, wenn sie daran denken, dass ihr Verein seinen Vertrag nicht verlängern wollte. Damals konnte sich Rudi Assauer solche Kapriolen leisten. Schalke war gut, spielte Champions League und ein aggressiver Berater, Özils Vater, prallte mit seinen Forderungen an der Selbstgefälligkeit der Vereinsführung ab.

Dann zwei Jahre in Bremen, Werder wurde wie Schalke im Jahr zuvor Vizemeister, und dann Real Madrid. 15 Millionen Ablöse, ein Schnäppchen nach heutigen Kriterien. Erste Saison: 36 Spiele, 6 Tore, 19 (!) Vorlagen. Im Tor stand Casillas, Ramos spielte in der Innenverteidigung, Xabi Alonso im defensiven Mittelfeld mit Sami Khedira, im Sturm CR 7, Benzema, di Maria. Mourinho war Trainer.

Mesut Özil war ein scheuer Mensch, schüchtern, in sich gekehrt. Manches gab sich mit dem Erfolg. Was blieb, war das Erratische, das sich psychologisch als Korrelat zu seiner Genialität verstehen lässt. Sein Elixier war das Unberechenbare, dieses Aufblitzen, der Pass, den keiner kommen sah, nur irgendein Mitspieler, der im Training ein Gespür dafür bekommen hatte, dass Mesut wie eine Vision einen leeren Raum öffnete und eine Chance kreierte und eine Hintermannschaft mit einem sanften Pass schachmatt setzte.

Natürlich erweist sich im Rückblick die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien als der Höhepunkt seiner Karriere. Toni Kroos war das Metronom, Özil der Schöpfer feiner Chancen und wieder ein überaus mannschaftsdienlicher Spieler, was gerne vergessen wird. Südafrika vier Jahre später: der Tiefpunkt. Das Foto: Gündogan und Özil mit Erdogan. Das vom DFB orchestrierte Fußball-Deutschland machte Mesut Özil zum Sündenbock, zum Schuldigen für das erbarmungswürdige Scheitern. An seiner Leistung konnten sie nichts festmachen, also stürzten sie sich auf seinen Charakter. Das Stille erschien ihnen als Provokation. Das Schüchterne als Arroganz. Die Melancholie, die ihm eigen war, als Gleichgültigkeit.

Medien können Missgunst und Zorn steuern und sie steuerten die herrschende Niedertracht hin zu Mesut Özil. Der konnte sich nicht wehren, wollte es vielleicht auch nicht. Niemand interessierte sich ohnehin für seine Deutung des Ausscheidens. Manuel Neuer als Kapitän versagte, wie er immer versagt, wenn es darauf ankommt, Stellung für andere zu beziehen, für einen Mitspieler, Stellung auch gegen die tumben Toren vom DFB. Neuer ist der Inbegriff des Jasagers. Erst im Alter, als sein Freund und Torwarttrainer kaltblütig rausgeschmissen wurde, als er in der Reha war, wehrte er sich. Hätte er nur mal früher damit angefangen und vor allem den Mut gehabt, für andere einzutreten.

Was das Anprangern in Özil auslöste, für ihn bedeutete, wüsste ich gerne. Irgendjemand wird irgendwann auf die Idee kommen, mit Özil ein langes Lebensgespräch zu führen und vielleicht erzählt dieser wunderbare Spieler darin von seinem Erleiden fundamentaler Ungerechtigkeit. Bei Arsenal fiel er in Ungnade, ging zu türkischen Vereinen und hoffte wohl darauf, dass ihn die Verehrung wieder zu schönen Spielen inspirieren würde, so dass seine Genialität nochmals zu voller Entfaltung kommen könnte. War nicht so. Stellte sich nicht ein. Wie schade.

Jetzt hat es ein Ende. Ginge es mit rechten Dingen zu, würde Deutschland dem ersten Genie seit Franz Beckenbauer einen Kranz flechten oder wenigstens ein Abschiedsspiel mit einer internationalen Mannschaft organisieren. Ich bin gespannt, ob der Sportdirektor des DFB, der ehrwürdige Rudi Völler, einen Sinn dafür besitzt, dass Deutschland sich etwas Gutes antut, wenn es Mesut Özil ehrt, den Mann, der Räume sah, die gar nicht da waren.

Wenn unerwünschte Worte aus dem Munde purzeln

Annalena Baerbock ließ sich dabei ertappen, wie sie sagte, was sie denkt.: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander.“ Wer müde ist, zermürbt und entnervt vom Wahnsinn der Ereignisse, dem löst sich schon mal ungewollt die Zunge, so dass ihm eine Wahrheit entschlüpft, die besser ungesagt geblieben wäre.

Es gilt nun mal der alte Satz: Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen. Diplomaten sollten ihn rundum beherzigen und allenfalls privat Dampf ablassen. Nicht umsonst werden ihnen Floskeln und Formeln beigebracht, die sie noch im Schlaf beherrschen sollen. Wo Worten Gewicht zukommt, wägt man sie besser.

