Meine Lieblingsbuchhandlung hat noch offen, wie gut. Die kleine Bäckerei gegenüber besorgte mir Hefe, damit ich Brot backen kann. Ich gehe täglich spazieren, natürlich auf Abstand, koche, lese und schaue spätabends einen Film. Das ist mein Alltag in Corona-Zeiten und wie jeder Alltag beruhigt er, weil ich weiß, was ansteht, und zugleich geht mir die Gleichförmigkeit auf den Wecker.
Wir leben in der zweiten Virus-Phase. Sie wird sich hinziehen, sie ist zäh. Eher ereignisarm, jedenfalls was das Regierungshandeln anbelangt. Wer ein Geschäft oder Unternehmen hat, wartet auf die versprochenen Zuschüsse oder abgesicherten Kredite. Wer in einer kleineren Wohnung lebt, dem fällt die Decke jetzt schon oder in Kürze auf den Kopf. Wir haben uns mit dem Freiheitsmangel eingerichtet. Die Umfragen beweisen die Einsicht der Deutschen in die Notwendigkeiten. Trotzdem will jedermann wissen, wann das endet.
Die Kanzlerin bittet uns nicht zufällig um Geduld. Mir fällt sie leichter, als meinem Freund Sascha, der ein Restaurant leitet, oder Gyven, meinem Friseur. Ich hoffe, beide überstehen die destruktive Kraft des komatösen Kapitalismus und bekommen das nötige Geld aus einem der Fonds, welche die Bundesregierung aufgelegt hat.
Die Einschläge kommen näher. Ein Bekannter ist gestorben. In Bayern und Baden-Württemberg sterben auffallend viele Menschen an Corona, gefolgt von Nordrhein-Westfalen. Wenn es stimmt, dass 60 bis 70 Prozent von uns sich den Virus zuziehen, und wenn es stimmt, dass die Kurve seit Einführung von Kontaktsperre und Ausgangssperre abflacht, dann bleiben wir länger im Bann der Pandemie. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Wann trifft es mich? Wann hört dieses surreale, reduzierte Leben in unserem Land auf?
Frage 1: Mich trifft es, wenn es mich trifft. Über statistische Wahrscheinlichkeit lässt sich nicht grübeln. Entweder fällt man drunter oder nicht. Und wenn ich darunter falle, wehrt sich mein Körper erfolgreich oder nicht. Für die Zeit bis dahin scheint mir Fatalismus die angemessene Haltung zu sein. Ich lege sie mir nicht zurecht, ich finde sie in mir vor.
Frage 2: Momentan haben sich so ziemlich alle Länder in Quarantäne begeben. China hat das Schlimmste hinter sich, Italien ist mitten drin in der Katastrophe, Amerika und Großbritannien haben Zeit verloren und fahrlässig schlechte Gesundheitssysteme. Der globale Kapitalismus bleibt in Schockstarre. Wie lange noch?
China hat die Pandemie nach eigener Definition bewältigt. Der Binnenkapitalismus bewegt sich allmählich wieder. Vorsichtig beginnt die Abkehr von Anomalie, vorsichtig gewinnt die alte Normalität an Kraft. Und der allgewaltige Xi Jinping muss darauf hoffen, dass sich die USA so schnell wie möglich erholt.
Amerika geht normalerweise robust mit Krisen vor. 400 000 Menschen sind jetzt schon in der Opioid-Epidemie gestorben, hinweggerafft durch die Abhängigkeit von legalen Schmerzmitteln mit fatalen Auswirkungen. Der gewaltigen Aufschrei, der zu erwarten gewesen wäre, blieb aus. Der Staat spendete 6 Milliarden Dollar an Hilfe, ein Klacks vergleichen mit den Corona-Hilfspaketen. An der Lungenkrankheit sind bislang rund 2 100 Amerikaner gestorben und weltweit 31 000 Menschen. Kaum zu glauben, dass Corona auch nur annähernd so viele Menschen tötet wie die synthetisch hergestellten Opioide.
Auf Amerika werden wir schauen, sobald Ostern vorbei ist und der April ausklingt. Von Donald Trump erwarten die anderen Länder das Startsignal, das weniger von Infektions- und Todesfällen abhängen dürfte als vom Ausmaß des antizipierten Schadens für die Weltwirtschaft. Der Präsident steht vor einer Wahl im November, was die Sache für ihn nicht einfacher macht. Wie gut oder schlecht er handelt, entscheidet über seine Verweildauer im Weißen Haus.
Ich kenne niemanden, der die Regierungschefs um die Aufgabe beneidet, vor uns zu treten und zu sagen: Liebe Leute, es ist genug, wir sind einigermaßen mit der Pandemie durch, und wenn wir nicht unwiederbringlich weit mit unserer Volkswirtschaft zurückfallen wollen, dann müssen wir den Kleinbetrieben, dem Mittelstand und den Konzernen wieder erlauben, zu produzieren und ihre Produkte auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Also, lasst uns die Maschinen anwerfen und wieder an die Arbeit gehen.
Vieles im Leben ist eine Sache der Abwägung. Entscheidungen fallen nur zu oft mit 51 zu 49 aus. Nichts ist in Stein gemeißelt, Unsicherheit bleibt immer. Ungefähr drei von 10 Urteilen erweisen sich hinterher als zu kurz gegriffen und revidierbedürftig oder falsch. Aber die Entscheidung über das Ende des Ausnahmezustandes darf keinesfalls zu kurz greifen oder zum falschen Zeitpunkt erfolgen.
Der wiederauferstandenen Kanzlerin traue ich am ehesten zu, dass sie verantwortungsvoll handelt. Momentan ist ihre Stärke, die gerade noch eine Schwäche war, ein Segen: Sie sammelt Informationen und wägt ab, bis sie handelt. Ich glaube aber nicht, dass sie abwarten kann, bis die ominösen 60 bis 70 Prozent aller Deutschen infiziert gewesen sind. Das Flachziehen der Infektionskurve dient ja der Funktionstüchtigkeit unseres Gesundheitssystems, das irgendwann doch kollabieren wird, und ändert nichts an der Zahl der Kranken und Toden.
Die Exit-Strategie muss in dieser zweiten Corona-Phase bedacht und organisiert werden. Über das Ende zu entscheiden ist noch schwieriger als die Entscheidung über den Anfang des Ausnahmezustandes. Vom Gefühl, denn Wissen ist es ja nicht, für das richtige Timing hängt verdammt viel ab: für uns genau so wie für China, Amerika und für die anderen stillgelegten Länder.