Nur der Tod konnte ihn zum Schweigen bringen

Die Büttel des Kreml-Herrschers verurteilten Alexej Nawalny in lachhaften Schauprozessen zu monströsen Strafen. Doch zum Schweigen brachten sie ihn damit nicht. Deshalb musste dieser Held, dessen Macht in seiner Ohnmacht bestand, sterben.

Alexej Nawalny war 47 Jahre alt und sie schienen sich damit zu begnügen, ihn für den Rest seines Lebens in Straflagern verschwinden zu lassen, für die es Abstufungen gibt, die von menschenfeindlich bis zu unvorstellbar menschenfeindlich reichen. Zu 30 Jahren Haft hatten sie ihn aus den fadenscheinigsten Gründen verurteilt.

Nur zum Schweigen brachten sie ihn nicht. Nawalny blieb eine feste Größe in Russland. Was er sagte, was er dachte, verbreitete sich bis nach Moskau in den heiligen Gral der Macht. Die Welt mochte ihn vergessen haben, sie drehte sich weiter und immer weiter. Menschenblut fließt in der Ukraine, in Israel, im Gaza. Vor kurzem bekam Mahsa Amini den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments posthum, ermordet im Teheraner Gefängnis, in das sie die Schergen der Mullahs geworfen hatten, weil ihr Kopftuch angeblich nicht vorschriftsmäßig das Haar bedeckte.

Den Preis hatte Nawalny vor zwei Jahren bekommen und er muß ihm viel bedeutet haben. Andrej Sacharow war ein Wissenschaftler gewesen, der in jungen Jahren am Bau der ersten russischen Wasserstoffbombe entscheidend beteiligt war. Ein Held, der ein privilegiertes Leben hätte genießen können. Doch ihm kamen Zweifel und allmählich verwandelte er sich in einen Menschenrechtler, der gegen Willkür und Unfreiheit, gegen Unterdrückung und Zensur Manifeste schrieb. 

Sacharow wird zum Vorbild für Nawalny. Auch er ist berühmt. Sein Lebensthema ist die Korruption der Mächtigen. Aus dem Juristen wird ein Politiker, und Journalist. der zugleich Dokumentarfilme dreht. Sacharows Gegner war das kommunistische Unrechtssystem. Nawalnys Gegner trägt einen Namen und hat ein Gesicht: das von Wladimir Putin. Sacharow wurde nach Gorki verbannt. Nawalny verschwand zuerst in Straflagern und jetzt ist er tot, ermordet auf Geheiß des Diktators im Kreml, der Wert darauf legt, dass nichts von Belang und Bedeutung ohne ihn geschehen darf.

Warum setzt ein Mensch sein Leben gegen einen Diktator ein? Weil ihm eine Sache wichtiger ist als sein Leben. Weil die Welt Anteil an seinem Schicksal nimmt. Weil Kompromisslosigkeit seinem Wesen entspricht. Und weil er der Welt ein Beispiel geben will.

Auch Alexej Nawalny schlug ein feines Leben aus. Ihm stand es frei, in Amerika zu bleiben, als er ein Stipendium für die wunderbare Universität Yale bekam. Unbekannt war er damals noch, keine Figur der Zeitgeschichte, nur ein junger Mensch, der lieber die Entscheidung für ein schwieriges Leben traf.

Er hätte auch in Deutschland bleiben können, als sie versucht hatten, ihn mit Nervengift umzubringen. Schon damals wäre er auf dem Flug von Tomsk nach Moskau gestorben, wären nicht Ärzte an Bord gewesen, die erkannten, was Nawalny angetan worden war. Sie mussten ihn in die Berliner Charité ausfliegen lassen, wo er sich erholte.

Es war seine zweite Chance, die Freiheit des Westens gegen die Unfreiheit Russlands zu tauschen. Niemand hätte es ihm verübelt. Er war Mitte Vierzig, seine Frau war bei ihm, die Tochter studiert in Stanford. Warum gab er seinen Kampf gegen Putin nicht auf?

Weil er sich treu bleiben wollte. Weil er dem Herrscher im Kreml den Triumph nicht gönnte. Weil er durchziehen wollte, was er angefangen hatte.

Er flog zurück nach Russland. Sie verhafteten ihn noch am Flughafen, verurteilten ihn in lachhaften Schauprozessen. Aber sogar in der Strafkolonie, 260 Kilometer von Moskau entfernt, übte er die Macht der Ohnmacht aus gegen die ohnmächtige Macht. Bis es ihnen zu viel wurde und sie vollendeten, was ihnen in Tomsk verwehrt worden war.

Niemand kann in Putins Hirn schauen und Kreml-Astrologie ist Humbug. Der Mann will in diesem Jahr wiedergewählt werden und wird es natürlich auch. Ein Mensch wie Nawalny, der nicht Ruhe gab, der die Selbstbedienung der Nomenklatura anprangerte und die sozialen Medien dazu nutzte, zu einer nationalen Größe aus eigenem Recht aufzusteigen, war der Staatsfeind Nummer 1 und wäre es geblieben, solange er lebte.

Deshalb musste Alexej Nawalny sterben – ein bemerkenswerter Mensch, der wusste, was er tat, ein exemplarischer Held, den wir nicht vergessen dürfen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Im schaurigen Wahlkampf

Alter? Ein Problem für Joe Biden, nicht für Donald Trump, auch wenn er dem Präsidenten in peinlichen Irrtümern keineswegs nachsteht. Die Welt muss sich auf seine Wiederkehr einstellen, auch wenn die Wirtschaft floriert und das Ansehen Amerikas gerade wieder gestiegen ist.

Zwei alte weiße Männer wollen Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden. Der eine verwechselt Mexiko mit Ägypten. Der andere preist Viktor Orbán für seine Führungskraft in der Türkei. Das Gedächtnis oder das Wissen oder die Konzentrationsfähigkeit der beiden Herren ist anscheinend nicht ganz wasserdicht.

Wenn es nicht todernst wäre, wer am 5. November gewählt wird, könnten wir uns zwanglos über die Fehlleistungen von Joe Biden und Donald Trump amüsieren. Sie sind eben alt und Alter verzeiht man eigentlich Nachlässigkeit. Aber da beide das wichtigste Staatsamt der westlichen Welt anstreben, bleibt uns das Lachen im Halse stecken.

Der amerikanische Wahlkampf, der ohnehin ein erschreckendes Drama ist, hat gerade eine Zäsur erlebt. Die republikanische Partei, die Trump ergeben ist wie die Todesser ihrem Lord Voldemort in den Harry-Potter-Romanen, ließ einen ungemein wichtigen Kompromiss platzen. So bleiben die 60 Milliarden Dollar an Militärhilfe weiterhin blockiert, auf welche die Ukraine existentiell angewiesen ist. Donald Trump gab dazu einen seiner unnachahmlichen Kommentare ab: Er hätte schon damals, als er Präsident war, zu den Nato-Staaten gesagt, er werde Wladimir Putin „ermutigen, zu tun, was er verdammt noch mal tun wolle“, weil sie dem Bündnis Geld schuldeten.

Was er damit sagen will? Die Europäer sind selber schuld, dass Putin die Ukraine überfallen hat. Und außerdem konnte der russische Präsident es nur deshalb wagen, weil ihn Donald Trump dazu animiert hatte.

Was sich derzeit in Amerika abspielt ist ein ultimatives Trauerspiel. Um die Ukraine weiterhin zu unterstützen, müsste sich die Demokratische Partei auf noch härtere Maßnahmen an der Grenze zu Mexiko einlassen. Dort am Rio Grande herrscht Ausnahmezustand aus mehreren Gründen. An der Südgrenze wurden im Jahr 2023 rund 2,5 Millionen Menschen ohne nötige Papiere gezählt. Sie kommen meistens aus Lateinamerika, aber auch Chinesen, Russen oder Menschen aus Afrika versuchten sich nach Amerika durchzuschlagen.

Grenzschutz auf den 3200 Kilometern zwischen dem Golf von Mexiko und dem Pazifik ist eigentlich Sache der Washingtoner Regierung. Aber der texanische Gouverneur, ein Trump-Groupie, hat trotzdem die Nationalgarde und regionale Polizei-Einheiten dorthin entsandt. Das ist illegal, aber in der Trump-Welt egal. Aus Mexiko kämen Vergewaltiger und Irre,Terroristen und Mörder, behaupten die Trumpisten – und Biden wolle die Grenzen nach seiner Wiederwahl für alle Emigranten öffnen.

Nichts davon stimmt, aber auch das ist egal. Die Logik ist: Wir müssen unsere eigenen Grenzen schützen und was schert uns die Ukraine. Was Biden schadet, ist gut für Trump und damit für Amerika. Fuck you, Joe Biden! 

