„Viel schlimmer kann’s kaum werden“

Blick zurück nach vorn: Der Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger über Putins Hoffnung auf eine zweite Präsidentschaft Trumps, über China als vermittelnde Macht und Europa als Trittbrettfahrer der USA

t-online: Herr Ischinger, wie schätzen Sie das Jahr 2024 ein – kommt es noch

schlimmer als 2023?

Ischinger: Viel schlimmer kann’s kaum werden, innenpolitisch wie außenpolitisch. Ich halte es freilich mit Friedrich Hölderlin, der wie ich in Nürtingen aufwuchs: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.

Sie haben in unserem letzten Interview gesagt, Donald Trump werde eher im Gefängnis landen als im Weißen Haus. Sind Sie noch immer so

zuversichtlich?

Das war zwar mehr Hoffnung als feste Erwartung. Ich bleibe aber

zuversichtlich, dass Donald Trump nicht ein zweites Mal ins Weiße Haus

einziehen wird.

Joe Biden kandidiert ja eigentlich nur deshalb erneut, weil er Trump

verhindern will. Behalten Sie mit Ihrer Trump-Prognose recht, gibt es keinen Grund für die Demokraten, an ihm festzuhalten. Sehen Sie eine jüngere Alternative zu Biden?

Ehrlich gesagt, nein. Aber ich kenne Leute, die von Michelle

Obama träumen. Andere sehen im kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom eine jüngere attraktive Alternative. Aber ob die Trump schlagen könnten?

Biden wäre bequem für die Europäer, weil er ein lebenslanger Atlantiker ist und an der Nato festhalten wird. Ist er nicht auch ein bequemes Alibi dafür, dass Europa sich wie eh und je an Amerika anlehnt, anstatt auf eigene Füße zu kommen zum Beispiel militärisch?

Ja, Europa muss das Image des sicherheitspolitischen

Trittbrettfahrers loswerden. Das ist angesichts des desolaten Zustands

unserer militärischen Fähigkeiten allerdings eine Aufgabe für das ganze

Jahrzehnt. Die EU muss sich bis dahin zu einem Europa der Verteidigung

weiterentwickeln, zu einem Europa, das seine Bürger und seine Grenzen

selbst glaubwürdig schützen kann.

Ein Beispiel: Seit Jahren bietet Emmanuel Macron an, mit Partnern wie Deutschland in ein Gespräch über nuklearstrategische Fragen einzutreten. Unsere Reaktion bisher: schweigen. Eigentlich wäre der Dialog überfällig, wenn wir Europäer im Fall Trump nicht ohne Plan B dastehen wollen. Aktuell sind wir ohne die USA kaum oder gar nicht verteidigungsfähig und können uns deshalb glücklich schätzen, den überzeugten Transatlantiker Biden im Weissen Haus zu haben. Gut, dass Amerika uns Europäer angesichts des russischen Angriffskriegs weiterhin schützt!

Die Ukraine wäre überglücklich, wenn Biden Präsident bliebe, weil die USA dann weiterhin Waffen und Munition liefern und moralische Unterstützung bieten. Oder blutet die Widerstandskraft Ihrer Einschätzung nach langsam aus?

Die Ukraine muss damit rechnen, dass Wladimir Putin sich jedenfalls

solange nicht auf Kompromisse einlassen wird, wie er auf Trump im Weißen

Haus hoffen kann – also mindestens noch mal 11 Monate bis Ende 2024. Das gilt auch für uns: Dieser Krieg  wird noch länger dauern! Darauf müssen wir uns einstellen, auch was die notwendige Intensivierung von Waffen- und

Munitionslieferungen betrifft. Die EU hatte eine Million Artilleriegranaten in

Aussicht gestellt – geliefert wurde jedoch bislang noch nicht einmal die Hälfte. Hat Europa,  hat Berlin im wahrsten Sinn des Wortes etwa den Schuss nicht gehört? Es herrscht Krieg in Europa, ganz in unserer Nachbarschaft! Im neuen Jahr ist dieser Krieg, wenn man seinen Beginn auf die Annexion der Krim im Jahr 2014 festlegt, bereits 10 Jahre alt – er dauert damit jetzt schon genauso lang wie die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts!

In Russland wird Putin im Jahr 2024 wieder gewählt. Auf der Münchner

Sicherheitskonferenz, die Sie leiteten, hat er im Jahr 2007 seine berühmte Abrechnungsrede mit dem Westen gehalten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von ihm und wie stark hat er sich Ihrer Auffassung nach seither verändert?