Das Auswärtige Amt bemühte sich händeringend um mildernde Interpretation: Wladimir Putin verstoße mit seinem Krieg gegen die europäische Friedensordnung und das Völkerrecht. Das stimmt natürlich, rettet aber den ominösen Satz nicht davor, richtig verstanden zu werden. So denkt sie, die Annalena, und erstaunlicherweise purzeln ihr die Worte sogar aus dem Mund.

Deutschland legt Wert darauf, nicht Kriegspartei zu sein. Deutschland liefert Waffen jeglicher Art und stimmt sich dabei mit den Bündnispartnern ab. Deutschland unterstützt die Ukraine auch finanziell, moralisch ohnehin, und nimmt Geflüchtete großzügig auf. Nichts davon ist selbstverständlich und deshalb hat das stete Drängen nach immer neuen Waffen auch etwas Ärgerliches. Damit ist wohlgemerkt nicht Präsident Selenskij gemeint.

Interessant ist aber, wie der Ukraine-Krieg Deutschland politisiert hat. Pazifisten, die eben noch Schwerter zu Pflugscharen verwandeln wollten, sind schnurstracks zu Sicherheitspolitikern mit exakter Kenntnis der Spurbreite von Schützenpanzern mutiert.

Vor 20 Jahren veränderte der Irak-Krieg Amerika ganz ähnlich. Plötzlich brachten Demokraten Verständnis für die verachteten republikanischen Neokons auf, die Regimewechsel durch Krieg schon immer für angemessen hielten, und wurden über Nacht selber zu Neokons. In Deutschland war der Konservatismus mit seiner Nähe zur Bundeswehr und seinem Verständnis für militärische Einsätze ein Monopol von CDU/CSU. Heute gibt es bemerkenswert viele Neokons unter den Grünen und der FDP sowieso, verhaltener in der SPD.

Annalena Baerbock macht kein Hehl daraus, dass aus ihrer Sicht das Kanzleramt oft zu lange zögert, bevor das Richtige geschieht. Ihr Satz, wonach wir einen Krieg gegen Russland kämpfen, hätte unter anderen Umständen eine Regierungskrise ausgelöst, an deren Ende die Außenministerin ihr Amt einbüßen könnte. 

Im Kanzleramt sind sie sicherlich vor Wut im Dreieck gesprungen. Hatte sich doch soeben die Lautsprecherin Marie-Agnes Strack-Zimmermann vor der Ankündigung, Deutschland werde die Leos 2 in die Ukraine schicken, domestizieren lassen und die Neokons unter den Grünen verhielten sich endlich mal still. Deshalb war der Versprecher der Außenministerin besonders ärgerlich. Damit beeinträchtigte sie den Coup, dass Deutschland bei seiner Entscheidung die USA hinter sich her gezogen hatte.

Was bedeuten die Leos 2 für das Kriegsgeschehen? Im Leitartikel meint der “Spiegel“, die Lieferung sei ein „Gamechanger“ insofern, als Putin damit an den Verhandlungstisch gezwungen werden könnte. Na ja, wohl dem, der so viel Vertrauen aufbringt. Die Logik geht andersherum: Der Krieg dürfte andauern, solange Putin Präsident ist.

Es geht weiter, immer weiter, mit dem Krieg, und auch damit, dass der Westen in Bälde Kampfjets liefern soll und weitreichende Raketen und auch U-Boote. Rote Linien waren gestern. Das Scholzsche Zögern hat auch darin seinen Grund, dass Deutschland eines tunlichst vermeiden sollte – dass wir einen Krieg gegen Russland kämpfen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Typus Fundamentalist, Fundamentalistin

Anton Hofreiter, der Grüne mit der blonden Mähne und dem bayerischen Sprechgesang, hat wieder einmal und ultimativ dazu aufgefordert, endlich Kampfpanzer aus deutscher Edelproduktion in die Ukraine zu schicken. Er steht nicht allein, das stimmt. Heftiger und öfter noch erhebt Marie-Agnes Strack-Zimmermann ihre Stimme und kritikastert den Bundeskanzler.

Ich hebe die beiden hervor, weil die Mehrheit in der veröffentlichten Meinung sich ihrer als Kronzeugen gegen den zögernden Olaf Scholz bedient. Dabei fällt auf, dass niemand nach den Beweggründen der beiden fragt, wobei es sich doch offensichtlich um zwei Zukurzgekommene handelt. Hofreiter wäre zu gerne Bundeslandwirtschaftsminister geworden, wobei seine Partei jedoch Cem Özdemir vorzog. Die Frau mit dem doppelten Doppelnamen macht kein Hehl daraus, wie gerne sie auf Christine Lambrecht gefolgt wäre, was ihr verwehrt blieb, weil sie, erstens, der falschen Partei angehört und, zweitens, mit ihrer forschen Art, um es freundlich auszudrücken, den Kanzler zur Weißglut bringen dürfte.