Amerika ist schon länger ein schwieriges, unberechenbares, gespaltenes Land. Vielleicht begann mit den Lügen der Regierung Bush, die im Jahr 2003 zur Invasion im Irak führten, die Entfesselung und Enthemmung. Wahrscheinlich hat das weiße Amerika nicht ertragen, dass Barack Obama Präsident wurde. Warum sich aber die stolze republikanische Partei diesem Trump so unterworfen hat, dass er sie wie eine Marionette tanzen lassen kann, bleibt ein Rätsel.

Auch verfiel Amerika im Lauf seiner Geschichte immer mal wieder seiner eigenen Paranoia. Aber es raffte sich nach Joseph McCarthys Kommunisten-Verfolgungswahn in den 1950er Jahren oder Richard Nixons kriminellem Handeln oder auch nach dem Vietnam-Krieg wieder auf. Nun aber ist Trumps zweite Amtszeit eine reale Möglichkeit – trotz des Sturms auf das Kapitol, trotz der anhängigen Prozesse, trotz der Erfahrungen mit ihm im Weißen Haus.

Amerika scheint bereit zu sein, Donald Trump freie Hand zu geben, denn von Pragmatikern und Realisten wird er sich diesmal nicht einmauern lassen. Wird er gewählt, werden wir Trump in Reinkultur erleben.

Trumps Gebote lassen sich so zusammenfassen. Erstens: Demokratie ist was für Weicheier. Denn Demokratie bedeutet Kompromisse und Trump ist ein Extremist, dessen Wort zu gelten hat und damit basta. Zweitens: Trump verfügt über ein jubelbereites Publikum, das er wie ein Entertainer bei Stimmung hält, wobei er sein eigener Anheizer ist. Drittens: Vergesst die Welt dort draußen, dieses Europa/EU/Nato-Gesocks, auf uns kommt es an, auf Amerika, das ist die Botschaft. Viertens: Lügen ist wie Wahrheit, Lügen verwandeln sich in Wahrheit, wenn Trump sie ausspricht, und sie werden durch andere Lügen abgelöst, die wiederum zur Wahrheit werden.

Zur wirklichen Wahrheit gehört, dass Amerika gerade eine seiner größten Wachstumsperioden erlebt. Dafür sorgen Gesetze der Regierung Biden, zum Beispiel der Inflation Reduction Act über 433 Milliarden Dollar für Investitionen auf dem heimischen Markt. Außenpolitisch handelt die Supermacht in der Ukraine wie in Israel auf vernünftige und traditionelle Weise. Sie tritt sowohl militärisch als auch politisch entschlossen auf. Diese Aktionen auf der Weltbühne sind mit Joe Biden aufs Engste verbunden. Ohne ihn sähe die Welt anders aus, keine Frage.

Nichts davon wirkt sich zu Hause positiv für den Präsidenten aus. Seine Beliebtheitswerte sind unterirdisch. Dass ein Untersuchungsbericht ihn als wohlwollenden älteren Herren mit einem löcherigen Gedächtnis charakterisiert, bekräftigt viele Vorurteile, die ihm anhängen. Es ist ja auch wahr, kurz nach der Wahl wird Joe Biden 82, kein Alter für einen Präsidenten.

Donald Trump wird im Juni 78, auch kein Alter für einen Präsidenten. Ronald Reagan war übrigens 77 Jahre alt, als er aus dem Amt schied. Aber Trump ist nach wie vor ein Großmaul und ein Lügenbold und eben ein Entertainer, bei dem das Alter Nebensache ist, jedenfalls für seine Jünger (Frauen kommen in diesem Orbit nur als Sexualobjekt vor). Das Alter ist ein Problem für Biden, nicht für Trump.

Amerika ist wie im Fieberrausch und schaut zu, wie sich zwei betagte Herren mit schwankendem Erinnerungsvermögen einen schaurigen Wahlkampf liefern. Und der Rest der Welt, also wir, wartet apathisch ab, was sich dieses seltsame Land ins Weiße Haus wählen wird.

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Nepp bei Viagogo

Am zweiten Weihnachtsfeiertag waren mein Enkel und ich im Zirkus Roncalli. Wir erlebten, was wir erleben wollten: hochklassige Akrobatik, beste Unterhaltung mit angehaltenem Atem, zwei Stunden großen Vergnügens unter Mitbangen mit den Artisten. Wir hatten uns bestens auf diesen Nachmittag vorbereitet. Ich hatte ihm Artistik der Sonderklasse auf „America’s Got Talent“ auf YouTube gezeigt. Und wie es der Zufall wollte, ging auch bei „Roncalli“ ein Artist mit dem anderen Artisten auf dem Kopf von einer Platform drei Stufen hinunter und dann auch noch, das war die Zugabe, die drei Stufen wieder auf die Platform hoch. Riesiger Beifall. Auf dem Video, das ich davon habe, rufe ich Theo zu: „Und jetzt geht er sogar mit dem auf dem Kopf wieder hoch!“

Wir saßen gut. Die Karten kosteten zusammen 144 Euro. Stolzer Preis, aber okay für ein verspätetes Geschenk zum 8. Geburtstag. Die Karten hatte ich über Viagogo gekauft und das werde ich nie wieder tun. Viagogo ist nach meiner Erfahrung Nepp.

Als ich die Karten online bestellte, konnte ich nicht absehen, was sie kosten würden. Ich musste 344 Euro überweisen. Als die Karten da waren, konnte ich ersehen, dass sie zusammen 144 Euro kosteten, 72 Euro pro Karte. Viagogo steckte also 200 Euro für die Vermittlung ein. Auf meine Beschwerde, wie solch eine stolze Summe zusammenkomme, erhielt ich die erwartbare Nachricht, dass es Viagogo freistehe, eine Vermittlungsgebühr zu erheben. Das hatte ich weiß Gott nicht bestritten; die Höhe war das Ärgernis. Auf meine Nachfrage kam noch so eine Auskunft, deren Sinn im Abschmettern jedweden Anspruchs besteht: Halt die Klappe, du hast bezahlt, selber schuld!

Viagogo wurde im Jahr 2006 in London gegründet. Investoren sind Bernhard Arnault (LVMH = Louis Vitton, Möet Hennessy = französisches Konglomerat für Luxusgüter), Herbert Kloiber (österreichischer Sportrechtehändler) und Steffi Graf samt Andre Agassi (ehemalige Tenniscracks). Bunte Mischung, internationales Kapital, hoher Anspruch. Viagogo wirbt so für sich: „Wir sind der weltweit größte Sekundärmarktplatz für den Verkauf von Live-Event-Tickets. Die Preise werden von den Verkäufern festgelegt und können unter oder über dem Originalpreis liegen.“ Im englischen Text ist von „Ticket to Freedom“ die Rede. Toll, nicht? Nirgends werden Gebühren erwähnt, das ist nicht weiter verwunderlich; dass sie erhoben werden, versteht sich ja von selber. Die Höhe ist absurd, jedenfalls in meinem Fall.

Ich war naiv. Ich wollte Karten für „Roncalli“. Ich habe mich nicht erkundigt, bei wem ich sie bestelle. Ich bin in die Falle gelaufen. Macht es mir nicht nach!

Das könnte Biden den Wahlsieg kosten

Wieder reist der amerikanische Außenminister Tony Blinken quer durch den Nahen Osten, von Katar nach Saudi-Arabien, von Israel nach Ägypten. Es ist seine fünfte Tour in kurzer Zeit, eine ungeheure Anstrengung, die ihn zeichnet. Das schmale Gesicht ist wie ausgezehrt, die Augen noch melancholischer als sonst, die schlaksige Gestalt gebeugt. Wenn man jemandem beim Altern zuschauen möchte, ist Blinken ein geeignetes Objekt.

Seine Reisen sind unvermeidlich, weil Amerika viel tief mit dieser Region verwoben ist. Rund 40 000 Soldaten sind hier noch stationiert: 2 500 im Irak; 2 000 in Jordanien; 13 500 in Kuweit; dazu viele Tausende in Bahrain, wo die 5. Flotte der US-Marine liegt, und in Katar, wo ein Luftwaffenstützpunkt für das Central Command steht.

Für eine Weltmacht, die im Nahen Osten ihre Interessen vertreten wissen will, ist eine Streitmacht von 40 000 Soldaten und Soldatinnen nicht besonders viel. Allerdings sind die Erfahrungen in Syrien und dem Irak derart niederschmetternd gewesen, dass sich schon Joe Bidens Vorgänger aus dieser völlig unberechenbaren Gegend stärker zurückziehen wollten. Da die USA aber Israels Existenz sichert, bleibt militärische Präsenz ein Gebot.

