Mit ihm begann der moderne Fußball, der nicht nur Arbeit war, sondern auch Ästhetik. Die Deutschen verdanken ihm viel: als Spieler, als Trainer, als Organisator. War es gerecht, ihn ins Bodenlose fallen zu lassen?
Wenn Franz Beckenbauer den Rasen betrat, leuchtete die Sonne heller, mit ihm wurde die Welt reicher. Wer ihn zum ersten Mal sah, konnte es kaum fassen, Zeuge des Unerhörten, Ungesehenen zu sein. So geht es zu, wenn ein Genie geboren wird. Bis dahin war Fußball vor allem Arbeit und die Grätsche die Kunstform des äußersten körperlichen Einsatzes. Mit ihm aber hielten Eleganz, Ästhetik und Anmut Einzug in unser Herz. Was für ein Glück!
Franz Beckenbauer war der erste Spieler, der nicht auf den Ball starrte, wenn er ihn am Fuß führte. Er sah sich in aller Ruhe um, wohin der Paul (Breitner) oder Gerd (Müller) liefen und zirkelte dann, zumeist mit dem Außenrist, den Ball exakt in ihren Lauf. Wen er nicht leiden konnte, den spielte er so fies an, dass dieser arme Mensch glaubte, er könne es noch schaffen, den Ball vor der Außenlinie zu erreichen, schaffte es aber nicht und sah wie ein tumber Tor aus.
Beckenbauer war 19 Jahre alt, als er mit Bayern München aufstieg. Der große Münchner Verein war damals der TSV 1860, der in dieser Saison 1964/65 Deutscher Meister wurde. Beckenbauer war 20 Jahre alt, als sich am 30. Juli 1966 das große Drama im Endspiel Deutschland gegen England ereignete. Ich kann heute noch die Mannschaftsausstellung im Schlaf herunterbeten. Ich verachte heute noch Tefik Bachramov, diesen Linienrichter aus der Sowjetunion, der von der Seitenlinie und nicht auf Torhöhe, gesehen haben wollte, dass der Schuss an die Latte von Geoff Hurst hinter der Linie heruntergefallen war. Nie und nimmer!
Es ging ungerecht zu, im Leben sowieso, also auch im Fußball. Alle Spieler, von Hans Tilkowski über Wolfgang Weber und Horst-Dieter Höttges bis zu Uwe Seeler, prägte dieses Spiel. Die Rache für 1966 waren jahrzehntelange Niederlagen der Engländer gegen uns, vorzugsweise im Elfmeterschießen.
Franz Beckenbauer war 1966 noch nicht der beispielhafte Libero, sondern der Jungspund im defensiven Mittelfeld, dem die wichtige Aufgabe zugeteilt worden war, den Spielmacher Bobby Charlton zu neutralisieren, was ihm auch ziemlich gut gelang, aber eben nicht über 120 Minuten, dafür war Charlton einfach zu gut. Der Franz verstand sich blendend mit Helmut Haller, dem Spielmacher mit Italien-Erfahrung, und natürlich auch mit Wolfgang Overath. Er schoss im Turnier 4 Tore, nein, er schlenzte sie. Er spielte ja ökonomisch, das Hämmern war nicht seine Sache. Noch war er nicht die alles überragende Figur im deutschen Spiel, aber jedermann wusste: Bald war es so weit und die Overaths und Günther Netzers erkannten sein Genie mehr oder weniger neidlos an.
1974 war es soweit. Franz Beckenbauer war 28 Jahre alt. Nun war er der Kaiser, der Feldherr, der sich seine Mannschaft zusammen suchte, die der Bundestrainer (Helmut Schön hieß er) dann auch brav aufstellte. Es war eine Freude und ein Glück, ihn spielen zu sehen. Er war nicht mein Lieblingsspieler, das war Wolfgang Overath. Beckenbauer habe ich bewundert. Bewunderung schafft Distanz, so ist das nun einmal.
Im Endspiel waren die Niederlande die bessere Mannschaft und Johan Cruyff stand an Eleganz und Weitblick und Phantasie unserem Franz nicht nach. Wieder ging es nicht gerecht im Fußball zu, aber diesmal traf es die anderen. Ausgleichende Ungerechtigkeit, mehr nicht.
Beckenbauer war Avantgarde auch jenseits des Stadions. Er sah blendend aus, die Werbewirtschaft riss sich um ihn, er besuchte die Wagner-Festspiele in Bayreuth, er häutete sich mit den Frauen, die er heiratete. Er ging nach New York (mit der Fotografin Diane Sandmann), spielte mit Pelé für Cosmos, ein Weltereignis spät im Leben. Er kam zurück nach Deutschland und der Hamburger SV schmückte sich noch zwei Jahre mit ihm.
Zufällig lebte ich damals in Hamburg und ging ins Volksparkstadion, um den Franz zu sehen. Es war, wie es immer für mich war. Ich schaute ihm atemlos und verzückt zu, wie er sich bewegte, wie er den Ball nicht zu beachten schien, der wie ein Magnet an seinen Füßen klebte. Es war ein Genuss, ihn dabei zu beobachten, wie er Räume mit seinen Pässen öffnete, die außer ihm niemand im Stadion gesehen hatte. Wer den Fußball liebte, musste ihn lieben, den Franz, den Kaiser, auch noch mit 36. Ja, er war nicht mehr der Schnellste, aber das war er nie gewesen. Allein seine Anwesenheit trieb die Mitspieler zu besseren Leistungen an und zog die Zuschauer ins Stadion.
Was hat er uns nicht alles geschenkt. Als Trainer nochmals Weltmeister mit einer durchschnittlichen Mannschaft, der er erst einmal beibrachte, wieder die Nationalhymne zu singen. Nur Mario Zagallo, der zwei Tage vor dem Franz starb, und Didier Deschamps gehören in dieses Pantheon. Dann das Sommermärchen 2006. Ja, da war was, da floss Geld, und aus war es mit der Lichtgestalt, dem Glückskind – dem Überirdischen, das die Deutschen in ihm sahen. Wie sehr er unter dem Sturz ins Bodenlose litt, wird irgendwann irgendjemand erzählen. Ob es gerecht war, ihn fallen zu lassen, wird vielleicht in anderen Nachrufen verhandelt.
Nun ist er nicht mehr unter uns. Gibt es einen Gott, dann versteht er was von Fußball und nimmt ihn zu sich, unseren Franz.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern Abend.