Überall in Deutschland gehen Menschen im Protest gegen die Rechtsextremen auf die Straße. Sie wollen verhindern, dass es ihrem Land ergeht wie Italien, Holland, England oder Schweden.
Am Wochenende fanden erneut Demonstrationen gegen die AfD in etlichen Städten statt. Plötzlich ist eine Massenbewegung entstanden, die sich für die liberale Demokratie einsetzt. Sie formiert sich vor allem in westdeutschen Großstädten wie Köln und Hamburg, Dortmund und Berlin, aber immerhin sind in Ostdeutschland auch Jena, Stralsund und Potsdam dabei. Die große Frage ist nun, ob sich in den nächsten Wochen Leipzig oder Magdeburg, Erfurt oder Frankfurt/Oder im Protest gegen die AfD einreihen – denn in Brandenburg, Thüringen und Sachsen wird im September gewählt.
Ein Phänomen gibt es zu besichtigen, denn als Auslöser diente ein Coup des Rechercheverbundes Correctiv. Die Reporter hatten heimlich ein Treffen in einem Potsdamer Hotel gefilmt, in dem einschlägige Herren einschlägige Vorschläge über die Remigration unliebsamer Ausländer mit und ohne deutschen Pass machten. Der Coup zeigt enorme politische Wirkung. Seither strömen die Menschen auf die Straßen, seither bekommt die AfD endlich starken Gegenwind.
Interessant ist die Reaktion der Rechten auf die unverhofften Proteste. Nachlesen kann man sie zum Beispiel im Blog „Sezession“, auf dem sich rechte Intellektuelle über die Lage der Dinge austauschen. Am 16. Januar schreibt Götz Kubitschek über das Potsdamer Treffen. Aus seiner Sicht handelt es sich um eine private Versammlung zum Gedankenaustausch an einem öffentlichen Ort. Kubitschek wundert sich über die Aufregung und insbesondere darüber, dass Alice Weidel es notwendig fand, ihren Mitarbeiter Roland Hartwig, der in Potsdam dabei war, zu entlassen. Damit habe die AfD „die Tür geöffnet für Forderungen von außen und für den daraus entstehenden Rechtfertigungs- und Erklärungsdruck“.
Aus dieser Perspektive ist Alice Weidel windelweich, anfällig für Kritik aus dem „Regime“, wie in diesen Kreisen demokratische Regierungen heißen. Dagegen zitiert Kubitschek beifällig die Erklärung der fünf ostdeutschen AfD-Fraktionschefs zum Potsdamer Ereignis. Darin heißt es: „Remigration ist nicht verboten oder anstößig, sondern im nationalen Interesse Deutschlands. Remigration meint die Umkehr der Migrationsströme, die gegenwärtig ungehemmt in Richtung Deutschland fließen. Das Resultat: Ende 2022 lebten rund 13,4 Millionen Ausländer in Deutschland. Remigration ist das Gebot der Stunde. Dafür werden wir nach der Regierungsübernahme sorgen.“
Götz Kubitschek gilt als der wichtigste Intellektuelle der Neuen Rechten. Bei ihm laufen viele Fäden zusammen. Auf seinem Gut in Sachsen-Anhalt betreibt er einen Verlag, eine Zeitschrift und eine Denkfabrik. Dort gehen Björn Höcke und andere AfD-Matadore aus Ost wie West ein und aus. Auch der Österreicher Martin Sellner mit seiner identitären Ideologie gehört diesem Kosmos an. Er war es, der im Potsdamer Hotel über Remigration referierte und damit die Anhänger der bestehenden Demokratie mobilisierte.
Die intellektuelle Rechte ist aber keineswegs eine deutsche Besonderheit. Sie gehört einem weit verzweigten europaweiten Netzwerk an. Der Großmeister rechten Denkens lebt in Frankreich und heißt Alain de Benoist. Von ihm stammt der entscheidende Satz: „Die alte Rechte ist tot – sie hat es wohl verdient.“ Diese alte Rechte, von Jean-Marie LePen über Jörg Haider oder Franz Schönhuber, hing noch im Nationalsozialismus fest. Die neue Rechte aber soll ohne Hitler und ohne Holocaust-Leugner auskommen. Sie spielt den Staat gegen das Volk aus, das homogen sein soll und deshalb Ausländer ablehnt. Sie lehnt auch Amerika mit seinem Materialismus und seiner kulturellen Übermacht ab. Von Donald Trump allerdings haben sie alle gelernt: Sie wollen ihr Land wieder groß machen.
In Wahrheit ist die AfD immer noch der „gärige Haufen“, von dem Alexander Gauland redete. In ihr mischen sich alte und neue Rechte. Höcke zum Beispiel darf man laut Gerichtsurteil einen Faschisten nennen. Auch in anderen Teilen Europas finden sich solche gärige Haufen, die allerdings schon dort angelangt sind, wohin die AfD noch will.
In Finnland sitzen sie in der Regierung, in Schweden dulden sie die Minderheitsregierung. In den Niederlanden erreichte Gerd Wilders eine relative Mehrheit, darf aber wohl nicht regieren. In Italien ist Giorgia Melone schon seit einem Jahr Ministerpräsidentin, obwohl ihre Partei keineswegs Abstand zu Benito Mussolini hält, dem Duce, der das Vorbild für Hitler war. In Frankreich unternahm Emmanuel Macron gerade einen heftigen Rechtsschwenk, um der nationalistischen Rechten das Wasser abzugraben. Marine LePen könnte nach heutigem Stand im Jahr 2027 Präsidentin werden. In Österreich ist die fremdenfeindliche FPÖ eine etablierte Größe, die bald wieder in der Regierung sitzen könnte. England dürfte bei der Wahl in einem Jahr die Ausnahme bilden, da die Labour Party wohl die xenophoben Torys ablösen wird, sofern die Demoskopen nicht völlig daneben liegen.
Die Rechte gedeiht überall dort in Europa, wo die Einwanderung als ungelöstes Problem gilt. Auch die Bundesregierung versucht verspätet, Stärke und Entschlossenheit zu zeigen, indem sie die Gesetze verschärft. Ob sie damit noch Erfolg hat? Im September wissen wir mehr.
Ich bin gespannt, wie lange die Demonstrationen in deutschen Städten anhalten werden. Vielleicht sind sie ein sich selbst verstärkender Prozess – je mehr heute auf die Straße gehen, desto mehr gehen morgen los, um gegen die AfD zu protestieren; in je mehr Städten Demonstrationen stattfinden, desto mehr Städte schließen sich an. Gut so, denn die Kubitscheks, Höckes und Weidels hatten sich schon schon im Glauben gewiegt, dass sie auf direktem Weg an die Macht sind.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.