Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 18. März 2020

Die Bundeskanzlerin macht das, was sie sonst Auf-Teufel-komm-raus vermeidet. Sie geht ins Fernsehen, hält eine Ansprache, pragmatisch und passioniert, beschwört uns alle, wir mögen uns an die Regeln halten, sie ist die Angela Merkel, von der wir Journalisten immer gesagt haben, dass es gegen ihr Wesen sei, eine Blut-Schweiß-Tränen-Rede zu halten, ja, wir hatten jahrelang Recht und weil sie es diesmal tut, wissen wir spätestens jetzt, wie ernst sie das Virus einschätzt, wie ernst die Lage ist.

Vor zwei Wochen habe ich in meiner Montags-Kolumne auf t-online geschrieben, dass sie ein Vakuum im Kanzleramt darstellt. Das Virus hatte sich heimisch in Deutschland eingerichtet, griff langsam um sich, tückisch und unaufhaltsam, und die Kanzlerin überließ Jens Spahn die Einstimmung der Öffentlichkeit auf das Drama, während der türkische Präsident es sich einfallen ließ, mal ein paar Flüchtlinge über die Grenze ziehen zu lassen, damit sie Europa mit Elendsbildern schocken, was er zynisch erreichte. Auch dazu sagte Angela Merkel nichts. Meine goldenen Worten lasen sich so: „In schwierigen Zeiten braucht das Land Führung, wann denn sonst. Wer sie nicht ausübt, verliert an Autorität. Wer übermäßig schweigt, macht sich verzichtbar. Wer abwesend ist, verkürzt seine Verweildauer im Amt. Wer Unmut auf sich zieht, und der Unmut in Berlin wächst über die Kanzlerin, der beschwört Rücktrittswünsche herauf.“

Das Bestürzende an unserer Zeit mit Corona ist die rasende Geschwindigkeit mit der morgen hinfällig ist, was wir heute sagen und wissen und für richtig halten. Und morgen sind wir wieder weiter und klüger, aber alles was wir sagen und denken und die Regierung sagt und macht steht unter Vorbehalt.

Die gute Nachricht ist: Die Kanzlerin schweigt nicht mehr. Sie führt.

Krisen kann sie. Dafür hat sie das angemessene Gemüt und das passende Temperament. In Krisen ist sie schnell. Als sich die Weltfinanzkrise im Frühherbst 2007 abzeichnete, sagte sie das Richtige und beruhigte Menschen wie Märkte. Auch nutzt sie Krisen. Als der Tsunami über Japan herfiel, zog sie schlagartig die Konsequenz und zerstörte das Geschäftsmodell Kernkraft in Deutschland. Als sich die Flüchtlinge Im Elendstross über die Balkanroute quälten, sagte sie, wir schaffen das, berücksichtigte aber leider die Vorzüge einer Doppelstrategie, die das eine sagt und das andere nicht vergisst. Dialektik ist Absicherung nach allen Seiten, eigentlich ihre Stärke.

Das Virus ist wie der Tsunami und genauso unheimlich. Irgendwo in der Provinz Hubei auf einem Markt mit lebenden Tieren ist Covid-19 von einem dieser Tiere auf den Menschen übergesprungen und rafft seither die Alten dahin und verschont die Jungen, es sei denn sie haben ein Herzleiden oder ein Nierenleiden oder ihr Immunsystem ist aus anderen Gründen derart geschwächt, dass sich das Virus im Körper austobt, bis der heimgesuchte Mensch tot ist.

Die Weltfinanzkrise war ein Hütchenspiel der Banken. Die Flüchtlingskrise war eine Folge der Kriege in Syrien und dem Irak und ausbeuterischer und unfähiger Regierungen in Afrika, so dass viele Menschen sich auf den Weg nach Europa machen. Für diese Krisen gib es  Ursachen und Folgen. Täter und Opfer.

Die Seuche ist der singuläre Täter. Sie kennt nur Opfer und aberwitzige Folgen. Sie stellt zwei Fragen: Wie viele von euch kann ich infizieren und wie viele kann ich töten? Daraus entwickeln sich zwei Fragen für die Regierungen und Bürger in Demokratien: Wie viele Infizierte und Tote halten wir aus? Wie viel Freiheit und Grundrechte lassen wir uns im Kampf gegen Corona nehmen?

Das sind ungeheure Fragen im Frieden. Menschheitsfragen. Autokraten und Diktaturen und liberale Demokratien auf allen Kontinenten haben keine Chance, ihnen auszuweichen. Jedes Land handelt für sich, aber alle ergreifen die gleichen Vorkehrungen und Massnahmen. Jedes Land schottet sich ab, als sei die Wiederkehr des Nationalstaates eine Lösung. Jedes Land leidet unter den gleichen Problemen, die der Mangel an Schutzkleidung und Gesichtsmasken, Krankenhausbetten und Intensivstationen, die zu geringe Zahl an Ärzten und Krankenhauspersonal aufwerfen.

Politik in diesen Tagen stürzt sich auf das Virus und die Virologen werden zu Ratgebern, so dass ihnen ein unerhörter Einfluss zukommt. Was sie wissen und jeden Tag Neues über die Seuche erfahren, fließt in Regierungshandeln und Sachstandsinformationen auf Pressekonferenzen ein. Ohne dass Angela Merkel den kontaminierten Ausdruck in den Mund nimmt, steckt er in jeder Maßnahme, die sie in diesen Tag trifft: Es gibt keine Alternative. 

In ihrer Rede nimmt die Kanzlerin das Wort Ausgangssperre nicht in den Mund. Wie es ihrer Art entspricht, behält sie sich Steigerungsformen vor, falls die Bürgerinnen und Bürger, die sie anspricht, sich wider Erwarten und wider die Vernunft nicht an die neuen gesetzlichen Regeln halten und sich weiterhin in größeren Gruppen treffen und das Ernste nicht ernst nehmen, sondern als Spiel betrachten, weil sie Parteien und Regierungen und besonders die Kanzlerin aus Gewohnheit verachten. 

Sie saß da in meinem Fernseher, formte die Raute mit ihren Händen, die sie im Rhythmus des Redens auseinander zog und wieder zusammen führte. Der Körper, der aus seiner Form quillt, ein Produkt von 15 Jahren extremer Dauerbelastung, der Disziplin nicht mehr gewachsen ist, wirkte plötzlich straff, die ganze Person war gestrafft, dafür sorgt Corona, das Virus, das alles verändert, auch sie, die Unveränderbare. Unwandelbare. Den Eichenschrank, der sich nicht verrücken lässt.

Sie ist wieder voll da. Die Krise holt sie zurück. Die Krise holt das Beste aus ihr heraus. Sie ist sie selbst, aber anders. Menschlicher. Gefühliger. Ohne eine einzige Bewegung verändert sie die Rangfolge. Armin Laschet ist nur noch Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Friedrich Merz steht außerhalb der Regierung und damit im Abseits und zieht sich alsbald Corona zu.