Wer aber da ist, bietet auch ein Ziel. An der syrisch-jordanischen Grenze liegt eine Garnison, in der sich 350 US-Soldaten aufhalten. Eine Drohne tötete vor ein paar Tagen drei von ihnen, offenbar gestartet von einer Miliz, die unter dem Einfluss der iranischen Revolutionsgarden steht. Die Vergeltung ließ nicht lange auf sich warten. B-1-Bomber, die aus den USA anflogen, führte sie auf Ziele der Revolutionsgarden  in Syrien und dem Irak aus.

Momentan bietet es sich an, in dieser Region des immer noch steigerungsfähigen Hasses und der asymmetrischen Kriege ein Zentrum von einer Peripherie zu unterscheiden. Das Zentrum ist Gaza, der schmale Küstenstreifen, in dem die israelische Armee im Süden nun gegen die Stadt Rafa am Grenzübergang zu Ägypten mit größter Härte vorgeht. Die Peripherie liegt im Libanon, der Heimstatt der Hisbollah, auch im Jemen, von wo aus die Huthi die Schifffahrt im Roten Meer stören, und eben im Irak und in Syrien, wo sich der Iran Einfluss gesichert hat.

Tony Blinkens Aufgabe liegt darin, sich um Peripherie und Zentrum gleichermaßen zu kümmern.  In Paris arbeiten seine Diplomaten mit Abgesandten aus der Region eine Lösung aus, die eine Waffenpause im Gaza mit dem Austausch der Geiseln verbindet. Seine fünfte Tour durch die Region dient auch dazu, eine politische Initiative für die Zeit nach dem Krieg zu lancieren, die Israels Sicherheit auf Dauer garantieren könnte. Und natürlich müssen Fäden nach Teheran gesponnen werden, damit aus der Peripherie nicht ein zweites, erheblich größeres Zentrum entsteht, in dem sich dann Iran und Amerika direkt gegenüberstehen würden.

Möglich ist im Nahen Osten immer alles. Eigentlich wird es seit geraumer Zeit immer schlimmer und deshalb scheint eine Ausdehnung des Krieges auf die gesamte Region keineswegs ausgeschlossen zu sein. Krieg liegt hier allemal näher als Frieden. An Ausgleich oder  Abflauen der Rache ist auch vier Monate nach dem 7. Oktober nicht zu denken.

Was Tony Blinken oder auch Joe Biden monieren oder empfehlen, stößt bei Benjamin Netanjahu auf taube Ohren. Im Westjordanland dürfen radikale Siedler weiterhin arabische Nachbarn ungestraft drangsalieren. Appelle, damit aufzuhören oder gar den Siedlungsausbau einzustellen, verhallen ungehört. Appelle, Rücksicht auf die Zivilbevölkerung im Gaza zu nehmen, verhallen ebenfalls ungehört.

Wie es aussieht, schwebt dem israelischen Ministerpräsidenten anderes vor, zum Beispiel einen Korridor durch Gaza zu ziehen, wofür ganze Häuserzeilen im Süden gesprengt werden. Außenminister Blinken lehnt allerdings jede Verkleinerung des Gaza-Streifens ab. Denn damit wäre der Konflikt auf viele Jahre eingefroren und das heißt, dass auch israelische Soldaten ein Ziel für die nächste Hamas-Generation wäre, die dieser Krieg vermutlich herausbildet.

Noch immer sind mehr als Hundert Geiseln in der Hand der Hamas. 27 der Entführten sollen tot sein – vielleicht bei Angriffen getötet, vielleicht auf der Flucht erschossen oder in irgendeinem Tunnel-Verlies eines natürlichen Todes gestorben. In Paris handelten die Blinkens Diplomaten mit ihren Kollegen aus der Region Folgendes aus: Während einer sechswöchigen Waffenpause sollen Frauen, Kinder, Alte aus der Geiselhaft freikommen und dafür im Verhältnis 1:3 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen werden. 

Wie die Reaktion ausfällt? Die Hamas will mehr – eine Ende des Krieges anstatt nur einer vorübergehenden Einstellung. Benjamin Netanjahu will anderes, denn seine Priorität liegt in der Zerstörung der Hamas und der Tötung ihrer Anführer. Pausen passen nicht in diese militärische Logik. Auch denkt Netanjahu nicht daran, Gefangene in hoher Zahl freizulassen, weil sie dann den Kampf gegen Israel aufnehmen könnten.

Unter diesen Umständen dürfen Bemühungen um Vermittlung erneut scheitern. Tony Blinken wird trotzdem nicht nachlassen und noch öfter in den Nahen Osten reisen, das ist sein Job. Die Zeit läuft ihm allerdings aus einem anderen Grund langsam aus: In Amerika ist Wahlkampf und der Krieg im Nahen Osten ist nicht besonders populär. Kostet Gaza Joe Biden am Ende die Präsidentschaft?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der deprimierendste Wahlkampf aller Zeiten

Zwei Länder, zwei Wege: In Polen versucht die neue Regierung, die liberale Demokratie zu rehabilitieren. In Frankreich missbraucht Präsident Macron das Verfassungsgericht aus politischen Gründen. Und über allem schwebt Donald Trump wie ein Verhängnis.

Momentan ist Polen das angespannteste Land in Europa. Die neue Regierung unter Donald Tusk bemüht sich darum, den Rechtsstaat und die Öffentlichkeit wieder zu entpolitisieren. Der katholisch-nationalkonservative Vorgänger hatte das Verfassungsgericht und die Medien mit willfährigen Leuten besetzt. Die Veränderungen, die sie in acht Jahren über Polen brachte, lassen sich nicht so schnell revidieren, zumal der überaus einflussreiche Präsident Andrzej Duda dem alten Regime angehört und das neue Regime blockiert, wo er nur kann. In achtzehn Monaten läuft seine Amtszeit ab. Erst dann wird der Weg frei.

An Polen lässt sich in diesen Tagen ablesen, was auch andere Länder aus anderen Gründen zerreißt. Soziologen haben dafür einen besonderen Begriff gewählt: Trilemma. Damit ist gemeint, dass die drei Faktoren Macht, Rechtsstaat und Öffentlichkeit im Widerstreit liegen. Polen befindet sich in einem Kulturkampf zwischen Pro- und Anti-Europäern, Abtreibungsbefürwortern und Abtreibungsgegnern. Er wird ausgetragen über Gerichte, deren Neutralität Lech Kacziński, der Pate des klerikalen Konservatismus, aushebeln ließ. Der Kulturkampf spiegelt sich wieder in der politischen Öffentlichkeit, wobei das Fernsehen als wichtigstes Medium zum Propaganda-Instrument verkam.

Frankreich ist von je her speziell unter den europäischen Nachbarn. Emmanuel Macron verfügt als Präsident über sehr viel Macht, hat aber keine Mehrheit im Parlament. Ein neues Einwanderungsgesetz kam nur durch Zustimmung der Rechten unter Marine LePen zustande und fiel entsprechend scharf aus. Prompt verwarf das Verfassungsgericht große Teile des neuen Gesetzes und zwar vor allem jene Artikel, die LePen am Herzen lagen. Das war keine große Überraschung.

Die Regierung (oder die Macht) muss mit ansehen, wie das oberste Gericht (der Rechtsstaat) ihm in den Arm fällt. Ein Armutszeugnis, eine Demütigung, oder? Genau auf diese Intervention aber hat Emmanuel Macron insgeheim spekuliert. Er missbrauchte also das Gericht zu politischen Zwecken. Er überließ es ihm, das unpopuläre Gesetz zu entschärfen. War das ein kluger Schachzug? Natürlich nicht, da dieses Manöver aus Schwäche erfolgte – aus dem Mangel an Mehrheit im Parlament und der Abhängigkeit von der rechten Opposition. Die Medien (die Öffentlichkeit) verurteilen ziemlich einhellig sowohl das Gesetz als auch den Hintersinn des Präsidenten. Wenn seine Unpopularität noch zu steigern war, dann hat er sie jetzt gesteigert.

Aus Polen möchte die neue Regierung wieder eine Demokratie mit klassischer Gewaltenteilung machen; ohne massive Eingriffe geht das nicht vonstatten. In Frankreich manipuliert der Präsident die Judikative politisch und fliegt damit auf. Aus unterschiedlichen Gründen sind beide Länder innerlich zerrissen, ohne Aussicht auf Heilung in mittlerer Sicht.

Wie aus einem Riss die tiefstmögliche Spaltung entstehen kann, lässt sich an den USA absehen. Früher hat man immer gesagt, was sich dort abspielt, erreicht Europa spätestens in zehn Jahren. Wäre schön, wenn die Kontaktübertragung ausnahmsweise ausbliebe.