Interessanter aus meiner Sicht ist der Typus Anton Hofreiter, den es ja unter den Grünen in vielfältiger Ausfertigung gibt. Hofreiter ist Agrarexperte, das ist unbestreitbar. Er gehört dem linken Flügel seiner Partei an, wogegen sich nichts sagen lässt. Mir geht es um die jeweilige Unbedingtheit, mit derer auftritt und argumentiert. Fundamentalist ist er als Großkritiker der Landwirtschaft und Fundamentalist ist er jetzt als Sicherheitspolitiker, der er gar nicht ist, denn das Ersatzamt, das er bekam, ist der Vorsitz im Europa-Ausschuss des Deutschen Bundestages.

Fundamentalist hier und Fundamentalist dort. Würde er morgen den Fußball als Betätigungsfeld entdecken, würd er fundamental den DFB kritisieren, was man zweifellos machen kann, und eine Wende einklagen, egal wohin, die Hauptsache fundamental. Würde er übermorgen die Bildung als Betätigungsfeld entdecken, würde er eine Wende einklagen, vielleicht zum Prinzip Waldorfschule, was ja nicht falsch sein müsste, die Hauptsache einklagen und zwar fundamental. Undsoweiterundsofort.

Der Fundamentalist/die Fundamentalistin ist eine Erscheinungsform unserer Zeit. Er oder sie will etwas und zwar grundsätzlich und überhaupt auf der Stelle, also subito. Er oder sie argumentiert unzweideutig und teilt die Welt in Freund und Feind ein. Carl Schmitt ist sein und ihr Kronzeuge, auch wenn er und sie den Totengräber der Weimarer Republik entweder nicht kennt oder fundamental jede Nähe zu ihm abstreitet. Der Fundamentalist oder die Fundamentalistin findet sich bei „Friday for Future“, an den Universitäten, bei jeder Debatte, sei es Me-too, sei es beim Gendern, beim Kolonialismus, in der Literatur, bei Filmen etc. Er oder sie ist nicht einer Meinung, sondern diese Meinung ist absolut gesetzt und schließt aus, dass andere Meinungen faktisch gleichberechtigt oder moralisch gleichwertig sein könnten. Es gibt nur die eine Wahrheit, es gibt keineswegs Teilwahrheiten. Das Ideal ist der Absolutismus.

Fundamentalisten erzählen immer nur eine Geschichte, die eine Perspektive hat und einen Raum beherrscht. ihm liegt der Gedanke fern, dass er Toleranz üben sollte, weil ja die Meinung des Andersdenkenden falsch ist, unbedingt falsch. Argumentieren wird ersetzt durch Dekretieren. Er und sie fühlen sich in der Gruppe Gleichgesinnter wohl. Beide frönen dem Stammesdenken und stehen dem Taliban nahe, ob sie es für möglich halten oder nicht.

Nachdenken, gerade im Fall fundamentaler Entscheidungen, ist eine Stärke, keine Schwäche. Ein Bundeskanzler, der sich von den Hysterikern hetzen ließe, würde seinem Amt nicht gerecht.

Die Diva, der das Filmen wenig bedeutete

Die ersten Lieben halten am längsten. In meinem frühen realen Leben bedeutete mir meine Ellen die Welt; schön war sie, stolz und ein wenig unnahbar. In meinen Filmträumen bedeutete mir La Lollo die Welt. Unfassbar schön spielt sie im Melodram „Die Schönen der Nacht“ oder in „Der Glöckner von Notre Dame“.

Für meine Generation gab es in den 1960er Jahren zwei richtungweisende Fragen: Bist du für die Beatles oder die Stones? Natürlich war ich für die Fab Four und folgerichtig fiel die Antwort auf die zweite Frage aus: Bist du für Gina Lollobrigida oder Sophia Loren? Beatles und Gina nazionale gehörten zusammen. Kunst und Schönheit flossen harmonisch ineinander. Stones und die Loren, das war Wildheit mit einem Schuss Straßenanarchie. Nichts für mich.

Mir gefiel die Vielzahl ihrer Talente. Ja, sie war ein Sexsymbol, aber in Reinheit, eben nicht vulgär wie Elizabeth Taylor oder Anita Ekberg oder gar Mae West in der Vorgängerinnen-Generation. Einen Satz wie Mae West hätte La Lollo nie über die Lippen gebracht: „Ist da ein Revolver in Ihrer Hose oder freuen Sie sich nur, mich zu sehen?“ (Sorry, ein Frauenwitz!)

Gina Lollobrigida kam zuerst. Sophia Loren war sieben Jahre jünger und genoß den Vorzug, dass sie mit Carlo Ponti verheiratet war, dem berühmten und erfolgreichen Filmproduzenten, der zum Beispiel „Dr. Schiwago“ oder „Blow up“ produzierte. Ein produktiver Umstand, der ihr zu vorzüglichen Rollen verhalf.

