Das könnte Biden den Wahlsieg kosten

Wieder reist der amerikanische Außenminister Tony Blinken quer durch den Nahen Osten, von Katar nach Saudi-Arabien, von Israel nach Ägypten. Es ist seine fünfte Tour in kurzer Zeit, eine ungeheure Anstrengung, die ihn zeichnet. Das schmale Gesicht ist wie ausgezehrt, die Augen noch melancholischer als sonst, die schlaksige Gestalt gebeugt. Wenn man jemandem beim Altern zuschauen möchte, ist Blinken ein geeignetes Objekt.

Seine Reisen sind unvermeidlich, weil Amerika viel tief mit dieser Region verwoben ist. Rund 40 000 Soldaten sind hier noch stationiert: 2 500 im Irak; 2 000 in Jordanien; 13 500 in Kuweit; dazu viele Tausende in Bahrain, wo die 5. Flotte der US-Marine liegt, und in Katar, wo ein Luftwaffenstützpunkt für das Central Command steht.

Für eine Weltmacht, die im Nahen Osten ihre Interessen vertreten wissen will, ist eine Streitmacht von 40 000 Soldaten und Soldatinnen nicht besonders viel. Allerdings sind die Erfahrungen in Syrien und dem Irak derart niederschmetternd gewesen, dass sich schon Joe Bidens Vorgänger aus dieser völlig unberechenbaren Gegend stärker zurückziehen wollten. Da die USA aber Israels Existenz sichert, bleibt militärische Präsenz ein Gebot.

Wer aber da ist, bietet auch ein Ziel. An der syrisch-jordanischen Grenze liegt eine Garnison, in der sich 350 US-Soldaten aufhalten. Eine Drohne tötete vor ein paar Tagen drei von ihnen, offenbar gestartet von einer Miliz, die unter dem Einfluss der iranischen Revolutionsgarden steht. Die Vergeltung ließ nicht lange auf sich warten. B-1-Bomber, die aus den USA anflogen, führte sie auf Ziele der Revolutionsgarden  in Syrien und dem Irak aus.

Momentan bietet es sich an, in dieser Region des immer noch steigerungsfähigen Hasses und der asymmetrischen Kriege ein Zentrum von einer Peripherie zu unterscheiden. Das Zentrum ist Gaza, der schmale Küstenstreifen, in dem die israelische Armee im Süden nun gegen die Stadt Rafa am Grenzübergang zu Ägypten mit größter Härte vorgeht. Die Peripherie liegt im Libanon, der Heimstatt der Hisbollah, auch im Jemen, von wo aus die Huthi die Schifffahrt im Roten Meer stören, und eben im Irak und in Syrien, wo sich der Iran Einfluss gesichert hat.

Tony Blinkens Aufgabe liegt darin, sich um Peripherie und Zentrum gleichermaßen zu kümmern.  In Paris arbeiten seine Diplomaten mit Abgesandten aus der Region eine Lösung aus, die eine Waffenpause im Gaza mit dem Austausch der Geiseln verbindet. Seine fünfte Tour durch die Region dient auch dazu, eine politische Initiative für die Zeit nach dem Krieg zu lancieren, die Israels Sicherheit auf Dauer garantieren könnte. Und natürlich müssen Fäden nach Teheran gesponnen werden, damit aus der Peripherie nicht ein zweites, erheblich größeres Zentrum entsteht, in dem sich dann Iran und Amerika direkt gegenüberstehen würden.

Möglich ist im Nahen Osten immer alles. Eigentlich wird es seit geraumer Zeit immer schlimmer und deshalb scheint eine Ausdehnung des Krieges auf die gesamte Region keineswegs ausgeschlossen zu sein. Krieg liegt hier allemal näher als Frieden. An Ausgleich oder  Abflauen der Rache ist auch vier Monate nach dem 7. Oktober nicht zu denken.

Was Tony Blinken oder auch Joe Biden monieren oder empfehlen, stößt bei Benjamin Netanjahu auf taube Ohren. Im Westjordanland dürfen radikale Siedler weiterhin arabische Nachbarn ungestraft drangsalieren. Appelle, damit aufzuhören oder gar den Siedlungsausbau einzustellen, verhallen ungehört. Appelle, Rücksicht auf die Zivilbevölkerung im Gaza zu nehmen, verhallen ebenfalls ungehört.

Wie es aussieht, schwebt dem israelischen Ministerpräsidenten anderes vor, zum Beispiel einen Korridor durch Gaza zu ziehen, wofür ganze Häuserzeilen im Süden gesprengt werden. Außenminister Blinken lehnt allerdings jede Verkleinerung des Gaza-Streifens ab. Denn damit wäre der Konflikt auf viele Jahre eingefroren und das heißt, dass auch israelische Soldaten ein Ziel für die nächste Hamas-Generation wäre, die dieser Krieg vermutlich herausbildet.

Noch immer sind mehr als Hundert Geiseln in der Hand der Hamas. 27 der Entführten sollen tot sein – vielleicht bei Angriffen getötet, vielleicht auf der Flucht erschossen oder in irgendeinem Tunnel-Verlies eines natürlichen Todes gestorben. In Paris handelten die Blinkens Diplomaten mit ihren Kollegen aus der Region Folgendes aus: Während einer sechswöchigen Waffenpause sollen Frauen, Kinder, Alte aus der Geiselhaft freikommen und dafür im Verhältnis 1:3 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen werden. 

Wie die Reaktion ausfällt? Die Hamas will mehr – eine Ende des Krieges anstatt nur einer vorübergehenden Einstellung. Benjamin Netanjahu will anderes, denn seine Priorität liegt in der Zerstörung der Hamas und der Tötung ihrer Anführer. Pausen passen nicht in diese militärische Logik. Auch denkt Netanjahu nicht daran, Gefangene in hoher Zahl freizulassen, weil sie dann den Kampf gegen Israel aufnehmen könnten.

Unter diesen Umständen dürfen Bemühungen um Vermittlung erneut scheitern. Tony Blinken wird trotzdem nicht nachlassen und noch öfter in den Nahen Osten reisen, das ist sein Job. Die Zeit läuft ihm allerdings aus einem anderen Grund langsam aus: In Amerika ist Wahlkampf und der Krieg im Nahen Osten ist nicht besonders populär. Kostet Gaza Joe Biden am Ende die Präsidentschaft?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.