Ich habe in der Ära des Kanzlers Gerhard Schröder einen Putin erlebt, mit dem man gute Ergebnisse aushandeln konnte; da war er ein Partner des Westens. Der Putin von 2007 war ein anderer, das war sein erster Auftritt als der Putin, den wir jetzt kennen. Seine Botschaft damals war: Ich will und ich werde als Weltmacht ernst genommen werden, notfalls erzwinge ich das. Genau so kam es dann, erst in Georgien 2008, dann in der Ukraine 2014, und schließlich der Großangriff zur Unterwerfung der Ukraine im Februar 2022, mit Hunderttausenden Gefallenen und zivilen Opfern.

Im Nahen Osten ist der große Krieg bislang ausgeblieben. Die Überfälle und Angriff der jemenitischen Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe scheinen eingedämmt zu sein. Die Hisbollah verschießt viele Raketen aus dem Libanon auf Israel, das seinerseits einen General der iranischen Revolutionskräfte in einem Vorort von Damaskus tötete. Bleibt es Ihrer Ansicht beim lokalen Krieg zwischen Israel und Hamas, bei gelegentlichem Störfeuer an anderen Grenzen?

So sicher wäre ich da nicht. Wir stehen ja noch am Anfang. Schon jetzt ist die freie Seeschifffahrt schwer gestört, mit enormen Folgekosten und

Instabilität-Risiken. Im islamistischen Lager wird mit strategischen

Sperrungen im Mittelmeer und im Golf, in der Straße von Hormuz, gedroht.

Zum Glück haben die USA zwei Flugzeugträger in

der Region. Sie haben eine starke Abschreckungswirkung, auch und gerade gegenüber Teheran.

Der israelische Premier Benjamin Netanjahu beharrt darauf, die Hamas total zu eliminieren. Halten Sie diese Fixierung für sinnvoll?

Die militärische Zielsetzung, den Hamas-Terror zu vernichten, kann dann

erfolgreich sein, wenn sie in eine politische Strategie, den Konflikt zu beenden, eingebettet ist. Sonst wachsen der Hydra neue Köpfe nach!

Netanjahu beschränkt sich auf militärische Ziele. Er will eine entmilitarisierte Zone im Gaza einrichten und die dortige Bevölkerung entradikalisieren. Kann Israel das wirklich erreichen?

Eben deshalb fehlt mir der politisch-strategische Plan, den auch die USA

völlig zurecht von Netanjahu einfordern, bei allem Verständnis und bei aller Unterstützung des Versuchs, sich des Hamas-Terrors endgültig zu

entledigen.

Politische Lösungen, in Etappen zu erreichen, sind von Netanjahu kaum  zu erwarten. Von welchem Nachfolger erhoffen Sie sich den Übergang von militärischer Logik zur politischen?

Man kann nur wünschen und hoffen, dass Israel den demokratischen Weg

in eine Zeit nach Netanjahu rasch findet.

Die deutsche Außenpolitik ist nach eifriger Shuttle-Diplomatie in Schweigen verfallen und überlässt Amerika die Kritik an der israelischen Kriegsführung. Gerade weil Deutschland die Existenz Israels zur Staatsraison erklärt, ließe sich Kritik an der Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung im

Gaza üben. Oder geht das Ihrer Ansicht nach zu weit?

Bundesregierung und Bundestag sollten zunächst dringend den

Satz von der deutschen Staatsraison ausbuchstabieren und mit konkretem

Inhalt erfüllen. Übernehmen wir damit eine Art politisch-militärischer

Beistandsverpflichtung? Oder bleibt der berühmte Satz von Angela Merkel nur eine leere Floskel? Die jüngste deutsche Stimmenthaltung in der Uno bei der Gaza-Resolution hat jedenfalls nicht den Eindruck vermittelt, dass wir den Satz ernst nehmen.

Meron Mendel, in Tel Aviv geboren und Professor In Frankfurt, schlägt vor, jetzt die Zwei-Staaten-Lösung für Israelis und Palästinenser zu forcieren und fordert die Bundesregierung auf, die Initiative zu ergreifen. Hat er recht?

Das ehrt ihn sehr, aber von einer deutschen Initiative halte ich

wenig. Wir brauchen eine kohärente europäische Nahostpolitik! Schön wär’s,

wenn unter der viel beschworenen deutschen Führungsverantwortung die Europäische Union mit einer Position aufwarten würde, eng abgestimmt mit den USA und den anderen G7-Partnern.

Aus der Sicht des globalen Südens, zum Beispiel Indiens, Brasiliens oder Südafrikas, ist der ewige Konflikt im Nahen Osten ein besonders beredtes Beispiel für die Doppelmoral des Westens. Wie weit geben Sie dieser Sicht der Dinge recht?