Rechtsstaat: Donald Trump hat das Oberste Gericht in seiner Präsidentschaft mit konservativen Richtern bestückt. Das Maß an Neutralität, zu dem es noch fähig ist, wird sich bald ermessen lassen. Trump hat es nämlich vor kurzem angerufen, weil ihn die Bundesstaaten Colorado und Maine wegen seiner Rolle beim Sturm aufs Capitol von den Vorwahlen ausschlossen. Dagegen geht er jetzt juristisch vor. Man darf wirklich gespannt sein, welches Urteil der Supreme Court mit welcher Begründung fällen wird.

Öffentlichkeit: Der Niedergang der Medien ist in Amerika beispiellos. Bei Fox News (Trump ist der Größte) oder MSNBC (Trump als Präsident wäre jetzt endgültig ein Diktator) sammeln sich die Gläubigen wie in feindlichen Kirchen. Verlässliche Informationen über den Gang der Dinge in Amerika und draußen in der Welt erhält man nur noch in Spartenprogrammen und in wenigen Tageszeitungen.

Macht: Zwischen Demokraten und Republikanern herrscht tiefe Abneigung, um nicht zu sagen: Hass. Der heraufziehende Wahlkampf dürfte zum Unerfreulichsten, Verabscheuungswürdigsten, Deprimierendsten aller Zeiten gehören. Von Harry Truman stammt der Satz: Wenn du die Hitze in der Küche nicht aushältst, dann bleib draußen. Die Devise gilt für Normalzeiten. Darf Donald Trump antreten und bleibt Joe Biden sein Gegenspieler, dann kann die Küche auch explodieren.

Amerika ist das abschreckende Beispiel einer Demokratie, in der der Kulturkampf zum Kulturkrieg geraten ist und sämtliche Teilgewalten missbraucht werden. Ob daraus irgendwann mal wieder ein entspanntes Land mit solider Gewaltenteilung samt funktionstüchtiger Öffentlichkeit wird, kann heute niemand vorhersagen.

Unter den Europäern ist natürlich Deutschland das am meisten vom Amerika geprägte Land. Manchmal hilft es ja, wenn man sich umschaut und überlegt, wie Macht, Rechtsstaat und Öffentlichkeit zueinander stehen sollten. Wie Schlafwandler in Krisen hinein zu treiben, die den Staat ramponieren, ist keine Alternative. Aber momentan macht jeder seins, egal ob in Polen oder Frankreich oder eben bei uns, und jeder schaut jedem dabei zu und hofft darauf, dass es nicht so wird wie in Amerika. Nicht besonders klug, oder?

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Nicht etwa eine deutsche Besonderheit

Überall in Deutschland gehen Menschen im Protest gegen die Rechtsextremen auf die Straße. Sie wollen verhindern, dass es ihrem Land ergeht wie Italien, Holland, England oder Schweden.

Am Wochenende fanden erneut Demonstrationen gegen die AfD in etlichen Städten statt. Plötzlich ist eine Massenbewegung entstanden, die sich für die liberale Demokratie einsetzt. Sie formiert sich vor allem in westdeutschen Großstädten wie Köln und Hamburg, Dortmund und Berlin, aber immerhin sind in Ostdeutschland auch Jena, Stralsund und Potsdam dabei. Die große Frage ist nun, ob sich in den nächsten Wochen Leipzig oder Magdeburg, Erfurt oder Frankfurt/Oder im Protest gegen die AfD einreihen – denn in Brandenburg, Thüringen und Sachsen wird im September gewählt.

Ein Phänomen gibt es zu besichtigen, denn als Auslöser diente ein Coup des Rechercheverbundes Correctiv. Die Reporter hatten heimlich ein Treffen in einem Potsdamer Hotel gefilmt, in dem einschlägige Herren einschlägige Vorschläge über die Remigration unliebsamer Ausländer mit und ohne deutschen Pass machten. Der Coup zeigt enorme politische Wirkung. Seither strömen die Menschen auf die Straßen, seither bekommt die AfD endlich starken Gegenwind.

Interessant ist die Reaktion der Rechten auf die unverhofften Proteste. Nachlesen kann man sie zum Beispiel im Blog „Sezession“, auf dem sich rechte Intellektuelle über die Lage der Dinge austauschen. Am 16. Januar schreibt Götz Kubitschek über das Potsdamer Treffen. Aus seiner Sicht handelt es sich um eine private Versammlung zum Gedankenaustausch an einem öffentlichen Ort. Kubitschek wundert sich über die Aufregung und insbesondere darüber, dass Alice Weidel es notwendig fand, ihren Mitarbeiter Roland Hartwig, der in Potsdam dabei war, zu entlassen. Damit habe die AfD „die Tür geöffnet für Forderungen von außen und für den daraus entstehenden Rechtfertigungs- und Erklärungsdruck“.

Aus dieser Perspektive ist Alice Weidel windelweich, anfällig für Kritik aus dem „Regime“, wie in diesen Kreisen demokratische Regierungen heißen. Dagegen zitiert Kubitschek beifällig die Erklärung der fünf ostdeutschen AfD-Fraktionschefs zum Potsdamer Ereignis. Darin heißt es: „Remigration ist nicht verboten oder anstößig, sondern im nationalen Interesse Deutschlands. Remigration meint die Umkehr der Migrationsströme, die gegenwärtig ungehemmt in Richtung Deutschland fließen. Das Resultat: Ende 2022 lebten rund 13,4 Millionen Ausländer in Deutschland. Remigration ist das Gebot der Stunde. Dafür werden wir nach der Regierungsübernahme sorgen.“

Götz Kubitschek gilt als der wichtigste Intellektuelle der Neuen Rechten. Bei ihm laufen viele Fäden zusammen. Auf seinem Gut in Sachsen-Anhalt betreibt er einen Verlag, eine Zeitschrift und eine Denkfabrik. Dort gehen Björn Höcke und andere AfD-Matadore aus Ost wie West ein und aus. Auch der Österreicher Martin Sellner mit seiner identitären Ideologie gehört diesem Kosmos an. Er war es, der im Potsdamer Hotel über Remigration referierte und damit die Anhänger der bestehenden Demokratie mobilisierte.

Die intellektuelle Rechte ist aber keineswegs eine deutsche Besonderheit. Sie gehört einem weit verzweigten europaweiten Netzwerk an. Der Großmeister rechten Denkens lebt in Frankreich und heißt Alain de Benoist. Von ihm stammt der entscheidende Satz: „Die alte Rechte ist tot – sie hat es wohl verdient.“ Diese alte Rechte, von Jean-Marie LePen über Jörg Haider oder Franz Schönhuber, hing noch im Nationalsozialismus fest. Die neue Rechte aber soll ohne Hitler und ohne Holocaust-Leugner auskommen. Sie spielt den Staat gegen das Volk aus, das homogen sein soll und deshalb Ausländer ablehnt. Sie lehnt auch Amerika mit seinem Materialismus und seiner kulturellen Übermacht ab. Von Donald Trump allerdings haben sie alle gelernt: Sie wollen ihr Land wieder groß machen.

In Wahrheit ist die AfD immer noch der „gärige Haufen“, von dem Alexander Gauland redete. In ihr mischen sich alte und neue Rechte. Höcke zum Beispiel darf man laut Gerichtsurteil einen Faschisten nennen. Auch in anderen Teilen Europas finden sich solche gärige Haufen, die allerdings schon dort angelangt sind, wohin die AfD noch will.

In Finnland sitzen sie in der Regierung, in Schweden dulden sie die Minderheitsregierung. In den Niederlanden erreichte Gerd Wilders eine relative Mehrheit, darf aber wohl nicht regieren. In Italien ist Giorgia Melone schon seit einem Jahr Ministerpräsidentin, obwohl ihre Partei keineswegs Abstand zu Benito Mussolini hält, dem Duce, der das Vorbild für Hitler war. In Frankreich unternahm Emmanuel Macron gerade einen heftigen Rechtsschwenk, um der nationalistischen Rechten das Wasser abzugraben. Marine LePen könnte nach heutigem Stand im Jahr 2027 Präsidentin werden. In Österreich ist die fremdenfeindliche FPÖ eine etablierte Größe, die bald wieder in der Regierung sitzen könnte. England dürfte bei der Wahl in einem Jahr die Ausnahme bilden, da die Labour Party wohl die xenophoben Torys ablösen wird, sofern die Demoskopen nicht völlig daneben liegen.

Die Rechte gedeiht überall dort in Europa, wo die Einwanderung als ungelöstes Problem gilt. Auch die Bundesregierung versucht verspätet, Stärke und Entschlossenheit zu zeigen, indem sie die Gesetze verschärft. Ob sie damit noch Erfolg hat? Im September wissen wir mehr.

