Ich habe eigentlich etwas gegen Mainstreams. Mir fällt dann immer ein, was dagegen spricht. Ich vermute notorisch, dass einige aus Denkfaulheit, Opportunismus oder Apathie mitmachen. Das war so, als Lustangst wegen des bevorstehenden Nuklearkriegs kursierte, als der Wald starb oder die Inflation nach der Weltfinanzkrise 2007/8 drohte und der Euro platzen sollte oder die Rechte die übernächste Bundestagswahl gewinnen würde, ganz bestimmt und unabänderlich.
Wir alle wissen nicht, ob die Einschränkungen unserer Freiheit so dringend notwendig waren, wie sie eingeführt wurden. Wie die Regierung in Gestalt von Kanzlerin/Finanzminister/Gesundheitsminister argumentierte, klang es mir plausibel. Ja, ich habe Vertrauen in die Regierung. Mir macht sie nicht den Eindruck, dass sie unter totalitären Anwandlungen leidet. Ich verlasse mich darauf, dass die Maßnahmen so schnell wie möglich aufgehoben werden, meinetwegen Schritt für Schritt.
Diesmal bin ich aus Überzeugung in dem Mainstream, der mit dem Vorgehen der Regierung in Zeiten von Corona einverstanden ist und Geduld übt und den Frühsommer dort draußen genießt und dabei Abstand hält und das Beste aus dem Schlechten macht.
Natürlich schaue ich mich nach anderen Meinungen um, ob ich etwas übersehe, ob mir was entgeht, ob ich falsch liege mit meinem skeptischen Optimismus. Im „Spiegel“ dieser Woche steht ein Streitgespräch zwischen Katja Suding (FDP) und Karl Lauterbach (SPD). Katja Suding hatte diesen Satz getwittert, mit dem sie die erhoffte Aufregung auflöste: „Was ist das Leben wert, wenn wir uns die Freiheit zum Leben nehmen lassen?“ Sie spielte nicht etwa auf einen Artikel, einen Essay oder ein Buch über den Widerstand unter Hitler an. Was wie Hannah Arendt klingt, ist O-Ton-Suding und ein Kommentar zur Lage der Nation im Bann von Corona.
Als ich den Satz zum ersten Mal las, dachte ich, sie meint: lieber tot als unfrei. Meinte sie aber nicht. Im Grunde meinte sie gar nichts, was ihr aber zu einem Streitgespräch im „Spiegel“ verhalf, in dem sie dann anderes gemeint haben wollte, was sie eingehend interpretierte, womit sie sich zwar immer weiter vom ursprünglich Satz entfernte, aber egal. Sie sagte, sie wollte nur mal darauf hinweisen, dass ökonomisch gesehen Existenzen auf dem Spiel stehen und Ungewöhnliches mit unseren Grundrechten passiert, was umgehend wieder zurechtgerückt werden muss. Als hätte irgendjemand bezweifelt, dass die Rückkehr zur demokratischen Normalität mit freiem Zugang zur Öffentlichkeit dem jetzigen Zustand vorzuziehen wäre.
Es ist ja auch nicht einfach für die Parteien, die in der Opposition sind. In der Stunde der Exekutive, die von einer überragenden Mehrheit mit Vertrauen bedacht wird, fallen sie nicht auf. Die FDP ist ohnehin übel dran, weil sie zwei schwere Fehler begangen hat: Ihr hängt das Platzen der Jamaika-Koalitionsverhandlungen an und auch Erfurt, als sich einer der Ihren in aller Naivität von der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Beide Fehler sorgen für ziemlich starken Schwefelgeruch.
Die Linke hält sich zurück. Vielleicht nutzt sie die Pause zur Selbstbesinnung oder jedenfalls zur Selbstbetrachtung. Den Charme des Underdogs mit besonderer Pflege der DDR hat sie eingebüßt. Im Osten fällt sie inzwischen unter Establishment, ein Umstand, der sie nicht amüsiert. Schließlich stellt sie die stärkste Partei und den Regierungschef in Erfurt, wenn auch auf Abruf.
Am meisten haben die Grünen zu verlieren. So schön waren sie auf dem aufsteigenden Ast, so schön profitierten sie von der Schwäche der Volksparteien, die längst keine mehr sind, aber mit dem Akzeptieren Schwierigkeiten haben. In der verloren gegangenen Normalität trieben die Grünen unter Habeck/Baerbock schier unaufhaltsam nach oben, aber nichts ist unaufhaltsam, auch wenn die Ereignisse nicht abzusehen sind, die plötzlich vieles unter neuem Licht erscheinen lassen. Was tun? Freundlich bleiben. Pragmatisch bleiben. Die Regierung loben. Good governance einfordern. Abwarten. Hoffen.
Die AfD hat es am Schwersten, was ich bestimmt nicht bedaure. Ihr ist der Feind abhanden gekommen. Sie kann nicht sagen, was sie am liebsten sagt: nein und alle weg und alles muss anders werden. Den starken Staat, den sie liebt, gibt es jetzt. Und weil die Rechte keine Beachtung findet, beschäftigt sie sich mit sich sich selber. Jörg Meuthen hat ausgesprochen, worum es geht. Vermutlich kommt es jetzt noch nicht zur gewünschten Spaltung, aber der Spaltpilz sitzt in der AfD und wird seine Wirkung entfalten, darauf kann man sich einigermaßen verlassen.
Ostern steht bevor. Das Wetter wird schön und warm. Am 19. April wissen wir mehr darüber, wie lange der Ausnahmezustand anhalten wird und wann wir zur Normalität übergehen. Österreich beginnt vorsichtig damit. Wir bald auch, oder?