Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 20. März 2020

Was immer die Bundesregierung und die Länderregierungen, die Regierungspräsidenten und Landräte, die Oberbürgermeister und Bürgermeister uns an Verboten auferlegen, wird zu Regel und Gesetz nach langen Erörterungen. Jede Maßnahme ist beispiellos, egal ob die Bundesliga den Spielbetrieb einstellt, Kinderspielplätze schließen oder Milliarden Euro für Kleinunternehmen zur Verfügung gestellt werden.

Unfassbar beispiellos ist aber vor allem dies: Die Grundlage für politische Entscheidungen dieser enormen Reichweite ist schmal. Sie beruht auf vorläufigem Wissen, dass wenig mehr ist als eine Ahnung über die Beschaffenheit des Virus. Zuerst hieß es, wir müssten es einigermaßen glimpflich in die Wärme schaffen, dann werde sich die Krankheitskurve abflachen. Jetzt heißt es, stimmt nicht, Covid-19 ist wärmeresistent.

Willkürlich sind die Daten, die herumschwirren. Die nächste Etappe erreichen wir nach den verlängerten Osterferien, heißt es zunächst. Können die Kinder danach in die Schule gehen und die Studenten an die Unis zurückkehren? Und wie lange steht die Volkswirtschaft den systematischen Stillstand durch? Weder Politiker noch Virologen stellen Prognosen über die Dauer des Ausnahmezustandes. Können sie nach eigener Auskunft ja auch nicht. Also kann die Rückkehr zur Normalität irgendwann nur ebenso willkürlich gesetzt werden wie die Abkehr davon.

Was ist das Kriterium? Wenn der Staat alles Geld in Groß- und Kleinunternehmen gepumpt hat, die Finanzämter auf Steuerzahlungen bis zum Anschlag verzichtet haben und Industrie, Wirtschaft und Mittelstand der Bundesregierung bedeuten: Von jetzt an wird der Schaden unermesslich, hört auf damit, Bedenken hin oder her, die Rezession ist schon da und die Aktienkurse sind sowieso im Keller?

Solche Entscheidungen trifft niemand freiwillig, geschweige denn gerne, wahrscheinlich nicht einmal Markus Söder. Wie gut, dass die Kanzlerin noch Angela Merkel heißt. Ihr traut man am ehesten die richtige Entscheidung im richtigen Moment zu. Ihr traut man. Noch.

Wie skeptisch man auch immer sein mag, so dürften doch nur hochgradig Anfällige für wilde Verschwörungstheorien Merkel und den anderen niedrige Beweggründe für ihre radikalen Unterbrechungen der liberalen Demokratie  unterstellen. Sie wollen Gutes tun oder wenigstens das Richtige und wandeln auf einem schmalen Grat. Sie folgen den Virologen, von denen ein Prachtexemplar wie Christian Drosten zum Ratgeber der Regierung aufgestiegen ist, ein sympathischer Wuschelkopf, der in verständlichem Deutsch komplexe Prozesse erläutern kann. Er arbeitet auf der Basis von Studien, die im Corona-Ursprungsland China und im europäischen Menetekel Italien entstanden sind und entstehen. Das Wissen wächst und Drosten lässt uns an der Vermehrung der Kenntnisse teilhaben. Sein Podcast „Coronavirus Update“, in dem ihn eine NDR-Redakteurin interviewt, sind zum Kult geworden.

Italien übertrifft mit 3 405 Toten China mit 3133 Toten, lernen wir, gefolgt von Iran (1 284). 35 000 Italiener haben sich bislang infiziert. Woran sie starben, untersuchte das italienisch Institut für Gesundheit an 2000 Opfern. Die Mehrheit von ihnen litten unter hohem Blutdruck oder an Diabetes, an Herz-Kreislau-Schwäche oder Nierenproblemen. Die Hälfte der Toten hatten eine Vorgeschichte mit sogar drei schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt bei 79,5 Jahren. Bis heute sind nur 17 Menschen unter 50 an der Krankheit gestorben. Nur 3 von allen 2000 waren vor Corona beschwerdefrei gewesen, das sind 0,8 Prozent. Oder wussten sie nur nichts von organischen Schwierigkeiten?

In Deutschland haben sich bis heute 15 320 Menschen infiziert, 44 sind gestorben und 113 sind schon wieder genesen. Lothar Wieler vom Robert- Koch-Institut unterbreitet uns täglich die neuen Zahlen, schränkt sie aber immer wieder ein, weil es offizielle Zahlen sind. Salvatorische Klauseln sind also angebracht, die mit „angeblich“ oder „vermutlich“ oder „wahrscheinlich“ beginnen, und somit sind Informationen immer nur relativ sicher. Südkorea und Japan testen angeblich eifrig und flachen angeblich so den Kurvenverlauf ab. Amerika fängt jetzt erst richtig mit dem Testen an, wobei Kalifornien schnell Ausgangsbeschränkungen auferlegt. Stand heute, offiziell, gibt es weltweit 200 000 Infizierte, Tendenz steigend, was sonst.

Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wir bekommen irgendwann italienische Verhältnisse, sagt Herr Wieler mit seiner sonoren Stimme möglichst unaufgeregt. Muss ich mich jetzt sorgen? Ich bin gerade 70 geworden, fühle mich bestens, spiel Tennis und gehe ins Fitness-Training, habe einen Bandscheibenvorfall hinter mir und nahm meine Grippe im November. War das in Wirklichkeit Covid-19? Woher soll ich das wissen. Meine Frau ließ sich sicherheitshalber testen, negativ, sie ist Intendantin des rbb und eine Infektion würde die gesamte Leitungsebene des Senders zu häuslicher Quarantäne verdammen. Meinen Geburtstag habe ich mit wenigen Freunden und Familie gefeiert, wir waren 11, und uns war klar, dass wir so zahlreich (11!) nicht so schnell wieder zusammen kommen würden.

Zahlen jagen uns. Ihnen sind wir hörig. Wir vergleichen uns mit Italien und sagen: Ist doch klar, Anarchie und Korruption, kann ja nichts werden, kaum eine Chance gegen Corona. Andererseits drohen uns mit unserem besseren Gesundheitssystem und unserem Organisationstalent italienische Verhältnisse, wie Herr Wieler trocken sagt? Uns?

In resignativer Stimmung sage ich mir: Zahlen, die ohnehin nicht stimmen, kann ich genau so gut ignorieren. Statistiken sagen alles und auch nichts. Wenn nur 0,8 Prozent der Toten keine Krankeitsvorgeschichte hatten, ist das schön für alle anderen, aber was nützt es mir, wenn ich zu den 0,8 gehöre? Und sind 200 000 Infizierte weltweit eigentlich nicht ungeheuer wenig? 10 031 Tote: Was bedeutet diese Zahl – viel oder wenig? Sterben nicht so viele Menschen jedes Mal auf Gottes Erdboden, wenn die Tage schlimm sind, in heißen Sommern und in trüben November?  Oder in Syrien? Und sage ich nicht sonst immer: Ich glaube nur an die Statistik, die ich selber aufstelle – oder auch, die ich selber gefälscht habe?

Ich verwandele mich im Schnellverfahren aus einem Ignoranten in einen Halbinformierten aus zweiter Hand. Mir geht Covid-19 flüssig von den Lippen. Ich weiß, das erzählt mir Herr Wieler gerade aufs Neue, dass trockener Husten ein starkes Symptom ist, und dass rund 40 Prozent der Erkrankten Fieber bekommen. Ich schaue mir die interaktive Online-Karte an, die auf Daten der Weltgesundheitsbehörde WHO, der nationalen Behörden zur Seuchenprävention und Gesundheitsämtern beruht, die in Echtzeit aktualisiert wird. Das alles trägt die Johns Hopkins Universität in Baltimore zusammen. Ich schaue auf die Charts, wie ich sonst morgens 

nachschaue, wie die Dallas Mavericks in der Nacht gespielt haben. 

Ich weiß über Corona mehr, als ich je wissen wollte. Ich nerve mich selber damit, dass ich wie ein Schwamm Halbwissen aufsauge, das für die wenigen Gespräche mit den wenigen Menschen ausreicht, die ich noch treffe. Abend für Abend sitze ich auf meinem Sofa und schaue Sendungen, die ich sonst nicht gucke. Bei Anne Will imponiert mir eine Infektologin namens Susanne Herold, weil sie klug und schön ist. Bei Sandra Maischberger höre ich sogar Karl Lauterbach zu, dessen näselnden Welterklärungssingsang ich an normalen Tagen kaum ertrage. Und wieder schaue ich wohlgefällig auf Susanne Herold, die ein Klinikchef aus Eschweiler sinnvoll ergänzt. Markus Lanz rückt Finanzminister Scholz mit seinen frettchenhaften Fragen auf die Pelle, die der ruhig und souverän beantwortet.