Ich bin gespannt, wie lange die Demonstrationen in deutschen Städten anhalten werden. Vielleicht sind sie ein sich selbst verstärkender Prozess – je mehr heute auf die Straße gehen, desto mehr gehen morgen los, um gegen die AfD zu protestieren; in je mehr Städten Demonstrationen stattfinden, desto mehr Städte schließen sich an. Gut so, denn die Kubitscheks, Höckes und Weidels  hatten sich schon schon im Glauben gewiegt, dass sie auf direktem Weg an die Macht sind.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Die Unermüdlichen im Reich des Irrsinns

Der Krieg im Gaza zieht Amerika tiefer hinein, als Joe Biden je wollte. Noch scheitern Bemühungen um Waffenruhe und  politische Lösungen an Premier Netanjahu. Aber wie lange noch?

Ich habe schon immer Diplomaten bewundert, die nicht damit nachlassen, immer wieder Vorschläge für mehr Frieden im Nahen Osten zu unterbreiten. Anthony Blinken ist so ein Unermüdlicher. Er fliegt von Amman nach Kairo, von Jerusalem nach Riad und lotet mit einem Höchstmaß an Disziplin und Geduld aus, was sich zum weniger Schlechten verändern lässt. Eigentlich ist er ein flotter Zeitgenosse, der Sportwagen liebt und ziemlich gut Gitarre spielt, so habe ich ihn vor 20 Jahren kennengelernt, aber inzwischen gleicht er eher einem Schmerzensmann, gezeichnet von Erschöpfung und Frustration.

Amerika ist noch immer eine entscheidende Macht in dieser Weltgegend, das zeigt sich jetzt. Der Gaza-Krieg zieht Joe Biden sogar weit tiefer hinein in den vorherrschenden Irrsinn, als er je wollte. Seit vorigen Donnerstag heben Kampfjets vom Flugzeugträger „Dwight D. Eisenhower“ ab und zielen auf Stützpunkt der Huthi im Jemen. Großbritannien macht wieder mit, denn darin liegt eine Gelegenheit, das Sonderverhältnis zu den USA herauszustellen. Die Niederlande, Australien und Kanada leisten – neben Bahrain –Unterstützung, logistisch und bei der Aufklärung. Da ist reichlich viel Nato dabei, um die Huthi daran zu hindern, den globalen Handelsverkehr aus dem Roten Meer zu vertreiben.

Das Risiko auf diesem Nebenkriegsschauplatz, mit dem nicht jeder Experte gerechnet hatte, ist kaum zu unterschätzen. Dass die Hisbollah aus dem Libanon den Norden Israels unter Raketen setzen würde, lag nahe. Aber die Huthi, die so etwas wie die Taliban im bitter armen Jemen sind? Iran hat eben etliche Eisen im Feuer und wird es mit grimmiger Freude beobachten, wie die USA, der „große Satan“, dazu gezwungen wird, dem „kleinen Satan“ Israel beizuspringen.

Iran ist der Marionettenspieler im Hintergrund. Allzu amüsiert können die schiitischen Mullahs aber nun auch wieder nicht die Entwicklung der Ereignisse beobachten, wie mehrere Attentate der letzten Wochen belegen, zuletzt bei der Totenfeier für eine Regime-Ikone. Auch ist die Aussöhnung mit dem sunnitischen Erzfeind Saudi-Arabien, ausgerechnet von China orchestriert, im Gaza-Krieg verblichen. Mohammed Bin Salam, der Herrscher, hält es momentan mit den westlichen Freunden Israels. Auch seine Luftabwehr holt Huthi-Drohnen und -Raketen vom Himmel. Dafür bekommt Bin Salam nun Lenkflugkörper aus Deutschland geliefert.

Saudi-Arabien ist ein wichtiger Faktor für jede politische Neuordnung des Nahen Ostens nach dem Gaza-Krieg. Mit Zuversicht muss man natürlich in dieser Region sparsam umgehen, wie die Erfahrung lehrt. Aber immerhin zeigt der Krieg eine politische Dynamik, die vor dem 7. Oktober nicht am Horizont lag.

Amerika ist die Schutzmacht Israels und auch deren größter Kritiker. Amerika hat schmerzhaft in ihrer Geschichte erfahren, dass man wissen muss, was hinterher sein soll, wenn man in einem Land militärisch interveniert. Auf Netanjahu haben Biden wie Blinken mit Engelszungen eingeredet, eine politische Lösung anzubieten, vergeblich. Netanjahus Karriere gründet darauf, die Siedlungen im Westjordanland auszubauen, egal was das Völkerrecht dazu sagt, und die Zwei-Staaten-Lösung für tot zu erklären, egal welche Hauptstadt anders darüber denkt. Nur ohne ihn ist an eine Alternative zum Krieg denkbar.

Deutschland macht seine eigene Erfahrungen mit Israel. Deutschland bewegt sich vielleicht auch deshalb jetzt im Gleichklang mit Amerika. Außenministerin Annalena Baerbock tourte parallel zu Anthony Blinken durch die Hauptstädte. Nach längerem Schweigen hat sie den Ton gegenüber Israel verschärft. Wie Blinken drängt sie auf mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, auf ein entschiedenes Einschreiten gegenüber militanten Siedlern im Westjordanland, zeigt sich entsetzt über die Zahl der palästinensischen Opfer und über die humanitäre Katastrophe im Gaza.

Die Veränderung der Tonlage fällt Annalena Baerbock sicherlich nicht leicht. Vor genau 9 Jahren verknüpfte Angela Merkel Israels Existenz mit der deutschen Staatsraison. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, ist seither beschwiegen worden. Reicht moralische Unterstützung, wie nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober? Müsste die Bundeswehr in einen großen Nahost-Krieg, der ja jederzeit möglich ist, mit eigenen Truppen eingreifen? Genügt Teilnahme an einer Uno-Friedensmission im Gaza nach dem Krieg?

2015 regierte wie heute auch Benjamin Netanjahu. Anders als damals gehören aber heute seiner Regierung zwei wichtige Minister an, die öffentlich über die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gaza phantasieren und ernsthaft vorschlagen, dass Israelis sich dort ansiedeln. Das verändert die Sachlage und deshalb sind offene Worte nur angemessen.

Südafrika ist weiter gegangen. Südafrika klagt vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag Israel wegen Völkermords an und zwar seit 1948, der Staatsgründung. Das ist der schwerst mögliche Vorwurf für ein Land, das auch zur Heimstätte der Holocaust-Überlebenden wurde. Nun ist Südafrika nicht gerade ein Musterbeispiel für eine stabile und prosperierende Demokratie, um es milde auszudrücken. Aber die innewohnende Symbolik ist gar nicht zu übersehen: Hier klagt der globale Süden das Land an, das unter dem Schutz des Westens steht – und zwar   vor einem Gerichtshof der Uno.

Auch deshalb kann man nur hoffen, dass die Unermüdlichen weiterhin an mehr Frieden in dieser friedlosen Region arbeiten. Der Krieg zieht sich hin, das schon, aber vielleicht ja weniger lange als befürchtet. Denn der Druck auf den obstinaten Premier Netanjahu dürfte bald schon aus einem besonderen Grund zunehmen. Wenn Joe Biden wiedergewählt werden will, tut er gut daran, als Friedensstifter in Erscheinung zu treten, spätestens im Sommer.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Unser Franz, unser Kaiser

Mit ihm begann der moderne Fußball, der nicht nur Arbeit war, sondern auch Ästhetik. Die Deutschen verdanken ihm viel: als Spieler, als Trainer, als Organisator. War es gerecht, ihn ins Bodenlose fallen zu lassen?

Wenn Franz Beckenbauer den Rasen betrat, leuchtete die Sonne heller, mit ihm wurde die Welt reicher. Wer ihn zum ersten Mal sah, konnte es kaum fassen, Zeuge des Unerhörten, Ungesehenen zu sein. So geht es zu, wenn ein Genie geboren wird. Bis dahin war Fußball vor allem Arbeit und die Grätsche die Kunstform des äußersten körperlichen Einsatzes. Mit ihm aber hielten Eleganz, Ästhetik und Anmut Einzug in unser Herz. Was für ein Glück!

Franz Beckenbauer war der erste Spieler, der nicht auf den Ball starrte, wenn er ihn am Fuß führte. Er sah sich in aller Ruhe um, wohin der Paul (Breitner) oder Gerd (Müller) liefen und zirkelte dann, zumeist mit dem Außenrist, den Ball exakt in ihren Lauf. Wen er nicht leiden konnte, den spielte er so fies an, dass dieser arme Mensch glaubte, er könne es noch schaffen, den Ball vor der Außenlinie zu erreichen, schaffte es aber nicht  und sah wie ein tumber Tor aus.

