Kindheit in Kaiserslautern

Zu den eindrucksvollsten Büchern der letzten Zeit gehört: „Ein Mann seiner Klasse“, geschrieben von Christian Baron, der für den „Freitag“ arbeitet und vorher nicht als Schriftsteller aufgefallen war. Er schildert eine Kindheit, wie sie noch nicht geschildert worden ist. In Armut, wirklicher Armut, zu der Schimmel gehört, der in der kleinen, schäbigen Wohnung an den Wänden wuchert, und den der kleine Junge nach zwei Wochen Hungers abschabt und isst.

Die Stadt der Kindheit ist Kaiserslautern. Der FCK ist in der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre ein stolzer Verein. Die US-Armee hat hier den größten Militärstützpunkt außerhalb Amerikas. Das Viertel, in dem die Familie Baron lebt, ist das zweitschlimmste der Stadt.

Der Vater ist ein gewalttätiger Alkoholiker. Er schlägt den Kopf seiner Frau im Suff gegen die Wand und prügelt die Kinder grundlos. Den größten Teil des Geldes, das er als Möbelpacker verdient, trägt er in die Kneipe, die seinen Lebensmittelpunkt bildet. Er ist alles, was ein Vater nicht sein sollte, weshalb ein Kind ihn hassen oder verachten oder jedenfalls nicht lieben sollte. Aber die wahre Tragik in dieser Autobiographie des Elends besteht darin, dass der Sohn, also Christian, seinen Vater liebt, ihm nacheifert, ihn schützt, entschuldigt.

Wie kann das sein? Eine Erklärung gibt es nicht. Es ist, wie es ist. Der Junge findet diese absurde Vaterliebe in sich vor und kann nichts dagegen ausrichten und wird vielleicht sogar irre daran, wer weiß. Den Freispruch für den Vater liefert der Buchtitel: Er ist eben ein Mann seiner Klasse.

Die Mutter hätte aus der Unterschicht aufsteigen können. Sie war schön, intelligent, scheu. Als Schülerin schrieb sie Gedichte. Eines Tages, da ist sie 16, soll sie ein Gedicht in der Klasse vorlesen. Da hat nicht Goethe oder Heine oder wer auch immer geschrieben, sondern ein junger Mensch, der ein ausbaufähiges Talent für Wörter und Sätze besitzt. Das Gedicht, das sie zitternd vorträgt, geht so:

„Glaube mir, es gibt noch Elfen, / nicht nur in deinen Träumen. / Lass dir von ihnen helfen, / du wirst sonst viel versäumen. / Glaube mir, es gibt noch so viel zu entdecken, / Du solltest deine Gefühle nicht verstecken. / Glaube mir, wenn auch manchmal die Sonne / untergeht, / dann bin ich der Mensch, der immer zu dir steht.“

Was macht der Lehrer? Er dreht sich um, hebt die Arme, als wollte er Gott zum Zeugen anrufen, und prustet los vor Lachen. Die ganze Klasse stimmt ein. Diese Demütigung reicht so tief, dass sie die Schule schmeißt. Anstatt Abitur zu machen und zu studieren, bleibt sie in der Schicht, aus der sie nicht herauskommen soll. Ihre Sonne geht unter, ohne dass jemand zu ihr steht.

Seltsamerweise erzählt Baron die tragische Geschichte seiner Mutter eher tonlos. Dabei ist eigentlich sie die Hauptfigur, weil ihr, im Unterschied zu ihrem unbeherrschten Mann, ein anderes Leben offen stand. Hätte sie einen verständnisvollen Lehrer gehabt, der ihre Begabung erkannt und gefördert hätte, wäre sie aus dem Schlamassel heraus gekommen, in den sie mit ihrem Säufer- und Schläger-Mann vollends versinkt. Sie liefert sich Schlachten mit ihm. Sie säuft mit. Sie wird zur Zynikerin mit einem wütenden Lachen. Zwischendurch verfällt sie in Depression, bleibt im Bett, kümmert sich nicht um die Kinder. Im falschen Leben fehlt es ihr an Kraft. Sie stirbt jung.

Unterschicht bleibt Unterschicht. Ohne Hilfe bleibt unten, wer unten ist. Wer den Kopf hebt, braucht ein bisschen Hilfe, um ihn oben zu behalten. Einen Lotsen, der früher der Pfarrer war oder ein Onkel oder ein Lehrer. Die Mutter wird zurückgestoßen. Sie setzt sich nicht zur Wehr, sondern gibt auf und versteckt ihre Gefühle, weil es nichts zu entdecken gibt. Sie führt ein Leben, das nicht ihres ist.