Talk Shows werden zu Informationsshows. Die Geladenen labern nicht. Sie reden zur Sache. Eitelkeiten halten sie im Zaum. Der Moderator oder die Moderatorin stellt eine verständliche Frage und die Gäste antworten verständlich. Wer redet, redet so lange, bis die Frage beantwortet ist. Kein Moderator muss sich gegen lärmendes Stimmengewirr lauthals durchsetzen. Jeder Moderator ist erstaunlich gut vorbereitet. Das Setting ist Corona angemessen. Weniger Gäste als sonst sitzen sehr viel weiter auseinander als sonst. Mehr Wissenschaftler als Politiker sitzen im Studio und die Politiker sitzen in ihrer Eigenschaft als Handelnde da und nicht als Kandidaten für den CDU-Vorsitz (wie Armin Laschet) oder als eingefleischter Sozialdemokrat (wie Karl Lauterbach). Das Virus verwandelt Politik-Maschinen in kundige Minister und besorgte Ministerpräsidenten, wie angenehm.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, über den sich viele Menschen aus vielen Gründen blendend aufregen können, erlebt Sternstunden in dieser Krise. Es ist eben ein enormer Vorteil, wenn ein Land ein Fernseh- und Radiosystem besitzt, auf das sich die Menschen in Krisen verlassen können, egal ob an 9/11, beim Tsunami in Japan oder der Weltfinanzkrise und nun eben Corona. Die neue Sachlichkeit beginnt mit den Nachrichten und den darauf folgenden Sondersendungen, die in den dritten Programmen regional fortgesetzt werden. Die Kanzleriden-Ansprache sahen ZDF im 19.30 Uhr fast 9 Millionen Zuschauer, genauso viel wie später in der ARD. Tagesschau/Tagesthemen und heute-Sendungen haben viel höhere Quoten als üblicherweise.

Ich kann jetzt Sport in meiner Wohnung mit RadioEins um 9.30 treiben. Ich bekomme nach Belieben Corona-Updates im Netz. Die Fernsehsender streamen online Konzerte mit Igor Levitt oder Lang Lang, sie übertragen Carmen, sie lassen sich was einfallen, ja wirklich, sie entfalten ihre Stärke und sind glücklich darüber, dass es kein Staatssekretär für sinnvoll hält, von den Intendanten Gehaltskürzung zu verlangen.

Wenn in der Demokratie die Öffentlichkeit eingeschränkt ist, werden öffentliche Rundfunksender umso wichtiger. Sie sind schneller, natürlich. Mir blutet das Herz als Printmensch, wenn ich sehe, wie alt die Zeitungen sind, wenn sie im Briefkasten stecken. Ja, ich lese Hintergründiges, aber meistens weiß ich schon mehr am Morgen, als am Abend in den Druck ging. Schlimmer noch ergeht es meinem Blatt, dem „Spiegel“, der sich redlich müht, seine Titelgeschichten in die kommende Woche zu projizieren, aber von der gewaltigen Dynamik der Ereignisse überrollt wird. Ich bin froh, dass ich an diesem Rad nicht drehen muss.

Gerade waren es noch Mitterteich und Wunsiedel. Jetzt schränkt Freiburg als erste deutsche Großstadt die Bewegungsfreiheit seiner Bürger ein. Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Markus Söder rügen aufs Schärfste die Corona-Partys, die offenbar überall statt finden. Gleich darauf  geht Bayern vom Androhen zum Verwirklichen über und verhängt eine Ausgangssperre mit genau definierten Ausnahmen: Wer Sport betreibt oder mit seiner Familie spazieren geht, darf das. Wer arbeiten oder zur Apotheke oder zum Arzt gehen muss, darf das. Eine halbe Stunde später folgt das Saarland, das in einer Sonderlage ist mit der offenen Grenze zu Frankreich, über die Menschen wegen ihres Jobs pendeln. 

Übermorgen, am Sonntag kommen alle 16 Regierungschefs mit der Kanzlerin zusammen. Wenn es ein Land tut, dann müssen es alle Länder tun, das ist die bayerische Logik. Ich muss noch ein paar Bücher kaufen. Frischobst wäre gut. Darf ich in Berlin dann noch joggen, wo doch Hundebesitzer Gassi gehen können?

Ich werde sentimental. Im Radio läuft „You’ll never walk alone“ von Gerry and the Pacemakers“, der zurecht vergessenen britischen Band aus den Sechzigern. Ich singe es normalerweise im Stadion von Borussia Dortmund mit 80 000 Zuschauern vor Spielbeginn und liebe das Lied wie jeder Fußballanhänger. Um 8.45 Uhr spielen 180 Radiosender in 30 europäischen Ländern die Hymne, die ursprünglich 1945 für ein kitschiges Musical geschrieben worden war. Ich drehe das Radio auf und singe aus vollem Hals mit und mir kommen die Tränen. Corona spielt mit meinen Gefühlen.

Ich überlege mir, ob ich um 21 Uhr auf den Balkon zum Klatschen gehen. Ist das neue Ritual. Wir klatschen für die Ärzte, Pfleger und Schwester, für Polizisten und Altenpflegern. Für alle, die wir sonst übersehen und jetzt das Ganze am Laufen halten. Machen sie überall in Europa. Ist eigentlich schön. Oder handelt es sich um Corona-Kitsch? Oder ist es schön und kitschig zugleich? Wie werden wir über uns denken, wenn alles vorbei ist? Und wann ist es vorbei? Mein Held Christian Drosten, sagt: vielleicht in einem Jahr. Echt jetzt?