Markus Söder spricht das Wort aus. Gut möglich, dass es zu einer Ausgangssperre kommt, sagt er in einer Regierungserklärung. Nimmt er dasWort, das die Kanzlerin nicht in den Mund, in seinen Mund in einer Arbeitsteilung: Du sagst es nicht, das nehme ich dir ab, dann bleibt dir Spielraum. Oder macht er, was bayerische Ministerpräsidenten immer gemacht haben: Plustert sich auf, tut sich hervor, traut sich, was sich die Kanzlerin nicht traut und lässt es Bayern und die Welt wissen, dass er sich vor nichts fürchtet, nicht vor der Kanzlerin, nicht vor der Wahrheit, nicht vor dem Virus. Zuzutrauen ist ihm beides: der Dienst an der Sache und die Angeberei.
Markus Söder ist der Wandelbare, aus Gummi. Er kann sich von heute auf morgen verändern. Ihm muss man einiges zutrauen und genau das will er so. Momentan trauen ihm einige Beobachter den Kanzler zu, eine Ambition, die er weit von sich weist, wie man es eben so macht, wenn man dafür sorgt, dass andere darüber reden, was einem schmeichelt. Stand heute ist der Söder Markus ein entschlossen Handelnder, ein Muster an Regierungschef. Die oberpfälzische Kleinstadt Mitterteich erhält das Privileg, die erste deutsche Gemeinde mit Ausgangssperre zu sein. Verhängt hat sie der Landrat, der den Freien Wählern angehört.
Die Entscheidung fiel im Krisenstab aus Vertretern der Bundeswehr, Ärzten, und Polizisten. Die Zahl der Infizierten war seit Tagen gestiegen. Inzwischen sind es 61, davon 27 in Mitterteich, einer Stadt mit rund 6500 Einwohnern. 15 Infizierte sind im Krankenhaus, fünf müssen beatmet werden. Umgelegt auf die Einwohnerzahl bedeutet das: 3,8 von 1000 sind an Corona erkrankt. Im Landkreis Heinsberg waren 1,8 Krankheitsfälle auf 1000 Einwohner der Grund zur Panik gewesen.
Nach der Entscheidung rückt die Feuerwehr aus und sorgt dafür, dass die Verfügung in sämtlichen Briefkästen landet. Zusätzlich fahren Autos mit Megaphonen durch die Straßen und verkünden die unfrohe Botschaft. Die Polizei kontrolliert jetzt Autos, die unterwegs sind, ob sie unterwegs sein dürfen. Wer behauptet, er sei auf dem Weg zur Arbeit, muss eine Bescheinigung des Arbeitgebers vorweisen. Man darf noch einkaufen, zur Apotheke oder zum Arzt gehen, man kann tanken, zum Geldautomaten stiefeln, Fressen für seinen Hund oder seine Katze besorgen.
Grundlage für die Verfügung in Mitterteich ist Paragraf 28 des Infektionsschutzgesetzes, wonach Behörden Personen verpflichten können, „den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten“. Verstöße können laut Paragraf 75 mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden.
Warum Mitterteich? Am 7. März fand dort das 41. Starkbierfest statt, das ist eine traditionsreiche Trink- und Fressveranstaltung, zu der Menschen aus der ganzen Region strömen, interessanterweise in der Mehrzahl Junge in Dirndl und Lederhose, dazu Ältere, während soziologisch gesehen die Mittelalten fehlen. Womöglich, sagt Landrat Wolfgang Lippert, sei da ein Infizierter herumgelaufen. Die Epidemiologen sollen nun Aufschluss geben, wie das Virus grassiert.
Markus Söder kündigt in seiner Regierungserklärung an, dass auch der oberfränkische Landkreis Wunsiedel vor einer Ausgangssperre steht, wobei aus der Ankündigung rasch Wirklichkeit wird. Söder wirkt wachsam und konzentriert, was ihm gut steht, was er selbstverständlich weiß. Kein Bild ist in diesen Tagen ein Zufall. Keine Geste. Es geht um Kontrolle des Unkontrollierbaren. Es geht um Beruhigung. Es geht um Führung, um Autorität. Selbstverständlich auch um Karrieren, die durch die Seuche beschleunigt oder ruiniert werden kann, wer weiß das schon.