Eigentlich waren es drei italienische Diven in der Nachkriegszeit, die das Schönheitsideal bestimmten, denn natürlich gehört Claudia Cardinale in diese Reihe. Sophia Loren war und blieb Schauspielerin, genauso wie Claudia Cardinale. Gina Lollobrigida aber war ein Multitalent. Sie hatte Bildhauerei studiert, arbeitete als Modefotografin und ließ sich zur Opernsängerin ausbilden. Konsequent widmete sie sich ihren anderen Gaben und blieb dem Filmen zusehends fern.

Wer so viel kann, macht sich verdächtig. Später sagte man ihr nach, sie sei ja nur eine mittelmäßige Schauspielerin gewesen. Das ist nicht falsch, war aber systembedingt. Damals mussten Frauen vor allem eines sein: schön. Darauf beschränkten Regisseure ihre Rollen. Und ob eine Schauspielerin zum Großstar heranwuchs, hing vom Film ab. Die Cardinale wird für alle Zeiten mit „Der Leopard“ verbunden sein, einem großen Film nach einem großen Roman. Dieses Glück ward Gina Lollobrigida nicht beschieden. Sie drehte viele Filme, von denen mancher zurecht in Vergessenheit geriet.

Ihre beste Zeit, die 1950er und 1960er Jahre, war auch die große Zeit des italienischen Kinos. Visconti, Fellini, Bertolucci, auch Sergio Leone, mit dessen „Spiel mir das Lied vom Tode“ sich die Ära ihrem Ende neigte. Danach übernahmen französische Regisseure mit französischen Filmen das Zepter. Goldene Jahre des europäischen Films, in dem sich Hollywood-Stars  um Rollen rissen.

Wie klug, wie umsichtig war doch Gina Lollobrigida. Sie zog sich aus dem Geschäft zurück. Die Alternativen lockten sie, das merkte man. Sie konnte eben mehr als andere. Sie war noch jung, Mitte 40, in ihr ruhten viele expressive Möglichkeiten. Die Kamera war nur eine davon.

Nur wenigen Schauspielerinnen und Schauspielern gelingt rechtzeitig der Abschied von der Leinwand. Die meisten hoffen darauf, dass es irgendwie immer weiter geht. Clint Eastwood ist die große Ausnahme. Als hoch betagter Regisseur gibt er sich hochbetagte Rollen wie in „The Mule“. Er stirbt wahrscheinlich am Set oder auf dem Weg dorthin oder auf dem Heimweg von Nachtaufnahmen.

Nun ist sie gestorben, La Lollo, im gesegneten 96. Lebensjahr. Möge ihr Leben so rund gewesen sei, wie es den Anschein hatte.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Deutsche Stimmungsdemokratie

Lützerath ist geräumt. Nur Pinky und Brain, zwei Öko-Aktivisten, harrten noch länger in ihrem Tunnel mit Tunnellinde aus. Christine Lambrecht wird heute zurücktreten. Ja, und die Leopards 2 aus deutscher Produktion dürften bald schon für die ukrainische Armee im Krieg gegen Russland rollen.

Drei Vorkommnisse der letzten Tage, die gemeinsam die Schlagzeilen beherrschten. Sie verbindet die Neigung zu Opportunismus und Maximalismus.

Lützerath war auch ein routiniertes Schauspiel, das nach dem bekannten Muster ablief, das in Brokdorf, Gorleben oder Mutlangen geformt worden war. Politik entlädt sich oft genug im Schauspiel, und so ist auch der Protest gegen die Politik ein Drama mit Prolog, Höhepunkt und Ende. Zu den Protagonisten zählte diesmal Greta Thunberg, die sich zu dem Satz verstieg, Deutschland sei „einer der größten Klimasünder weltweit“. 

Wirklich? Mir fallen da die USA, China oder Indien ein, die gemeinsam weit mehr als die Hälfte der CO2-Emissionen sorgen. Deutschlands Anteil liegt bei 2,0 Prozent, nicht toll, aber bestimmt kein exzeptioneller Klimasünder. In Zusammenhang, der den Maximalismus relativiert, gehören retardierende Ereignisse wie die Pandemie und der Ukraine-Krieg, 

Mir ist schon klar, dass man mit purer Sachlichkeit bei einer hitzigen Demonstration in der Nähe eines Dorfes, das dem Tagebau weichen soll, niemanden vom Hocker reißt. Aber der Opportunismus, der im Maximalismus steckt, verleitet eben zur Übertreibung.

Zu den Bildern der vergangenen Tage, die im Gedächtnis bleiben, gehört Luisa Neubauer, die telegen ein Buch von Hans Jonas in Händen hält. Jonas war Schüler von Martin Heidegger; er emigrierte 1933. Jonas hat sehr früh, schon 1979, über eine Ethik für das technologische Zeitalter nachgedacht. Sein Buch „Das Prinzip Verantwortung“ taugt zur Bibel für jeden ernsthaften Menschen, der den Klimawandel gedanklich durchdringen will. Damit lässt sich aber auch mit einer kleinen Performance öffentlicher Eindruck schinden.

