Flut, Kamera und Kanzler

Heute reiste unser aller Bundeskanzler in das Städtchen Sangershausen und stand am Deich an der Helme-Brücke, begutachtete ihn kritisch und riet ihm dringend, doch gefälligst den Wassermassen standzuhalten. Ob sich der Deich davon beeindrucken lässt? Na ja, warum nicht.

Kameras sind besonders dann unbarmherzig, wenn sich ein herausgehobener Mann des Staates in Gummistiefeln und Regenjacke der Flut nähert, die Deutschland öfter als früher heimsucht. Sie halten drauf, wenn der Landesfürst eine längliche Rede hält und den Einsatz von Feuerwehr, Polizei und Technischem Hilfswerk ausgiebig lobt, während der Bundeskanzler auf seinen Einsatz wartet. Olaf Scholz stand am Silvestertag in Verden minutenlang neben dem Ministerpräsidenten Stefan Weil, der den richtigen Ton und die richtigen Worte fand. Was sollte der Kanzler in der Zwischenzeit machen? Was ist der angemessene Gesichtsausdruck? Wie zaubert man Betroffenheit und Mitleid in ein Gesicht, das sich Ausdruckslosigkeit antrainiert hat?

Olaf Scholz kann ohnehin momentan nichts machen, ohne dass es gegen ihn ausgelegt würde. In Sangershausen beschimpften sie ihn. In Verden fanden sich Anwohner, die in die Kameras sprachen: Bin enttäuscht, hatte mehr erwartet. Ja, was denn eigentlich? Und dienen die rhetorischen Fragen der Journalisten, die arglose Zeitgenossen zu Großkritikern erheben, der Wahrheitsfindung?

Zum Glück hat der Dauerregen dieser Tage noch kein ganz großes Unheil angerichtet. Menschen sind bisher nicht zu Tote gekommen. Aber in ganz Deutschland schwellen Flüsse an, in Franken wie in der Oberpfalz, in Niedersachsen wie Sachsen-Anhalt, in Baden-Württemberg wie in Bayern. Kommen wir dennoch diesmal glimpflich davon?

Wasser ist eine Urgewalt. Wasser verschlingt von je her Mensch und Tier, zerlegt Behausungen. Der tosende Lärm heran rauschenden Wassers löst Urangst aus. Davon erzählen Mythen und Legenden aus alten Zeiten. Der Tsunami im Jahr 2004 verursachte Schockwellen rund um den Globus. Gerade bedroht ein Sturm über dem Pazifik mit 9 Meter hohen Brechern Kalifornien.

Inzwischen sind wir auch in Deutschland erfahren genug, um zu wissen, dass Wassermassen, die Autos wie Treibholz vor sich her schieben, Häuser zerstören, als wären sie aus Pappe und Menschen verschlingen Folgen übers Unmittelbare hinaus haben. Sie beschleunigen oder beenden Karrieren. Sie zeigen, was in Politikern steckt und was ihnen fehlt.

Gerhard Schröder ist der Inbegriff eines Politikers, der die die Stunde nutzte, als die Elbe im Jahr 2002 katastrophal über die Ufer trat. In Grimma war’s, als er sich tief erschütterte zeigte, was die Natur anrichtete – mitten im Wahlkampf, in dem die rot-grüne Regierung in Not war, weil die Ökosteuer auf Kraftstoffe unpopulär war. Weil der Bundeskanzler alles richtig machte, als es darauf ankam, blieb er auch Bundeskanzler. Dabei half ihm, dass sich sein CDU/CSU-Gegenkandidat Edmund Stoiber damit begnügt hatte, nur in Bayern an bedrohte Orte zu eilen. So kann’s gehen.

Die Oder hatte im Jahr 1997 in Tschechien, Polen und Deutschland Deiche zerquetscht und überflutet. Der junge Umweltminister in Brandenburg, Matthias Platzeck hieß er, warnte frühzeitig, dass sich da etwas anbahne und  Vorkehrungen getroffen werden sollten. Von allwissenden Experten wurde er als „Bürschchen“ abgetan, dem es an Erfahrung mangele. Aus dem Bürschchen, das Recht gehabt hatte, wurde wenige Jahre später der Ministerpräsident seines Landes und (kurzfristig) auch der SPD-Vorsitzende.

Als Gegenbeispiel fällt uns sofort Armin Laschet ein, der Unionskandidat, der im Hintergrund als Grinsekatze auffiel, als im Vordergrund der Bundespräsident Worte zu finden suchte, die der Ahrtal-Jahrhundert-Flut gerecht wurden. Es gibt nicht nur einen einzigen Grund, warum ein erfahrener Politiker eine Wahl verliert, aber dieser Moment der Unangemessenheit trug sicherlich dazu bei, dass die CDU unter ihren Möglichkeiten blieb und Laschet in einem Ausschuss des Bundestages landete.

Im Ahrtal starben im Jahr 2021 135 Menschen, der materielle Schaden betrug 40 Milliarden Menschen. Ein Untersuchungsausschuss im Landtag befragte 227 Zeugen und 20 Sachverständige. Ein ziemlich kollektives Versagen der Verantwortlichen kam dabei heraus. Der Landrat im Kreis Ahrweiler hatte Warnungen nicht weitergegeben und musste zurücktreten. Die Umweltministerin Anne Spiegel fuhr in den gebuchten vierwöchigen Urlaub. Der Innenminister Roger Lewentz musste ebenfalls zurücktreten. Der ansonsten tadellosen Ministerpräsidentin Malu Dreyer hängt die Flut bis heute an.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ereignen sich die geschichtlich beispiellosen Katastrophen in anderen Weltgegenden, zum Beispiel der Tsunami von 2004, der halb Südostasien verwüstete und mehr als 241 000 Menschen tötete. Ein Jahr später überflutete der Orkan Katrina die schöne Stadt New Orleans: 1 836 Tote, 350 000 Häuser zerstört, 1,3 Millionen Menschen obdachlos. Der Präsident, er hieß George W. Bush, brauchte ziemlich lange, bis er am Unglücksort auftauchte, was ihm, der nach 9/11 noch die Stimme Amerikas gewesen war, nicht zum Vorteil gereichte.

Wenn sich die schwellenden Flüsse und Ströme aufmachen, um die Menschen zu quälen, dann können wir Zeitgenossen genau sehen, was vor sich geht. Die Krisen und Katastrophen, die daraus entstehen, zeichnen sich durch Anschaulichkeit aus. Die Zuschauer am Fernsehapparat, sofern sie kein Herz aus Stein haben, überkommt Mitleid und Hilfsbereitschaft. Dagegen sind die anderen Problemfälle unserer Zeit erheblich komplexer, etwa der Krieg in der Ukraine oder im Gaza. Auch was im Falle Wirecard vor sich ging oder bei Cum-Ex entzieht sich in seiner Vielschichtigkeit dem leichten Verständnis.

Allerdings haben auch sommerliche Dürre und winterliche Dauerregen tiefere Ursachen, haben sie doch mit dem Menschheitsproblem der Klimaveränderungen zu tun. Den Klimaleugnern könnten die Argumente ausgehen.

Heute, Donnerstag, regnet es noch allüberall in Deutschland. Danach könnten die Gelegenheiten für den Bundeskanzler, die adäquate Miene aufzusetzen, glücklicherweise ausgehen. Es soll kälter werden, sagen die Wetterfrösche, der Regen macht in den nächsten Tage zumindest eine Pause. Gut so.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.