Als sie stirbt, sind die Kinder noch klein. Eine Tante nimmt sich ihrer an. Sie verbannt den Vater so weit wie möglich aus ihrem Leben. Die Tante hat das Scherbenviertel hinter sich gelassen. Ein bisschen Ordnung, ein bisschen Normalität erleben die Kinder jetzt. Ohne Gewalt. Ohne Prügel. Fast ohne Saufen.

Anders als die Mutter schafft es der Sohn heraus aus der Unterschicht. Er ist ein kleines, schwächelnden Kind, aber intelligent und findet Förderer. Zu Hause machen sie sich lustig über ihn. Sie hänseln ihn: Denkst wohl, du bist was Besseres! Biste nicht! Die Sogkraft der Brüder und des Vaters ist enorm. Sie ziehen und zerren an ihm. Er soll nicht raus, nicht weg. Wenn es ihm gelingt, kein Mann seiner Klasse zu sein, was sollen dann sie sagen und wo bleiben sie? Andererseits: Wer will schon Vater und Brüder verlieren? Sie haben nur sich, sie haben keine Freunde, sie sind isoliert.

Der Sohn geht mühsam seinen Weg. Er führt kein Drama auf, er gibt nicht an, er wendet sich auch nicht von seiner Familie ab, aber er macht Abitur und studiert. Er lässt Kaiserslautern zurück, aber natürlich steckt Kaiserslautern in ihm. Er darf das Leben führen, das seiner Mutter versagt blieb.

Christian Baron hat eine interessante Erzählform gefunden, mit der er seine Kindheit in Kaiserslautern umkreist. Mal erzählt er aus der Sicht des Kindes, das er war. Mal erzählt er aus der Gegenwart, in der er mit seiner Tante die Stätten der Kindheit aufsucht. Er fragt sie aus, er macht sich klar, wie es damals war, denn nur auf das eigene Gedächtnis ist kein Verlass. So entsteht ein bemerkenswertes Buch, in dem der Autor schonungslos mit sich umgeht, weil ihn die Sehnsucht nach dem Vater nie verlässt.

Mit verstörenden Gedanken an den Vater klingt das Buch aus: „Mit all meinem Zorn und all meinem Glück, mit all meinem Schmerz und all meiner Überraschung, mit all meiner Angst und all meiner Liebe, mit all meinem Hass und all meiner Hoffnung, mit allen Zweifeln werde ich kurz vor meinem Tod dieses eine Wort aussprechen, das mein Vater sein Leben lang nie von mir zu hören bekam: Papa.“

Der Wal, der die Welt rettet

Jeder hat sein Buch, in dem er in diesen seltsamen Tagen blättert, damit er besser versteht, was vorgeht. Meines heißt „Der Wal und das Ende der Welt“. Gut geschrieben (bzw. übersetzt), poetisch und nachdenklich, geradeaus erzählt und in der tiefsten Provinz angesiedelt, die mit London, dem Zentrum der Finanzwelt verbunden ist, sehr menschlich und dann auch noch ein happy ending! Geht mehr?

Eines Morgens fallen den Fischern und den Frühmorgenspaziergängern an einer abgelegenen Küste zwei Dinge auf: ein Wal, der nahe kommt und wieder verschwindet und sich in den nächsten Wochen immer wieder sehen lässt und so zum vertrauten Anblick wird, zum Ehreneinwohner des Dorfes.

Der Wal hat offenbar einen nackten jungen Mann an Land geworfen, der dort wie tot liegt, aber von den findigen, witzigen Dorfmenschen gerettet wird. Der längst pensionierte Arzt nimmt den Mann auf, pflegt ihn und wartet ab, wann er und was er von sich erzählen wird, was er nach und nach auch tut. Er heißt Joe Haak und ist irgendwann von London ans Ende der Welt gefahren, hat seinen Wagen geparkt, seine Kleidung abgelegt und ist ins Wasser gegangen, ins kalte Wasser. Mehr weiß er nicht. Nur so viel: Der Wal hat ihn gerettet, ausgerechnet der Wal.

Den Autor kannte ich nicht. Er heißt John Ironmonger, hat Zoologie studiert, was seinem Buch bekommt, und hat in der IT-Branche gearbeitet, in die er auch Joe Haak versetzt, und lebt ungefähr dort, wo er sein 300-Seelen-Kaff zu Leben erweckt. Ironmonger ist belesen, keine Frage, und gibt die Lektüre wieder, die ihn beeinflusst: besonders Thomas Hobbes mit seiner grundpessimistischen Gesellschaftsphilosophie oder Jared Diamonds Dystopie „Kollaps“. Er kombiniert die Schwere mit dem märchenhaften Motiv des Wals und stellt am Ende Hobbes auf den Kopf.