Ein besonders beredtes Beispiel für Opportunismus verkörpert Nike Slawik. Die junge Frau, sie ist 27, sitzt für die Grünen im Bundestag. Am 1. Dezember stimmte sie für den um 8 Jahre vorgezogenen Ausstieg aus der Braunkohle im Rheinischen Revier – 2030 anstatt 2038. Die Kröte, welche die Grünen schluckten, heißt Lützerath, das letzte Dorf, das weichen muss, damit die RWE Braunkohle aus der Erde holen kann. Ein eigentlich vorzüglicher Kompromiss sollte man meinen und meint auch Robert Habeck. In einem Interview mit dem „Spiegel“ bezeichnete er Lützerath deshalb als das falsche Symbol für die Öko-Apo: „Lützerath ist gerade nicht das Symbol für ein Weiter-so, es ist der Schlussstrich.“

Nike Slawik ließ sich in Lützerath von der Stimmung mitreißen: „Ich habe mich entfremdet. Entfremdet davon, wie manche die Räumung in Lützerath und den Deal mit RWE verteidigen.“ Sie hat sich von sich selbst entfremdet. Der jeweilige Ort bestimmt ihr Bewusstsein. Berlin ja, Lützerath nein. Sie war dafür, bevor sie dagegen war.

Christine Lambrecht tritt heute zurück. Das wissen wir seit Freitag, weil irgendjemand in Berlin das Wasser nicht halten wollte oder sollte. Dem Kanzler fällt es nicht leicht, einen glaubwürdigen Nachfolger zu finden, na klar. Zeit zu schinden ist deshalb ein letzter loyaler Dienst, den Lambrecht leistet. Wer derart am Pranger steht, besudelt von Riesenstaatsmännern wie Mario Czaja (CDU) oder Wolfgang Kubicki (FDP), würde wohl lieber im Erdboden versinken als abzuwarten, bis Olaf Scholz mit einer Alternative niedergekommen ist.

Wer auch immer auf Christine Lambrecht folgt oder genauer: folgen muss, wird es schwer haben. Er oder sie bekommt es zu tun mit Pazifisten von gestern, die heute Neomilitaristen sind. Ihnen kann es gar nicht schnell genug gehen mit der Lieferung von Leopards 2. Haben doch England und Frankreich ihre Kampfpanzer schon zugesagt.

Es ist aber ein Unterschied, ob England auf seiner schönen Insel Rüstungszusagen erteilt oder Deutschland mitten in Europa einen Quantensprung vollzieht. Denn darin liegt die Bedeutung der Leos. Deshalb empfiehlt sich Zurückhaltung und Vorsicht. Nachdenken ist von Vorteil, auch wenn fahrlässige Eile höher im Kurs steht. Insofern sind wir nach wie vor mit diesem Bundeskanzler gut bedient. Das Problem sind eher die Neomilitaristen, die in allen Parteien und vielen Redaktionen sitzen.

Lützerath ist Geschichte, Christine Lambrecht auch. Mit der Lieferung des Leopard 2 schreibt Deutschland Geschichte. Was daraus entsteht? Werden wir sehen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Unglückliche Menschen auf dem Schleudersitz

Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre ich gerne Außenminister. Man kommt rum in der Welt, hat ein eigenes Flugzeug, die Journalisten freuen sich über lange Reisen, weit weg von der Redaktion, und sind handzahm. Deutschland ist ein wichtiges Land und wenn ich nicht gerade in Peking landen müsste, dann ließe es sich blendend in diesem Job aushalten. Beliebt sind Außenminister sowieso, egal wer das Amt bekleidet, selbst Guido Westerwelle blieb eine Weile populär, bis sein pompöses Ego sich entfaltete.

Justizminister ist auch nicht schlecht. Ich wäre der Justitiar der Bundesregierung und könnte eigene Schneisen schlagen, hätte mit schlauen Leuten im Bundesverfassungsgericht zu tun. Gut, der Arbeits- und Sozialminister ist im Organigramm wichtiger, verfügt über ein Riesenbudget und verfasst, vor allem wenn er Hubertus Heil heißt, Gesetze am Fließband.

Aber Verteidigungsminister: oh Gott, bloß nicht. Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist, wenn er was von der Sache versteht oder blank ins Amt kommt. Hans Apel verstand einiges vom Metier und scheiterte am Ende doch, wenn auch hanseatisch-heiter, immerhin. Gerhard Stoltenberg, Kohls Wahl, verstand anfangs wenig und dabei beließ er es dann auch.