Beckenbauer war 19 Jahre alt, als er mit Bayern München aufstieg. Der große Münchner Verein war damals der TSV 1860, der in dieser Saison 1964/65 Deutscher Meister wurde. Beckenbauer war 20 Jahre alt, als sich am 30. Juli 1966 das große Drama im Endspiel Deutschland gegen England ereignete. Ich kann heute noch die Mannschaftsausstellung im Schlaf herunterbeten. Ich verachte heute noch Tefik Bachramov, diesen Linienrichter aus der Sowjetunion, der von der Seitenlinie und nicht auf Torhöhe, gesehen haben wollte, dass der Schuss an die Latte von Geoff Hurst hinter der Linie heruntergefallen war. Nie und nimmer! 

Es ging ungerecht zu, im Leben sowieso, also auch im Fußball. Alle Spieler, von Hans Tilkowski über Wolfgang Weber und Horst-Dieter Höttges bis zu Uwe Seeler, prägte dieses Spiel. Die Rache für 1966 waren jahrzehntelange Niederlagen der Engländer gegen uns, vorzugsweise im Elfmeterschießen.

Franz Beckenbauer war 1966 noch nicht der beispielhafte Libero, sondern der Jungspund im defensiven Mittelfeld, dem die wichtige Aufgabe zugeteilt worden war, den Spielmacher Bobby Charlton zu neutralisieren, was ihm auch ziemlich gut gelang, aber eben nicht über 120 Minuten, dafür war Charlton einfach zu gut. Der Franz verstand sich blendend mit Helmut Haller, dem Spielmacher mit Italien-Erfahrung, und natürlich auch mit Wolfgang Overath. Er schoss im Turnier 4 Tore, nein, er schlenzte sie. Er spielte ja ökonomisch, das Hämmern war nicht seine Sache. Noch war er nicht die alles überragende Figur im deutschen Spiel, aber jedermann wusste: Bald war es so weit und die Overaths und Günther Netzers erkannten sein Genie mehr oder weniger neidlos an.

1974 war es soweit. Franz Beckenbauer war 28 Jahre alt. Nun war er der Kaiser, der Feldherr, der sich seine Mannschaft zusammen suchte, die der Bundestrainer (Helmut Schön hieß er) dann auch brav aufstellte. Es war eine Freude und ein Glück, ihn spielen zu sehen. Er war nicht mein Lieblingsspieler, das war Wolfgang Overath. Beckenbauer habe ich bewundert. Bewunderung schafft Distanz, so ist das nun einmal.

Im Endspiel waren die Niederlande die bessere Mannschaft und Johan Cruyff stand an Eleganz und Weitblick und Phantasie unserem Franz nicht nach. Wieder ging es nicht gerecht im Fußball zu, aber diesmal traf es die anderen. Ausgleichende Ungerechtigkeit, mehr nicht.

Beckenbauer war Avantgarde auch jenseits des Stadions. Er sah blendend aus, die Werbewirtschaft riss sich um ihn, er besuchte die Wagner-Festspiele in Bayreuth, er häutete sich mit den Frauen, die er heiratete. Er ging nach New York (mit der Fotografin Diane Sandmann), spielte mit Pelé für Cosmos, ein Weltereignis spät im Leben. Er kam zurück nach Deutschland und der Hamburger SV schmückte sich noch  zwei Jahre mit ihm.

Zufällig lebte ich damals in Hamburg und ging ins Volksparkstadion, um den Franz zu sehen. Es war, wie es immer für mich war. Ich schaute ihm atemlos und verzückt zu, wie er sich bewegte, wie er den Ball nicht zu beachten schien, der wie ein Magnet an seinen Füßen klebte. Es war ein Genuss, ihn dabei zu beobachten, wie er Räume mit seinen Pässen öffnete, die außer ihm niemand im Stadion gesehen hatte. Wer den Fußball liebte, musste ihn lieben, den Franz, den Kaiser, auch noch mit 36. Ja, er war nicht mehr der Schnellste, aber das war er nie gewesen. Allein seine Anwesenheit trieb die Mitspieler zu besseren Leistungen an und zog die Zuschauer ins Stadion.

Was hat er uns nicht alles geschenkt. Als Trainer nochmals Weltmeister mit einer durchschnittlichen Mannschaft, der er erst einmal beibrachte, wieder die Nationalhymne zu singen. Nur Mario Zagallo, der zwei Tage vor dem Franz starb, und Didier Deschamps gehören in dieses Pantheon. Dann das Sommermärchen 2006. Ja, da war was, da floss Geld, und aus war es mit der Lichtgestalt, dem Glückskind – dem Überirdischen, das die Deutschen in ihm sahen. Wie sehr er unter dem Sturz ins Bodenlose litt, wird irgendwann irgendjemand erzählen. Ob es gerecht war, ihn fallen zu lassen, wird vielleicht in anderen Nachrufen verhandelt.

Nun ist er nicht mehr unter uns. Gibt es einen Gott, dann versteht er was von Fußball und nimmt ihn zu sich, unseren Franz. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern Abend.

Flut, Kamera und Kanzler

Heute reiste unser aller Bundeskanzler in das Städtchen Sangershausen und stand am Deich an der Helme-Brücke, begutachtete ihn kritisch und riet ihm dringend, doch gefälligst den Wassermassen standzuhalten. Ob sich der Deich davon beeindrucken lässt? Na ja, warum nicht.

Kameras sind besonders dann unbarmherzig, wenn sich ein herausgehobener Mann des Staates in Gummistiefeln und Regenjacke der Flut nähert, die Deutschland öfter als früher heimsucht. Sie halten drauf, wenn der Landesfürst eine längliche Rede hält und den Einsatz von Feuerwehr, Polizei und Technischem Hilfswerk ausgiebig lobt, während der Bundeskanzler auf seinen Einsatz wartet. Olaf Scholz stand am Silvestertag in Verden minutenlang neben dem Ministerpräsidenten Stefan Weil, der den richtigen Ton und die richtigen Worte fand. Was sollte der Kanzler in der Zwischenzeit machen? Was ist der angemessene Gesichtsausdruck? Wie zaubert man Betroffenheit und Mitleid in ein Gesicht, das sich Ausdruckslosigkeit antrainiert hat?

Olaf Scholz kann ohnehin momentan nichts machen, ohne dass es gegen ihn ausgelegt würde. In Sangershausen beschimpften sie ihn. In Verden fanden sich Anwohner, die in die Kameras sprachen: Bin enttäuscht, hatte mehr erwartet. Ja, was denn eigentlich? Und dienen die rhetorischen Fragen der Journalisten, die arglose Zeitgenossen zu Großkritikern erheben, der Wahrheitsfindung?

Zum Glück hat der Dauerregen dieser Tage noch kein ganz großes Unheil angerichtet. Menschen sind bisher nicht zu Tote gekommen. Aber in ganz Deutschland schwellen Flüsse an, in Franken wie in der Oberpfalz, in Niedersachsen wie Sachsen-Anhalt, in Baden-Württemberg wie in Bayern. Kommen wir dennoch diesmal glimpflich davon?

Wasser ist eine Urgewalt. Wasser verschlingt von je her Mensch und Tier, zerlegt Behausungen. Der tosende Lärm heran rauschenden Wassers löst Urangst aus. Davon erzählen Mythen und Legenden aus alten Zeiten. Der Tsunami im Jahr 2004 verursachte Schockwellen rund um den Globus. Gerade bedroht ein Sturm über dem Pazifik mit 9 Meter hohen Brechern Kalifornien.

Inzwischen sind wir auch in Deutschland erfahren genug, um zu wissen, dass Wassermassen, die Autos wie Treibholz vor sich her schieben, Häuser zerstören, als wären sie aus Pappe und Menschen verschlingen Folgen übers Unmittelbare hinaus haben. Sie beschleunigen oder beenden Karrieren. Sie zeigen, was in Politikern steckt und was ihnen fehlt.

Gerhard Schröder ist der Inbegriff eines Politikers, der die die Stunde nutzte, als die Elbe im Jahr 2002 katastrophal über die Ufer trat. In Grimma war’s, als er sich tief erschütterte zeigte, was die Natur anrichtete – mitten im Wahlkampf, in dem die rot-grüne Regierung in Not war, weil die Ökosteuer auf Kraftstoffe unpopulär war. Weil der Bundeskanzler alles richtig machte, als es darauf ankam, blieb er auch Bundeskanzler. Dabei half ihm, dass sich sein CDU/CSU-Gegenkandidat Edmund Stoiber damit begnügt hatte, nur in Bayern an bedrohte Orte zu eilen. So kann’s gehen.