Joe Haak war Analyst in einer Investmentank. Er entwickelte Cassie, einen Algorithmus, den er aus sämtlichen Artikeln in sämtlichen Finanz- und Wirtschaftserzeugnissen speist. Cassie sagt ziemlich genau voraus, wo sich Geld machen lässt. So erfolgreich Joe auch ist, so viel Geld er auch verdient, hält er dem Stress, der mit der Jagd auf die nächste Baisse, mit der sich Millionen scheffeln lassen, nicht stand. Du bist zu anständig, sagt die Therapeutin, eines Tages wirst du einfach alles stehen und liegen lassen, und wegfahren, weit weg fahren und nicht wieder kommen.

Den Grund für die Flucht ans Ende der Welt ist die Pandemie, von der er weiß, dass sie die Menschheit heimsuchen wird. Ihren Anfang nimmt sie in Indonesien und Indien. Sie ist eine Neuauflage der Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs. Sie rafft junge Menschen hin, nicht aber alte. Da die Versorgung mit Öl aus dem Persischen Golf zusammenbricht, fällt in England alsbald die Elektrizität aus. Die Menschen sterben in Massen, die Regierung ruft den Notstand aus. Weil es keinen Strom gibt, wissen die Menschen im Dorf des Wals nicht, was ein paar Kilometer entfernt los ist, geschweige denn, was in London los ist, und welche Maßnahmen die Regierung ergreift.

Joe Haak hat vorgesorgt. Rechtzeitig füllt er die normannische Kirche mit ungeheuren Mengen an Lebensmitteln. Damit rettet er das Dorf, das ihn gerettet hatte. Der Wal schaut vorbei, als wollte er wissen, ob es hier noch Leben gibt. Anders als mit Hobbes gedacht, fallen die Hungernden nicht übereinander her. Im Gegenteil sind sie solidarisch, anstatt sich zu töten und zu beklauen. Am Ende der Welt findet ein großes Weihnachtsfestmahl statt, zu dem Joe Haak die Nachbarn aus den umliegenden Dörfern einlädt.

Die Pandemie fordert eine riesige Zahl an Opfern, aber die Menschheit überlebt dank ihrer Solidarität. Hobbes liegt falsch. Idealisten wie Joe Haak liegen richtig.

Wir leben in der dritten Woche mit unserer Pandemie, die Alte hinwegrafft und Junge, so sie gesund sind, verschont. An Solidarität mangelt es nicht, abgesehen von Diebstählen an Masken und Handschuhen und Betrügereien mit den Anträgen für Kredite oder Zuschüsse. Wir halten uns an die Regeln. Wir ertragen Einschränkungen und bleiben auf Abstand. Wir vertrauen Angela Merkel und Olaf Scholz und Christian Drosten, dem verständlich formulierenden Virologen. Wir hoffen darauf, dass bekannte Medikamente auch gegen die Lungenkrankheit helfen. Wir reden wie selbstverständlich über Impfstoffe, die es noch nicht gibt, aber bestimmt im Herbst oder zu Weihnachten oder eben in einem Jahr.

Ostern kommt. Kein Wegfahren in die Umgebung, an die Ostsee, nach Mallorca oder auf die Malediven. Kein Eieranmalen, kein Eiersuchen mit den Enkeln und Nichten. Nichts, nichts, nichts. Zu Hause sitzen, kochen, lesen, fernsehen. Facetime mit der Familie in Rodenberg oder Kreuzberg oder München. Wann werden wir ungeduldig?

In „Der Wal und das Ende der Welt“ ist die Pandemie irgendwann einfach vorbei. Davon erfährt das Dorf, in dem Joe Haak heimisch geworden ist, durch Zufall. Das Leben geht weiter. Joe Haak umwirbt die junge, flirtige Frau des Pfarrers. Vergeblich. Sie will, dass er geht und nie wiederkehrt. Sie liebt ihn, aber nicht genug.

Ohne großen Abschied bereitet Joe seine Abfahrt vor mit dem Segelboot, das der Arzt ihm schenkt. Bevor er die Leinen kappt, steht da die junge schöne Frau, die ihn damals am Strand beatmete und ins Leben zurückholte. Von ihr ist im Dorf bekannt, dass sie beim Sex sehr laut ist, worauf sie Joe sicherheitshalber noch einmal hinweist. Aber außer dem Wal hört draußen auf dem Meer ja eh keiner zu.