Söder ist ein durchsichtiger Mensch. Ihm merkt man an, wie er sich fühlt. Diese unruhigen Augen. Das Kantige. Die Ungeduld, wenn ein Journalist ihn langweilt. Die Arroganz in Sandra-Maischbergers-Talkshow gegenüber Gerhart Baum, den alten, wachen, klugen Liberalen. Söder, der Franke, redet schnell. Er entscheidet schnell, weil er schnell entscheiden will, weil das die Leute erwarten. Darüber kann man sich lustig machen nach dem Motto: Schau her, der Söder Markus, der Sauhund, spielt Staatsmann. Aber was soll er sonst spielen und spielt er wirklich nur? Er ist, was er spielt, soviel steht fest. Und man kann es auch so sehen: Der Söder Markus erweist sich der Herausforderung gewachsen und denkt schon weiter, das bestimmt.
Ohnehin lernen wir bekannte Gesichter mit neuen Augen kennen. Die umfassende Nüchternheit der Kanzlerin ist plötzlich von Pathos durchwirkt. Stärken werden wieder als Stärken sichtbar und nicht als Schwächen. An Olaf Scholz fällt die ruhige Kompetenz und das Hanseatische wohltuend auf. An Heiko Maas schätzen wir plötzlich den lässigen Umgang mit der Bürokratie, als er deutsche Urlauber von überall her nach Hause holt und dazu sagt, die Frage der Bezahlung hätte er jetzt mal zurückgestellt. Armin Laschet ist allgegenwärtig in Print und Fernsehen und strahlt gelassene Konzentration aus. Er lässt sich nicht anmerken, dass er in Kürze CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat werden möchte, er ist nicht durchsichtig wie Söder. Er verlässt sich auf die Wirkung, die eintritt, wenn er jetzt vieles richtig macht.
Es ist ernst, sagt die Kanzlerin. Der Ernst richtet die üblichen Verdächtigen neu aus. Politik ist in einem anderen Modus, im Ernst-Modus. Das Selbstreferentielle fällt weg, die lästigen Versuche, sich selber oder seine Partei herauszustellen, das Protzige, das Ideologische, ja, das fällt besonders angenehm weg. Die ganze Demokratie ist im Ernst-Modus. Robert Habeck lobt Angela Merkel über den grünen Klee.
Das Echo auf die Fernsehansprache ist fast unisonongut. Nur Journalisten wie der Morning-Briefing-Guru Gabor Steingart gehen einen Sonderweg, indem sie in alter Manier pompös rechthabern: Angela Merkel hat in der Pose der zürnenden Mutti geredet, meint Steingart, das hat er exklusiv. Er führt auch 7 Fehler der Regierung im Umgang mit Corona auf (natürlich in Anspielung auf die 7 Todsünden). Wo ziemlich viele ziemlich einer Meinung sind, nämlich dass die Mutti das richtig gut gemacht hat und den Ton trifft, findet sich immer jemand, der durch abweichende Meinungen auffallen will.
Ja, irgendwann werden wir ein Resümee ziehen, bei dem es darum gehen wird, was die Kanzlerin versäumt hat oder die Regierungen in Bund und Land früher hätten einleiten sollen. Auch Journalisten sind im Ernst-Modus und halten sich mit Kritikastern zurück. Ist Corona vorbei, ist auch die Zurückhaltung vorbei. Wir werden rekonstruieren, was los war. Wir werden aus dem Inneren der Macht erzählen, wer was wann irrig gemacht und falsch gesagt hat. Diejenigen in der CDU, CSU und der SPD, die momentan zu kurz kommen, werden uns erzählen, was für ein Fehler es war, dass sie zu kurz kamen. Mit Kritik erhöhen wir uns. Das ist manchmal angebracht, aber nicht immer und schon gar nicht aus Prinzip. Wäre ja nicht schlecht, wenn Corona nicht nur unsere Regierenden mit Demut überziehen würde, sondern auch uns. Bescheidenheit ziert und macht Menschen angenehm, oder?
In Wahrheit wissen wir heute nicht, was wir übermorgen denken werden. Wir lernen täglich hinzu, jeder von uns. Das einzige, das wir heute schon wissen, ist dies: Die Bundeskanzlerin wird in den Geschichtsbüchern daran gemessen werden, wie sie das Land durch die Seuche gelotst hat. Es geht um ihr Vermächtnis. Ich bin mir sicher, dass sie sich momentan darum aber wenig schert. Wichtig nimmt sie sich persönlich nicht, aber den nationalen Notstand, wie man den Zustand nennen muss, wenn das öffentliche Leben aussetzt und der Kapitalismus ins künstliche Koma sinkt.