Verteidigungsminister sind arme Schweine, Christine Lambrecht steht da in einer langen Reihe unglücklicher Menschen, die in dieses Amt geschoben wurden, meistens gegen ihren Willen. Immer ist da ein Bundeskanzler, der sagt: Du musst das machen, ich brauche dich dort, du machst das schon, ich helfe dir – ein Vorsatz, den er sofort vergisst, wenn der Neue schlecht in der Presse wegkommt.

So hielt es Angela Merkel mit Karl-Theodor zu Guttenberg, der sich kanzlertauglich machen sollte. Kam anders, aber die Bundeswehr veränderte er fundamental. Dann bugsierte die Kanzlerin Ursula von der Leyen dorthin, die führungsstark war und trotzdem fast unterging. Annegret Kramp-Karrenbauer ging dann tatsächlich in Rekordkürze unter.

Jetzt also Christine Lambrecht. Sie war eine gute Justizministerin. Qualifiziert sie sich damit als Verteidigungsministerin? Natürlich nicht, sofern es um Kompetenz ginge. Natürlich schon, wenn es um Koalitionsproporz geht. Haben solche Menschen eine Chance in diesem Monsterministerium? Natürlich nicht.

Das Verteidigungsministerium ist die Hölle. Voller Fußangeln, Tücken, Fallenstellern. Das Innere der Hölle ist seit je her das Beschaffungswesen , das Aufträge an Industrie, Handel und Gewerbe vergibt. 100 Milliarden Euro dürfen jetzt verteilt werden. Schwierig, schwierig.

Wer da alles im Normalfall schon mitreden will, ist ein Alptraum. Die Staatssekretäre, der Generalinspekteur, die Inspekteure von Heer, Luftwaffe, Marine und Sanität. Dann sollen Regiments- und Bataillonskommandeure, Kompaniechefs, Leutnante und Oberleutnante, Unteroffiziere und Angehörigen der Bundeswehrverwaltung auf Tagungen bedacht und gehört werden. Zu schweigen von den Fachleuten unter uns Journalisten, die Veitstänze aufführen, um jedem Neuankömmling vor Augen zu führen, dass sie mehr wissen, viel mehr.

Dieses Amt sollte man nur seinen ärgsten Feinden gönnen. Denn so gut wie jeder Verteidigungsminister ist gescheitert. Eine kleine Auswahl: Kai-Uwe von Hassel. Gerhard Stoltenberg. Rudolf Scharping. Franz-Josef Jung. Peter Struck (der noch am wenigsten). Thomas de Maizière. Es gibt keine geborenen Verteidigungsminister. Es gibt nur dazu verhaftete, gezwungene, hingeschobene.

So erging es auch Christine Lambrecht. Olaf Scholz hat sie ins Amt deportiert. Was schief laufen konnte, lief von Anfang an schief. Wie Olaf Thon einmal sagte, kam zum fehlenden Glück in der Silvesternacht auch noch Pech hinzu. Wobei man sich fragen muss, welcher unglückselige Ratgeber auf diese seltsame Idee kam, im Freien die Botschaft aufzunehmen, wo doch in Deutschland das Böllern zum Brauch am Jahreswechsel gehört, was man selbst im Verteidigungsministerium wissen könnte, Und dann kam der Hinweis auf den Krieg in der Ukraine eben im Hagel der Raketen. Schlimmer geht’s immer, tja.

Ich habe Mitleid mit Christine Lambrecht, wie ich mit vielen Verteidigungsministern und -innen Mitleid hatte. Kein Anlauf wird ihnen gewährt, kein Einarbeiten, keine Atempause eingeräumt. Von der ersten Minute an sollen sie funktionieren, was nur heißt, dass sie von Leuten abhängig sich, die sie noch nicht kennen, und die schon viele Minister und Ministerinnen kommen und gehen sahen.

Christine Lambrecht amtiert wohl nur noch auf Abruf. Mein Mitleid gilt jetzt schon der Nachfolgerin oder dem Nachfolger.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Wir Besserwisser

Das Schöne und Schwere zugleich ist das Nachdenken über das zurückliegende Jahr und die Folgen für das kommende. Privat kann man sich vieles vornehmen. Jetzt erst mal weniger Alkohol. Weniger Fleisch, weniger Fisch. Überhaupt bewusster leben. Freunde pflegen. Eltern öfter besuchen.

Beim Jahreswechsel ist die Welt mit guten Wünsche und Vorsätzen gepflastert, wobei  die meisten von uns ahnen, dass sie sich auf Dauer nur schwerlich erfüllen lassen. Oft scheitern wir an unserer Bequemlichkeit oder dem Stress oder auch an Sachzwängen. Aber egal, mancher Anspruch lässt sich ja trotz Widrigkeiten durchsetzen. Warum nicht diesmal mehr davon als im letzten Jahr?