Die Oder hatte im Jahr 1997 in Tschechien, Polen und Deutschland Deiche zerquetscht und überflutet. Der junge Umweltminister in Brandenburg, Matthias Platzeck hieß er, warnte frühzeitig, dass sich da etwas anbahne und  Vorkehrungen getroffen werden sollten. Von allwissenden Experten wurde er als „Bürschchen“ abgetan, dem es an Erfahrung mangele. Aus dem Bürschchen, das Recht gehabt hatte, wurde wenige Jahre später der Ministerpräsident seines Landes und (kurzfristig) auch der SPD-Vorsitzende.

Als Gegenbeispiel fällt uns sofort Armin Laschet ein, der Unionskandidat, der im Hintergrund als Grinsekatze auffiel, als im Vordergrund der Bundespräsident Worte zu finden suchte, die der Ahrtal-Jahrhundert-Flut gerecht wurden. Es gibt nicht nur einen einzigen Grund, warum ein erfahrener Politiker eine Wahl verliert, aber dieser Moment der Unangemessenheit trug sicherlich dazu bei, dass die CDU unter ihren Möglichkeiten blieb und Laschet in einem Ausschuss des Bundestages landete.

Im Ahrtal starben im Jahr 2021 135 Menschen, der materielle Schaden betrug 40 Milliarden Menschen. Ein Untersuchungsausschuss im Landtag befragte 227 Zeugen und 20 Sachverständige. Ein ziemlich kollektives Versagen der Verantwortlichen kam dabei heraus. Der Landrat im Kreis Ahrweiler hatte Warnungen nicht weitergegeben und musste zurücktreten. Die Umweltministerin Anne Spiegel fuhr in den gebuchten vierwöchigen Urlaub. Der Innenminister Roger Lewentz musste ebenfalls zurücktreten. Der ansonsten tadellosen Ministerpräsidentin Malu Dreyer hängt die Flut bis heute an.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ereignen sich die geschichtlich beispiellosen Katastrophen in anderen Weltgegenden, zum Beispiel der Tsunami von 2004, der halb Südostasien verwüstete und mehr als 241 000 Menschen tötete. Ein Jahr später überflutete der Orkan Katrina die schöne Stadt New Orleans: 1 836 Tote, 350 000 Häuser zerstört, 1,3 Millionen Menschen obdachlos. Der Präsident, er hieß George W. Bush, brauchte ziemlich lange, bis er am Unglücksort auftauchte, was ihm, der nach 9/11 noch die Stimme Amerikas gewesen war, nicht zum Vorteil gereichte.

Wenn sich die schwellenden Flüsse und Ströme aufmachen, um die Menschen zu quälen, dann können wir Zeitgenossen genau sehen, was vor sich geht. Die Krisen und Katastrophen, die daraus entstehen, zeichnen sich durch Anschaulichkeit aus. Die Zuschauer am Fernsehapparat, sofern sie kein Herz aus Stein haben, überkommt Mitleid und Hilfsbereitschaft. Dagegen sind die anderen Problemfälle unserer Zeit erheblich komplexer, etwa der Krieg in der Ukraine oder im Gaza. Auch was im Falle Wirecard vor sich ging oder bei Cum-Ex entzieht sich in seiner Vielschichtigkeit dem leichten Verständnis.

Allerdings haben auch sommerliche Dürre und winterliche Dauerregen tiefere Ursachen, haben sie doch mit dem Menschheitsproblem der Klimaveränderungen zu tun. Den Klimaleugnern könnten die Argumente ausgehen.

Heute, Donnerstag, regnet es noch allüberall in Deutschland. Danach könnten die Gelegenheiten für den Bundeskanzler, die adäquate Miene aufzusetzen, glücklicherweise ausgehen. Es soll kälter werden, sagen die Wetterfrösche, der Regen macht in den nächsten Tage zumindest eine Pause. Gut so.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

„Viel schlimmer kann’s kaum werden“

Blick zurück nach vorn: Der Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger über Putins Hoffnung auf eine zweite Präsidentschaft Trumps, über China als vermittelnde Macht und Europa als Trittbrettfahrer der USA

t-online: Herr Ischinger, wie schätzen Sie das Jahr 2024 ein – kommt es noch

schlimmer als 2023?

Ischinger: Viel schlimmer kann’s kaum werden, innenpolitisch wie außenpolitisch. Ich halte es freilich mit Friedrich Hölderlin, der wie ich in Nürtingen aufwuchs: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.

Sie haben in unserem letzten Interview gesagt, Donald Trump werde eher im Gefängnis landen als im Weißen Haus. Sind Sie noch immer so

zuversichtlich?

Das war zwar mehr Hoffnung als feste Erwartung. Ich bleibe aber

zuversichtlich, dass Donald Trump nicht ein zweites Mal ins Weiße Haus

einziehen wird.

Joe Biden kandidiert ja eigentlich nur deshalb erneut, weil er Trump

verhindern will. Behalten Sie mit Ihrer Trump-Prognose recht, gibt es keinen Grund für die Demokraten, an ihm festzuhalten. Sehen Sie eine jüngere Alternative zu Biden?

Ehrlich gesagt, nein. Aber ich kenne Leute, die von Michelle

Obama träumen. Andere sehen im kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom eine jüngere attraktive Alternative. Aber ob die Trump schlagen könnten?

Biden wäre bequem für die Europäer, weil er ein lebenslanger Atlantiker ist und an der Nato festhalten wird. Ist er nicht auch ein bequemes Alibi dafür, dass Europa sich wie eh und je an Amerika anlehnt, anstatt auf eigene Füße zu kommen zum Beispiel militärisch?

Ja, Europa muss das Image des sicherheitspolitischen

Trittbrettfahrers loswerden. Das ist angesichts des desolaten Zustands

unserer militärischen Fähigkeiten allerdings eine Aufgabe für das ganze

Jahrzehnt. Die EU muss sich bis dahin zu einem Europa der Verteidigung

weiterentwickeln, zu einem Europa, das seine Bürger und seine Grenzen

selbst glaubwürdig schützen kann.

Ein Beispiel: Seit Jahren bietet Emmanuel Macron an, mit Partnern wie Deutschland in ein Gespräch über nuklearstrategische Fragen einzutreten. Unsere Reaktion bisher: schweigen. Eigentlich wäre der Dialog überfällig, wenn wir Europäer im Fall Trump nicht ohne Plan B dastehen wollen. Aktuell sind wir ohne die USA kaum oder gar nicht verteidigungsfähig und können uns deshalb glücklich schätzen, den überzeugten Transatlantiker Biden im Weissen Haus zu haben. Gut, dass Amerika uns Europäer angesichts des russischen Angriffskriegs weiterhin schützt!

Die Ukraine wäre überglücklich, wenn Biden Präsident bliebe, weil die USA dann weiterhin Waffen und Munition liefern und moralische Unterstützung bieten. Oder blutet die Widerstandskraft Ihrer Einschätzung nach langsam aus?

Die Ukraine muss damit rechnen, dass Wladimir Putin sich jedenfalls

solange nicht auf Kompromisse einlassen wird, wie er auf Trump im Weißen

Haus hoffen kann – also mindestens noch mal 11 Monate bis Ende 2024. Das gilt auch für uns: Dieser Krieg  wird noch länger dauern! Darauf müssen wir uns einstellen, auch was die notwendige Intensivierung von Waffen- und

Munitionslieferungen betrifft. Die EU hatte eine Million Artilleriegranaten in

Aussicht gestellt – geliefert wurde jedoch bislang noch nicht einmal die Hälfte. Hat Europa,  hat Berlin im wahrsten Sinn des Wortes etwa den Schuss nicht gehört? Es herrscht Krieg in Europa, ganz in unserer Nachbarschaft! Im neuen Jahr ist dieser Krieg, wenn man seinen Beginn auf die Annexion der Krim im Jahr 2014 festlegt, bereits 10 Jahre alt – er dauert damit jetzt schon genauso lang wie die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts!

In Russland wird Putin im Jahr 2024 wieder gewählt. Auf der Münchner

Sicherheitskonferenz, die Sie leiteten, hat er im Jahr 2007 seine berühmte Abrechnungsrede mit dem Westen gehalten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von ihm und wie stark hat er sich Ihrer Auffassung nach seither verändert?

Ich habe in der Ära des Kanzlers Gerhard Schröder einen Putin erlebt, mit dem man gute Ergebnisse aushandeln konnte; da war er ein Partner des Westens. Der Putin von 2007 war ein anderer, das war sein erster Auftritt als der Putin, den wir jetzt kennen. Seine Botschaft damals war: Ich will und ich werde als Weltmacht ernst genommen werden, notfalls erzwinge ich das. Genau so kam es dann, erst in Georgien 2008, dann in der Ukraine 2014, und schließlich der Großangriff zur Unterwerfung der Ukraine im Februar 2022, mit Hunderttausenden Gefallenen und zivilen Opfern.