Der alte Vorwurf, wir handelten mit zweierlei Maß, bezog sich stets

insbesondere auf den Nahen Osten, aber auch auf blutige Kriege in Afrika, bei denen wir gerne weggeschaut haben. Er wird aktuell aber auch durch

den Krieg in der Ukraine und den Umgang mit dem Pandemie-Impfstoff gestärkt. Die Glaubwürdigkeitskluft zwischen dem Westen und dem Süden bricht deshalb noch weiter auf. Das alles, einschließlich der Auswirkungen des Gaza-Krieges, wird sich zu einer langfristigen Hypothek für uns, für den Westen, entwickeln.

Es ist ja zum Beispiel wahr, dass radikale Siedler im Westjordanland unter dem Schutz der Armee Araber aus ihren Häusern vertreiben, sie malträtieren und sogar auch töten.

Zunächst einmal sollten wir unsere Solidarität mit dem brutal

angegriffenen Staat Israel nicht relativieren. Aber richtig ist, dass auch die USA kritisieren, dass die Koalitionsregierung in Israel solche Übergriffe und Straftaten nicht hinreichend klar und deutlich unterbindet.

Israelische Intellektuelle nennen diese Art Besatzungsregime Apartheid.

Findet diese Haltung Ihre Zustimmung?

Ich verstehe Israelis, die das sagen. Von der Verwendung solcher Begriffe durch uns halte ich jedoch nichts. Ich wiederhole: In der aktuellen Lage sollten wir Israel gegenüber weniger den moralischen Zeigefinger heben, den wir Deutschen so gerne aufzeigen, sondern uns um eine respektable und gemeinsame EU-Nahostpolitik bemühen, wenn wir einen Beitrag zur Befriedung des Konflikts leisten wollen. Die EU-Nahostpolitik steckt in einer tiefen Krise. Noch nicht mal zwischen Berlin und Paris herrscht Konsens.

Es lohnt sich ja immer, solche Konflikte aus ganz anderer Perspektive zu betrachten, zum Beispiel aus der chinesischen. Xi Jinping muss eigentlich ganz zufrieden sein, dass der große Rivale USA in der Ukraine und im Nahen Osten seine Kräfte bindet. Zugleich bietet er sich als Friedensstifter an, etwa zwischen Iran und Saudi-Arabien. Erwarten Sie im kommenden Jahr weitere Initiativen aus China?

Ja. Wir werden erleben, dass China bei künftigen Verhandlungen

über Krieg und Frieden in und um Europa mit am Tisch sitzen wird. Das hat

es im 19. und 20. Jahrhundert nicht gegeben, weder in Wien nach den Napoleonischen Kriegen 1812 noch in Versailles 1919 nach dem Ersten Weltkrieg, noch bei den großen Konferenzen im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt, 2024, wird China dabei sein wollen, direkt oder indirekt – das ist ein historisches Novum. Und dass muss gar nicht mal unbedingt eine negative Entwicklung sein.

China steckt selbst in der Krise steckt. Die Deflation peinigte das Land, der Privatkonsum schwächelt, die Immobilienbranche hat enorme

Schwierigkeiten. Da bietet es sich an, als weiser Vermittler mit

Friedensschalmeien aufzutreten.

Ich sehe das anders. China hat ein massives politisches und wirtschaftliches

Interesse daran, dass weder der Ukraine-Krieg noch die Lage im Nahen Osten außer Kontrolle geraten. China braucht Wachstum. China könnte sich

deshalb als stabilisierende Macht erweisen, weil es Zugang zu Ressourcen, zu den globalen Märkten und Seewegen braucht. Ein konkretes Beispiel: Im Fall der Ukraine hat China Putin die rote Karte gezeigt, soweit es um den eventuellen Einsatz nuklearer Waffen geht. Das war und bleibt hilfreich.

Was ist Ihr pessimistisches Szenario für 2024?

Dass Putin recht behält mit seinem Kalkül, dass Russland länger durchhält

als wir, die Unterstützer der Ukraine. Dass wir die Zeitenwende nicht ernst

genug nehmen. Und dass es keine Friedensperspektive für Nahost geben

wird.

Und Ihr optimistisches Szenario?

Dass Putin nicht recht behält. Dass wir trotz aller Widrigkeiten an der Idee einer regelbasierten internationalen Ordnung festhalten, und dass Deutschland und die Europäische Union die Zeitenwende als Chance zu Erneuerung und Reform, zu Innovation, Bürokratieabbau und Digitalisierung begreifen, um unseren Status-quo-Glauben endlich hinter uns zu lassen und Mut zu zeigen, uns einer gefährlich gewordenen Welt zu stellen.

Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.