Jeder hat sein Buch, in dem er in diesen seltsamen Tagen blättert, damit er besser versteht, was vorgeht. Meines heißt „Der Wal und das Ende der Welt“. Gut geschrieben (bzw. übersetzt), poetisch und nachdenklich, geradeaus erzählt und in der tiefsten Provinz angesiedelt, die mit London, dem Zentrum der Finanzwelt verbunden ist, sehr menschlich und dann auch noch ein happy ending! Geht mehr?
Eines Morgens fallen den Fischern und den Frühmorgenspaziergängern an einer abgelegenen Küste zwei Dinge auf: ein Wal, der nahe kommt und wieder verschwindet und sich in den nächsten Wochen immer wieder sehen lässt und so zum vertrauten Anblick wird, zum Ehreneinwohner des Dorfes.
Der Wal hat offenbar einen nackten jungen Mann an Land geworfen, der dort wie tot liegt, aber von den findigen, witzigen Dorfmenschen gerettet wird. Der längst pensionierte Arzt nimmt den Mann auf, pflegt ihn und wartet ab, wann er und was er von sich erzählen wird, was er nach und nach auch tut. Er heißt Joe Haak und ist irgendwann von London ans Ende der Welt gefahren, hat seinen Wagen geparkt, seine Kleidung abgelegt und ist ins Wasser gegangen, ins kalte Wasser. Mehr weiß er nicht. Nur so viel: Der Wal hat ihn gerettet, ausgerechnet der Wal.
Den Autor kannte ich nicht. Er heißt John Ironmonger, hat Zoologie studiert, was seinem Buch bekommt, und hat in der IT-Branche gearbeitet, in die er auch Joe Haak versetzt, und lebt ungefähr dort, wo er sein 300-Seelen-Kaff zu Leben erweckt. Ironmonger ist belesen, keine Frage, und gibt die Lektüre wieder, die ihn beeinflusst: besonders Thomas Hobbes mit seiner grundpessimistischen Gesellschaftsphilosophie oder Jared Diamonds Dystopie „Kollaps“. Er kombiniert die Schwere mit dem märchenhaften Motiv des Wals und stellt am Ende Hobbes auf den Kopf.
Joe Haak war Analyst in einer Investmentank. Er entwickelte Cassie, einen Algorithmus, den er aus sämtlichen Artikeln in sämtlichen Finanz- und Wirtschaftserzeugnissen speist. Cassie sagt ziemlich genau voraus, wo sich Geld machen lässt. So erfolgreich Joe auch ist, so viel Geld er auch verdient, hält er dem Stress, der mit der Jagd auf die nächste Baisse, mit der sich Millionen scheffeln lassen, nicht stand. Du bist zu anständig, sagt die Therapeutin, eines Tages wirst du einfach alles stehen und liegen lassen, und wegfahren, weit weg fahren und nicht wieder kommen.
Den Grund für die Flucht ans Ende der Welt ist die Pandemie, von der er weiß, dass sie die Menschheit heimsuchen wird. Ihren Anfang nimmt sie in Indonesien und Indien. Sie ist eine Neuauflage der Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs. Sie rafft junge Menschen hin, nicht aber alte. Da die Versorgung mit Öl aus dem Persischen Golf zusammenbricht, fällt in England alsbald die Elektrizität aus. Die Menschen sterben in Massen, die Regierung ruft den Notstand aus. Weil es keinen Strom gibt, wissen die Menschen im Dorf des Wals nicht, was ein paar Kilometer entfernt los ist, geschweige denn, was in London los ist, und welche Maßnahmen die Regierung ergreift.
Joe Haak hat vorgesorgt. Rechtzeitig füllt er die normannische Kirche mit ungeheuren Mengen an Lebensmitteln. Damit rettet er das Dorf, das ihn gerettet hatte. Der Wal schaut vorbei, als wollte er wissen, ob es hier noch Leben gibt. Anders als mit Hobbes gedacht, fallen die Hungernden nicht übereinander her. Im Gegenteil sind sie solidarisch, anstatt sich zu töten und zu beklauen. Am Ende der Welt findet ein großes Weihnachtsfestmahl statt, zu dem Joe Haak die Nachbarn aus den umliegenden Dörfern einlädt.
Die Pandemie fordert eine riesige Zahl an Opfern, aber die Menschheit überlebt dank ihrer Solidarität. Hobbes liegt falsch. Idealisten wie Joe Haak liegen richtig.
Wir leben in der dritten Woche mit unserer Pandemie, die Alte hinwegrafft und Junge, so sie gesund sind, verschont. An Solidarität mangelt es nicht, abgesehen von Diebstählen an Masken und Handschuhen und Betrügereien mit den Anträgen für Kredite oder Zuschüsse. Wir halten uns an die Regeln. Wir ertragen Einschränkungen und bleiben auf Abstand. Wir vertrauen Angela Merkel und Olaf Scholz und Christian Drosten, dem verständlich formulierenden Virologen. Wir hoffen darauf, dass bekannte Medikamente auch gegen die Lungenkrankheit helfen. Wir reden wie selbstverständlich über Impfstoffe, die es noch nicht gibt, aber bestimmt im Herbst oder zu Weihnachten oder eben in einem Jahr.
Ostern kommt. Kein Wegfahren in die Umgebung, an die Ostsee, nach Mallorca oder auf die Malediven. Kein Eieranmalen, kein Eiersuchen mit den Enkeln und Nichten. Nichts, nichts, nichts. Zu Hause sitzen, kochen, lesen, fernsehen. Facetime mit der Familie in Rodenberg oder Kreuzberg oder München. Wann werden wir ungeduldig?
In „Der Wal und das Ende der Welt“ ist die Pandemie irgendwann einfach vorbei. Davon erfährt das Dorf, in dem Joe Haak heimisch geworden ist, durch Zufall. Das Leben geht weiter. Joe Haak umwirbt die junge, flirtige Frau des Pfarrers. Vergeblich. Sie will, dass er geht und nie wiederkehrt. Sie liebt ihn, aber nicht genug.
Ohne großen Abschied bereitet Joe seine Abfahrt vor mit dem Segelboot, das der Arzt ihm schenkt. Bevor er die Leinen kappt, steht da die junge schöne Frau, die ihn damals am Strand beatmete und ins Leben zurückholte. Von ihr ist im Dorf bekannt, dass sie beim Sex sehr laut ist, worauf sie Joe sicherheitshalber noch einmal hinweist. Aber außer dem Wal hört draußen auf dem Meer ja eh keiner zu.