Das Bedürfnis nach Optimierung macht sich alle Jahre wieder bemerkbar. Also sollten wir diesen Drang ernst nehmen. Vielleicht wächst so die Chance auf Besserung. Natürlich ist Skepsis angebracht, weil wir noch aus dem Jahreswechsel 21 auf 22 wissen, dass wir weniger Vorhaben erfüllt haben, als wir es uns  wünschen würden. Aber so sind Menschen eben, so sind wir eben. Uns glückt unterschiedlich viel und oft genug entsteht eine Diskrepanz zwischen Absicht und Wirklichkeit.

Uns gegenüber üben wir Nachsicht. Was aber bei Meinungsumfragen, zum Beispiel über Scholz und die anderen, neuerdings auffällt, ist die Unduldsamkeit der Regierten gegenüber den Regierenden. So Imperfekt wir selber auch sein mögen, so viel Perfektion verlangen wir von Scholz/Habeck/Lindner etc. Mich irritiert diese Neigung zur Besserwisserei, zur Rechthaberei.

Unsere Abhängigkeit von russischem Gas erwies sich, zum Beispiel, seit dem Ukraine-Krieg als Riesenproblem. Aber nur im heuchlerischen Rückblick erweist sich als falsch, was lange richtig gewesen war. Hätte etwa im Jahr 2014 die Bundeskanzlerin Angela Merkel aus der Annexion der Krim die Konsequenz gezogen, dass sich Deutschland unbedingt aus russischer Abhängigkeit lösen muss, weil möglicherweise ein Krieg bevorsteht, wäre sie eine einsame Ruferin im Walde geblieben, über die sich halb Deutschland lustig gemacht hätte. Denn die Industrie, die Wirtschaft, die Privathaushalte genossen liebend gerne den Vorzug billiger Energie und hätten darauf niemals freiwillig verzichtet. Merkel wäre die Kassandra gewesen, der keiner glaubt.

Nur in der Retrospektive lässt sich eine Kausalität zwischen 2014 und 2022 herstellen. Aber woher wollen wir wissen, dass Wladimir Putin schon damals felsenfest entschlossen war, acht Jahre später die Ukraine zu überfallen? 

Nur im Rückblick sind wir schlauer als die Bundeskanzlerin oder der Bundestrainer. Dabei sollten wir einige Übung in Fassungslosigkeit haben. Wer hat 1989 vorhergesehen? Wer 9/11? Wer die Blamagen der deutschen Mannschaft 2018 und 2022?

Vielleicht ist ja der Wunsch einfach übermächtig, wenigstens im Nachhinein Recht zu behalten, und dafür nimmt man die Heuchelei in kauf, die im Besserwissertum nistet. Der „Spiegel“ hatte früher die Eigenart zu beweisen, dass ein Ereignis, ein Unfall, ein Krieg unbedingt vermeidbar gewesen wären, wem alle nur richtig gehandelt hätten. Ein Maximum an Rechthaberei. Heute ist daraus fast ein Volkssport geworden. Heute wollen wir allesamt immer schon klüger gewesen sein, als wir je waren.

Schön wäre es, wenn wir rechtzeitig wüssten, was sich aus einem Ereignis von heute dann morgen entwickeln wird. Schön wäre es auch, wenn sich durch richtiges Handeln heute ein Ereignis von morgen vermeiden ließe. Aber die Geschichte wie das Leben treiben ihr eigenes Spiel, und deshalb sind wir immer wieder aufs Neue maßlos verblüfft darüber, was über uns hereinbricht. Und uns bleibt nichts anderes übrig, als mit den rasanten Ereignissen mitzuhalten und aus ihnen schlau zu werden. 

Zu den guten Vorsätzen für 2023 könnte ja gehören, dass wir weniger zielsicher in die Falle der Rechthaberei tappen. In Wahrheit wissen wir ja, dass wir nur hinterher genau wissen, was sich ereignet hat, und dass retrospektive Besserwisserei keine angenehme Tugend ist. Womöglich lässt sich durch diese Einsicht die herrschende Unduldsamkeit  bändigen. 

Davon könnte dann auch unser Verhältnis zu den handelnden Personen profitieren. Es liegt auf der Hand, dass sich die amtierende Regierung vom ersten Tag im Bann unabsehbarer Ereignisse von historischem Ausmaß befand. Sollte man ihr das nicht zugute halten? Hat die Regierung Scholz in der Kombination aus Krieg und Energiekrise vielleicht sogar richtig gehandelt? Durch Irrtümer und Fehleinschätzungen arbeitete sie sich zu großzügigem Handeln vor, von denen viele profitieren. Ist doch was, oder?

Es wäre doch gar nicht schlecht, wenn wir die Nachsicht, mit der wir uns bedenken, mal auf die Regierung ausdehnen würden. Nur mal so zur Abwechslung. und meinetwegen auch auf Widerruf.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Kluger Apologet der zynischen Kirche

Es waren einmal zwei gottesfromme Brüder aus Marktl am Inn, die ihr Leben der Heiligen Kirche  widmen wollten. Sie stammten aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Gendarmeriemeister, die Mutter Köchin. Ihre beiden Söhne waren ehrgeizig und intelligent und strebten hienieden andere geistige Sphären an.

