Die Büttel des Kreml-Herrschers verurteilten Alexej Nawalny in lachhaften Schauprozessen zu monströsen Strafen. Doch zum Schweigen brachten sie ihn damit nicht. Deshalb musste dieser Held, dessen Macht in seiner Ohnmacht bestand, sterben.
Alexej Nawalny war 47 Jahre alt und sie schienen sich damit zu begnügen, ihn für den Rest seines Lebens in Straflagern verschwinden zu lassen, für die es Abstufungen gibt, die von menschenfeindlich bis zu unvorstellbar menschenfeindlich reichen. Zu 30 Jahren Haft hatten sie ihn aus den fadenscheinigsten Gründen verurteilt.
Nur zum Schweigen brachten sie ihn nicht. Nawalny blieb eine feste Größe in Russland. Was er sagte, was er dachte, verbreitete sich bis nach Moskau in den heiligen Gral der Macht. Die Welt mochte ihn vergessen haben, sie drehte sich weiter und immer weiter. Menschenblut fließt in der Ukraine, in Israel, im Gaza. Vor kurzem bekam Mahsa Amini den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments posthum, ermordet im Teheraner Gefängnis, in das sie die Schergen der Mullahs geworfen hatten, weil ihr Kopftuch angeblich nicht vorschriftsmäßig das Haar bedeckte.
Den Preis hatte Nawalny vor zwei Jahren bekommen und er muß ihm viel bedeutet haben. Andrej Sacharow war ein Wissenschaftler gewesen, der in jungen Jahren am Bau der ersten russischen Wasserstoffbombe entscheidend beteiligt war. Ein Held, der ein privilegiertes Leben hätte genießen können. Doch ihm kamen Zweifel und allmählich verwandelte er sich in einen Menschenrechtler, der gegen Willkür und Unfreiheit, gegen Unterdrückung und Zensur Manifeste schrieb.
Sacharow wird zum Vorbild für Nawalny. Auch er ist berühmt. Sein Lebensthema ist die Korruption der Mächtigen. Aus dem Juristen wird ein Politiker, und Journalist. der zugleich Dokumentarfilme dreht. Sacharows Gegner war das kommunistische Unrechtssystem. Nawalnys Gegner trägt einen Namen und hat ein Gesicht: das von Wladimir Putin. Sacharow wurde nach Gorki verbannt. Nawalny verschwand zuerst in Straflagern und jetzt ist er tot, ermordet auf Geheiß des Diktators im Kreml, der Wert darauf legt, dass nichts von Belang und Bedeutung ohne ihn geschehen darf.
Warum setzt ein Mensch sein Leben gegen einen Diktator ein? Weil ihm eine Sache wichtiger ist als sein Leben. Weil die Welt Anteil an seinem Schicksal nimmt. Weil Kompromisslosigkeit seinem Wesen entspricht. Und weil er der Welt ein Beispiel geben will.
Auch Alexej Nawalny schlug ein feines Leben aus. Ihm stand es frei, in Amerika zu bleiben, als er ein Stipendium für die wunderbare Universität Yale bekam. Unbekannt war er damals noch, keine Figur der Zeitgeschichte, nur ein junger Mensch, der lieber die Entscheidung für ein schwieriges Leben traf.
Er hätte auch in Deutschland bleiben können, als sie versucht hatten, ihn mit Nervengift umzubringen. Schon damals wäre er auf dem Flug von Tomsk nach Moskau gestorben, wären nicht Ärzte an Bord gewesen, die erkannten, was Nawalny angetan worden war. Sie mussten ihn in die Berliner Charité ausfliegen lassen, wo er sich erholte.
Es war seine zweite Chance, die Freiheit des Westens gegen die Unfreiheit Russlands zu tauschen. Niemand hätte es ihm verübelt. Er war Mitte Vierzig, seine Frau war bei ihm, die Tochter studiert in Stanford. Warum gab er seinen Kampf gegen Putin nicht auf?
Weil er sich treu bleiben wollte. Weil er dem Herrscher im Kreml den Triumph nicht gönnte. Weil er durchziehen wollte, was er angefangen hatte.
Er flog zurück nach Russland. Sie verhafteten ihn noch am Flughafen, verurteilten ihn in lachhaften Schauprozessen. Aber sogar in der Strafkolonie, 260 Kilometer von Moskau entfernt, übte er die Macht der Ohnmacht aus gegen die ohnmächtige Macht. Bis es ihnen zu viel wurde und sie vollendeten, was ihnen in Tomsk verwehrt worden war.
Niemand kann in Putins Hirn schauen und Kreml-Astrologie ist Humbug. Der Mann will in diesem Jahr wiedergewählt werden und wird es natürlich auch. Ein Mensch wie Nawalny, der nicht Ruhe gab, der die Selbstbedienung der Nomenklatura anprangerte und die sozialen Medien dazu nutzte, zu einer nationalen Größe aus eigenem Recht aufzusteigen, war der Staatsfeind Nummer 1 und wäre es geblieben, solange er lebte.
Deshalb musste Alexej Nawalny sterben – ein bemerkenswerter Mensch, der wusste, was er tat, ein exemplarischer Held, den wir nicht vergessen dürfen.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.