Im Nahen Osten ist der große Krieg bislang ausgeblieben. Die Überfälle und Angriff der jemenitischen Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe scheinen eingedämmt zu sein. Die Hisbollah verschießt viele Raketen aus dem Libanon auf Israel, das seinerseits einen General der iranischen Revolutionskräfte in einem Vorort von Damaskus tötete. Bleibt es Ihrer Ansicht beim lokalen Krieg zwischen Israel und Hamas, bei gelegentlichem Störfeuer an anderen Grenzen?

So sicher wäre ich da nicht. Wir stehen ja noch am Anfang. Schon jetzt ist die freie Seeschifffahrt schwer gestört, mit enormen Folgekosten und

Instabilität-Risiken. Im islamistischen Lager wird mit strategischen

Sperrungen im Mittelmeer und im Golf, in der Straße von Hormuz, gedroht.

Zum Glück haben die USA zwei Flugzeugträger in

der Region. Sie haben eine starke Abschreckungswirkung, auch und gerade gegenüber Teheran.

Der israelische Premier Benjamin Netanjahu beharrt darauf, die Hamas total zu eliminieren. Halten Sie diese Fixierung für sinnvoll?

Die militärische Zielsetzung, den Hamas-Terror zu vernichten, kann dann

erfolgreich sein, wenn sie in eine politische Strategie, den Konflikt zu beenden, eingebettet ist. Sonst wachsen der Hydra neue Köpfe nach!

Netanjahu beschränkt sich auf militärische Ziele. Er will eine entmilitarisierte Zone im Gaza einrichten und die dortige Bevölkerung entradikalisieren. Kann Israel das wirklich erreichen?

Eben deshalb fehlt mir der politisch-strategische Plan, den auch die USA

völlig zurecht von Netanjahu einfordern, bei allem Verständnis und bei aller Unterstützung des Versuchs, sich des Hamas-Terrors endgültig zu

entledigen.

Politische Lösungen, in Etappen zu erreichen, sind von Netanjahu kaum  zu erwarten. Von welchem Nachfolger erhoffen Sie sich den Übergang von militärischer Logik zur politischen?

Man kann nur wünschen und hoffen, dass Israel den demokratischen Weg

in eine Zeit nach Netanjahu rasch findet.

Die deutsche Außenpolitik ist nach eifriger Shuttle-Diplomatie in Schweigen verfallen und überlässt Amerika die Kritik an der israelischen Kriegsführung. Gerade weil Deutschland die Existenz Israels zur Staatsraison erklärt, ließe sich Kritik an der Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung im

Gaza üben. Oder geht das Ihrer Ansicht nach zu weit?

Bundesregierung und Bundestag sollten zunächst dringend den

Satz von der deutschen Staatsraison ausbuchstabieren und mit konkretem

Inhalt erfüllen. Übernehmen wir damit eine Art politisch-militärischer

Beistandsverpflichtung? Oder bleibt der berühmte Satz von Angela Merkel nur eine leere Floskel? Die jüngste deutsche Stimmenthaltung in der Uno bei der Gaza-Resolution hat jedenfalls nicht den Eindruck vermittelt, dass wir den Satz ernst nehmen.

Meron Mendel, in Tel Aviv geboren und Professor In Frankfurt, schlägt vor, jetzt die Zwei-Staaten-Lösung für Israelis und Palästinenser zu forcieren und fordert die Bundesregierung auf, die Initiative zu ergreifen. Hat er recht?

Das ehrt ihn sehr, aber von einer deutschen Initiative halte ich

wenig. Wir brauchen eine kohärente europäische Nahostpolitik! Schön wär’s,

wenn unter der viel beschworenen deutschen Führungsverantwortung die Europäische Union mit einer Position aufwarten würde, eng abgestimmt mit den USA und den anderen G7-Partnern.

Aus der Sicht des globalen Südens, zum Beispiel Indiens, Brasiliens oder Südafrikas, ist der ewige Konflikt im Nahen Osten ein besonders beredtes Beispiel für die Doppelmoral des Westens. Wie weit geben Sie dieser Sicht der Dinge recht?

Der alte Vorwurf, wir handelten mit zweierlei Maß, bezog sich stets

insbesondere auf den Nahen Osten, aber auch auf blutige Kriege in Afrika, bei denen wir gerne weggeschaut haben. Er wird aktuell aber auch durch

den Krieg in der Ukraine und den Umgang mit dem Pandemie-Impfstoff gestärkt. Die Glaubwürdigkeitskluft zwischen dem Westen und dem Süden bricht deshalb noch weiter auf. Das alles, einschließlich der Auswirkungen des Gaza-Krieges, wird sich zu einer langfristigen Hypothek für uns, für den Westen, entwickeln.

Es ist ja zum Beispiel wahr, dass radikale Siedler im Westjordanland unter dem Schutz der Armee Araber aus ihren Häusern vertreiben, sie malträtieren und sogar auch töten.

Zunächst einmal sollten wir unsere Solidarität mit dem brutal

angegriffenen Staat Israel nicht relativieren. Aber richtig ist, dass auch die USA kritisieren, dass die Koalitionsregierung in Israel solche Übergriffe und Straftaten nicht hinreichend klar und deutlich unterbindet.

Israelische Intellektuelle nennen diese Art Besatzungsregime Apartheid.

Findet diese Haltung Ihre Zustimmung?

Ich verstehe Israelis, die das sagen. Von der Verwendung solcher Begriffe durch uns halte ich jedoch nichts. Ich wiederhole: In der aktuellen Lage sollten wir Israel gegenüber weniger den moralischen Zeigefinger heben, den wir Deutschen so gerne aufzeigen, sondern uns um eine respektable und gemeinsame EU-Nahostpolitik bemühen, wenn wir einen Beitrag zur Befriedung des Konflikts leisten wollen. Die EU-Nahostpolitik steckt in einer tiefen Krise. Noch nicht mal zwischen Berlin und Paris herrscht Konsens.

Es lohnt sich ja immer, solche Konflikte aus ganz anderer Perspektive zu betrachten, zum Beispiel aus der chinesischen. Xi Jinping muss eigentlich ganz zufrieden sein, dass der große Rivale USA in der Ukraine und im Nahen Osten seine Kräfte bindet. Zugleich bietet er sich als Friedensstifter an, etwa zwischen Iran und Saudi-Arabien. Erwarten Sie im kommenden Jahr weitere Initiativen aus China?

Ja. Wir werden erleben, dass China bei künftigen Verhandlungen

über Krieg und Frieden in und um Europa mit am Tisch sitzen wird. Das hat

es im 19. und 20. Jahrhundert nicht gegeben, weder in Wien nach den Napoleonischen Kriegen 1812 noch in Versailles 1919 nach dem Ersten Weltkrieg, noch bei den großen Konferenzen im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt, 2024, wird China dabei sein wollen, direkt oder indirekt – das ist ein historisches Novum. Und dass muss gar nicht mal unbedingt eine negative Entwicklung sein.

China steckt selbst in der Krise steckt. Die Deflation peinigte das Land, der Privatkonsum schwächelt, die Immobilienbranche hat enorme

Schwierigkeiten. Da bietet es sich an, als weiser Vermittler mit

Friedensschalmeien aufzutreten.

Ich sehe das anders. China hat ein massives politisches und wirtschaftliches

Interesse daran, dass weder der Ukraine-Krieg noch die Lage im Nahen Osten außer Kontrolle geraten. China braucht Wachstum. China könnte sich

deshalb als stabilisierende Macht erweisen, weil es Zugang zu Ressourcen, zu den globalen Märkten und Seewegen braucht. Ein konkretes Beispiel: Im Fall der Ukraine hat China Putin die rote Karte gezeigt, soweit es um den eventuellen Einsatz nuklearer Waffen geht. Das war und bleibt hilfreich.

Was ist Ihr pessimistisches Szenario für 2024?

Dass Putin recht behält mit seinem Kalkül, dass Russland länger durchhält

als wir, die Unterstützer der Ukraine. Dass wir die Zeitenwende nicht ernst

genug nehmen. Und dass es keine Friedensperspektive für Nahost geben

wird.

Und Ihr optimistisches Szenario?

Dass Putin nicht recht behält. Dass wir trotz aller Widrigkeiten an der Idee einer regelbasierten internationalen Ordnung festhalten, und dass Deutschland und die Europäische Union die Zeitenwende als Chance zu Erneuerung und Reform, zu Innovation, Bürokratieabbau und Digitalisierung begreifen, um unseren Status-quo-Glauben endlich hinter uns zu lassen und Mut zu zeigen, uns einer gefährlich gewordenen Welt zu stellen.

Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.