Der große Tag zur Einkehr beim Herrn ereignete sich am 29. Juni des Jahres 1951. Auf einem ikonischen Foto sind sie im Chorhemd zu sehen, einem weißen Leinengewand mit weitem Ärmel. Im Freisinger Dom werden die Brüder Georg und Joseph Ratzinger zu Priestern geweiht. Georg ist 27, Joseph 24. Aus Georg wird der Domkapellmeister und Leiter der Regensburger Domspatzen, aus Joseph ein Großintellektueller und Apologet der katholischen Kirche und schließlich im Jahr 2005 ein Überraschungspapst. „Wir sind Papst“, lautete die vielleicht genialste aller „Bild“-Schlagzeilen.

Ja, irgendwie waren auch wir stolz auf ihn, wir Kulturprotestanten, die von je her ein gespaltenes Verhältnis zur uralten Kirche der Katholiken hatten. Die Schönheit der Gotteshäuser. Die herrlichen gregorianischen Gesänge. Einerseits. Und andererseits die Inquisition. Die Weihe für die  Konquistadoren, die eine Rechtfertigung für die Ausrottung indigener Völker brauchten. Und dann diese ungeheure Heuchelei, der Martin Luther mit seiner Abspaltung ein Ende machen wollte.

Man stelle sich vor, die katholische Kirche wäre dem Rebellen im 16. Jahrhundert gefolgt und hätte es seinen Priestern erlaubt zu heiraten. Wie vielen Jungen und Mädchen, Frauen und Männern wäre diese Orgie der Misshandlungen, Vergewaltigungen und Schädigungen für ein ganzes Leben erspart geblieben. Wie human wäre diese Reform gewesen.

Denn sie gingen ja einher, das Papsttum Benedikt XVI., und  die erschütternde Erhellung der dunkelsten Seite des Katholizismus, die vermutlich ebenso lange schon währt wie die Institution selber. Ihr ging es um den Schutz vor Aufklärung und so bewahrte sie ihre schwarzen Schafe so lange wie möglich vor strafrechtlicher Verfolgung. Nur zu oft wurden Serientäter von einem Bistum in ein anderes Bistum versetzt. Nicht die Opfer lagen der Kirche am Herzen, sondern ihre kriminellen Brüder im Ornat.

Es wäre schön, wenn die Gebrüder Ratzinger ganz anders gewesen wären. Georg warf mit Notenständern um sich, wenn die Domspatzen ihm missfielen, verteilte auch Ohrfeigen, wie er zugab. Ein Milieu aus Angst und Gewalt für die armen Kinder. Ein Sonderermittler bescheinigte Ratzinger persönlich Nettigkeit und Milde jenseits der Proben, immerhin. Für Sadismus und sexuelle Übergriffe waren andere Seelsorger in Regensburg verantwortlich. Die rund 400 Opfer, die nach vorne getreten waren, wurden finanziell entschädigt.

Joseph konnte sich zuerst nicht und dann doch an vier Fälle des Missbrauchs erinnern, als er Kardinal von München und Freising gewesen war. In seiner sentimental angehauchten Stellungnahme sprach er viel von seiner Scham und seinem Schmerz, bevor er eher beiläufig die lebenslange Versündigung an den Missbrauchten erwähnte.

Joseph war in seinen jüngeren Jahren ein progressiver Geistlicher gewesen. Als er aus München nach Rom wechselte, war davon nicht mehr viel zu bemerken. Selten ist die katholische Kirche intellektuell und geistig ähnlich elaboriert verteidigt worden als von ihm. Johannes Paul II., der polnische Papst, war eher ein Gemütsmensch gewesen, der aus politischen Gründen gewählt worden war und politisch wirkte, weil die Zeit politisch war: 1978 wurde er gewählt, als in Polen eine ernsthafte Alternative zum Kommunismus entstand. Er amtierte bis 2005, enorm lange, unter ihm triumphierte der Katholizismus tatsächlich über den Kommunismus.

Benedikt war die Alternative. Klug. Institutionentreu. Statusbewusst. Reformfeindlich. Immerhin siechte er im Amt nicht so dahin wie sein Vorgänger, der am Ende ein ebenso bemitleidenswertes wie jämmerliches Zerrbild seiner selbst war. Benedikt XVI. trat 2013 zurück, zog sich zurück und schaute aus der Ferne dazu, wie sich sein Nachfolger Franziskus um eine maßvolle innere Korrektur der halsstarrigen, uneinsichtigen, eiskalten, zynischen Kirche bemühte und damit stecken blieb, was sonst.

Nun ist er tot, der Bub aus Marktl, unser Papst. Zu gerne wüsste man, ob er, der Intellektuelle, an eine Auferstehung im Jenseits glaubte.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.