Zwei Länder, zwei Wege: In Polen versucht die neue Regierung, die liberale Demokratie zu rehabilitieren. In Frankreich missbraucht Präsident Macron das Verfassungsgericht aus politischen Gründen. Und über allem schwebt Donald Trump wie ein Verhängnis.
Momentan ist Polen das angespannteste Land in Europa. Die neue Regierung unter Donald Tusk bemüht sich darum, den Rechtsstaat und die Öffentlichkeit wieder zu entpolitisieren. Der katholisch-nationalkonservative Vorgänger hatte das Verfassungsgericht und die Medien mit willfährigen Leuten besetzt. Die Veränderungen, die sie in acht Jahren über Polen brachte, lassen sich nicht so schnell revidieren, zumal der überaus einflussreiche Präsident Andrzej Duda dem alten Regime angehört und das neue Regime blockiert, wo er nur kann. In achtzehn Monaten läuft seine Amtszeit ab. Erst dann wird der Weg frei.
An Polen lässt sich in diesen Tagen ablesen, was auch andere Länder aus anderen Gründen zerreißt. Soziologen haben dafür einen besonderen Begriff gewählt: Trilemma. Damit ist gemeint, dass die drei Faktoren Macht, Rechtsstaat und Öffentlichkeit im Widerstreit liegen. Polen befindet sich in einem Kulturkampf zwischen Pro- und Anti-Europäern, Abtreibungsbefürwortern und Abtreibungsgegnern. Er wird ausgetragen über Gerichte, deren Neutralität Lech Kacziński, der Pate des klerikalen Konservatismus, aushebeln ließ. Der Kulturkampf spiegelt sich wieder in der politischen Öffentlichkeit, wobei das Fernsehen als wichtigstes Medium zum Propaganda-Instrument verkam.
Frankreich ist von je her speziell unter den europäischen Nachbarn. Emmanuel Macron verfügt als Präsident über sehr viel Macht, hat aber keine Mehrheit im Parlament. Ein neues Einwanderungsgesetz kam nur durch Zustimmung der Rechten unter Marine LePen zustande und fiel entsprechend scharf aus. Prompt verwarf das Verfassungsgericht große Teile des neuen Gesetzes und zwar vor allem jene Artikel, die LePen am Herzen lagen. Das war keine große Überraschung.
Die Regierung (oder die Macht) muss mit ansehen, wie das oberste Gericht (der Rechtsstaat) ihm in den Arm fällt. Ein Armutszeugnis, eine Demütigung, oder? Genau auf diese Intervention aber hat Emmanuel Macron insgeheim spekuliert. Er missbrauchte also das Gericht zu politischen Zwecken. Er überließ es ihm, das unpopuläre Gesetz zu entschärfen. War das ein kluger Schachzug? Natürlich nicht, da dieses Manöver aus Schwäche erfolgte – aus dem Mangel an Mehrheit im Parlament und der Abhängigkeit von der rechten Opposition. Die Medien (die Öffentlichkeit) verurteilen ziemlich einhellig sowohl das Gesetz als auch den Hintersinn des Präsidenten. Wenn seine Unpopularität noch zu steigern war, dann hat er sie jetzt gesteigert.
Aus Polen möchte die neue Regierung wieder eine Demokratie mit klassischer Gewaltenteilung machen; ohne massive Eingriffe geht das nicht vonstatten. In Frankreich manipuliert der Präsident die Judikative politisch und fliegt damit auf. Aus unterschiedlichen Gründen sind beide Länder innerlich zerrissen, ohne Aussicht auf Heilung in mittlerer Sicht.
Wie aus einem Riss die tiefstmögliche Spaltung entstehen kann, lässt sich an den USA absehen. Früher hat man immer gesagt, was sich dort abspielt, erreicht Europa spätestens in zehn Jahren. Wäre schön, wenn die Kontaktübertragung ausnahmsweise ausbliebe.
Rechtsstaat: Donald Trump hat das Oberste Gericht in seiner Präsidentschaft mit konservativen Richtern bestückt. Das Maß an Neutralität, zu dem es noch fähig ist, wird sich bald ermessen lassen. Trump hat es nämlich vor kurzem angerufen, weil ihn die Bundesstaaten Colorado und Maine wegen seiner Rolle beim Sturm aufs Capitol von den Vorwahlen ausschlossen. Dagegen geht er jetzt juristisch vor. Man darf wirklich gespannt sein, welches Urteil der Supreme Court mit welcher Begründung fällen wird.
Öffentlichkeit: Der Niedergang der Medien ist in Amerika beispiellos. Bei Fox News (Trump ist der Größte) oder MSNBC (Trump als Präsident wäre jetzt endgültig ein Diktator) sammeln sich die Gläubigen wie in feindlichen Kirchen. Verlässliche Informationen über den Gang der Dinge in Amerika und draußen in der Welt erhält man nur noch in Spartenprogrammen und in wenigen Tageszeitungen.
Macht: Zwischen Demokraten und Republikanern herrscht tiefe Abneigung, um nicht zu sagen: Hass. Der heraufziehende Wahlkampf dürfte zum Unerfreulichsten, Verabscheuungswürdigsten, Deprimierendsten aller Zeiten gehören. Von Harry Truman stammt der Satz: Wenn du die Hitze in der Küche nicht aushältst, dann bleib draußen. Die Devise gilt für Normalzeiten. Darf Donald Trump antreten und bleibt Joe Biden sein Gegenspieler, dann kann die Küche auch explodieren.
Amerika ist das abschreckende Beispiel einer Demokratie, in der der Kulturkampf zum Kulturkrieg geraten ist und sämtliche Teilgewalten missbraucht werden. Ob daraus irgendwann mal wieder ein entspanntes Land mit solider Gewaltenteilung samt funktionstüchtiger Öffentlichkeit wird, kann heute niemand vorhersagen.
Unter den Europäern ist natürlich Deutschland das am meisten vom Amerika geprägte Land. Manchmal hilft es ja, wenn man sich umschaut und überlegt, wie Macht, Rechtsstaat und Öffentlichkeit zueinander stehen sollten. Wie Schlafwandler in Krisen hinein zu treiben, die den Staat ramponieren, ist keine Alternative. Aber momentan macht jeder seins, egal ob in Polen oder Frankreich oder eben bei uns, und jeder schaut jedem dabei zu und hofft darauf, dass es nicht so wird wie in Amerika. Nicht besonders klug, oder?
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.