Von Clowns und Regierungschefs

Manchmal ist es ganz lehrreich, wenn man sich in anderen Ländern umschaut, was da so los ist, denn dann lassen sich ein paar Rückschlüsse für uns ziehen. Deutschland und Frankreich haben ja vor noch nicht allzu langer Zeit gewählt, Österreich ist in der Gunst der Normalität, seitdem Sebastian Kurz ins Silicon Valley verschwand. Dagegen geht es gerade  in England und Italien rund.

In England wollen ziemlich viele Politiker*innen das Erbe von Boris Johnson antreten. Jenseits von London sind sie nicht sonderlich bekannt, außer Liz Trust vielleicht, die Boris’ Außenministerin war. Sie galt als Favoritin, ist aber bei den Buchmachern abgerutscht, die auf die Stimmung im Land seismografisch reagieren. Heute fliegt wieder einer oder eine vom Karussell, wahrscheinlich Tom Tugendhat, der den Vorteil hatte, dass er nur im Parlament sitzt und nicht der Regierung angehörte. Na ja, so richtig schade wäre es nicht um ihn. Anfang September soll England endlich einen neuen Parteichef haben, der automatisch Premierminister ist.

Wir kennen solche Wettbewerbe innerhalb der Parteien ja aus leidvoller Erfahrung. Die SPD bescherte uns Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, die klug genug waren, Olaf Scholz den Vortritt zu lassen, anstatt sich selber zu überschätzen. Die CDU schenkte uns zuerst Armin Laschet und dann Friedrich Merz, der sein Flugzeug selber fliegt, wie wir jetzt wissen, na gut. Was lernen wir daraus? Innerparteiliche Demokratie ist im Prinzip gut, aber in der Praxis eher unbefriedigend.

Auch in England geht es derzeit um Kleinkram geht und nicht ums große Ganze, so ist das bei diesem Ausscheidungsverfahren nun einmal. Der Kleinkram kreist um die Frage, ob die Steuern jetzt gleich erhöht werden sollen oder erst später, etwa wenn die Inflation gesunken ist, was auf absehbare Zeit nicht der Fall sein dürfte., siehe Putins Krieg und die Auswirkungen.

Sämtliche Mitbewerber sind Anhänger des Brexit und ideologische Abkömmlinge von Margaret Thatcher – so wenig Staat wie möglich, ein Halleluja für den freien Markt. Auch sie werden Geflüchtete nach Ruanda abschieben, was eine aberwitzige Idee ist. In der Sache sind sie also noch ganz bei Boris Johnson, sie wollen aber ganz anders sein als er, denn die konservative Mehrheit im Lande hat von ihm die Schnauze voll, so viel ist klar. Bei dieser internen Wahl geht es um Vertrauen, um Zuverlässigkeit, um sachlichen Umgang mit den Fakten – um das Gegenteil von Boris Johnson. Mr. oder Mrs. Anständig soll es sein, so wünscht man sich das.

Am Ende wird es in England entweder eine Premierministerin geben oder einen ethnisch diversen Premierminister: Rishi Sunak, geboren in Wimbledon als Spross einer indischen Familie, die aus Südafrika eingewandert war, haben die Buchmacher momentan ganz vorne. Schau mer mal.

Italien hingegen hat Mr. Zuverlässig und könnte ihn schon wieder verlieren. Mario Draghi hat so gar nichts mit der Tragikomödie zu schaffen, die vor allem männliche Politiker seit vielen Jahren aufführen. Berlusconi. Salvini. Beppo Grillo. Draghi mit seinem ernsten, melancholischen Gesichtsausdruck wird in den Zeitungen wahlweise als Brite bezeichnet oder als Deutscher, weil ihm das Buffohafte außerordentlich fremd ist. Er genießt das Vertrauen der Italiener und Brüssels, Von der EU bekam das Land 191 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds und damit hat er Sinnvolles angestellt.

Nun ist seine Regierungsmehrheit allerdings zusammengebrochen, weil die Fünf-Sterne-Bewegung, das Irrlicht unter den Parteien, es so haben wollte. Draghi wollte deshalb zurücktreten, aber der Staatspräsident Sergio Mattarella lehnte das Ansinnen zur Erleichterung der meisten Italiener ab. Gestern beschworen mehr als 1000 Bürgermeister Mr. Zuverlässig, doch bitte im Amt zu bleiben. Mehr Wertschätzung, mehr Achtung geht nicht.

Am Mittwoch wissen wir, ob Draghi eine andere Mehrheit im Parlament findet, oder ob die Fünf-Sterne von ihrem Ego-Trip zurückkehren – wie es weiter geht in Italien.

In Deutschland, jetzt kommt’s, regiert Mr. Zuverlässig ohne Bedrängnis in seiner Koalition. Olaf Scholz weiß, wovon er redet. Er denkt die Dinge zu Ende, bevor er sie anspricht. Ihm fehlt jeder Sinn für Theatralik, und das ist auch gut so. Wie Draghi deutet er gelegentlich an, dass er manches besser weiß als andere, was wiederum manchen ärgert. Na und? Inzwischen tritt er auch öfter unter Normalbürgern auf und erklärt ihnen, was er macht und was ihm Sorgen bereitet. Das Lakonische, das seiner Hamburger Nüchternheit anhaftet, versucht er auszugleichen. Seither verstummt das Mantra von dem ewigen Zuwenig an Kommunikation. Scholz fliegt nicht im Privatjet ein und hat sicherlich weniger glamourös geheiratet als Christian Lindner.

Vorschlag: Seien wir mit unserem Bundeskanzler zufrieden. Deutschland hat ihm eine Chance gegeben und er meistert sie unter schwierigsten historischen Umständen. Hoffentlich bleibt ihm Mario Draghi erhalten und vielleicht trifft er demnächst auf einen/eine britische Premierminister/-in, der oder die weniger Faxen macht als Boris Johnson. Europa hätte was davon.

Die feindseligen Staaten von Amerika

Die Reise Joe Bidens nach Elmau und Brüssel führte uns noch mal vor, wie ungemein wichtig die Immer-Noch-Supermacht USA für Europa sein kann. Sie ist der Patron, sie garantiert mit ihrem nuklearen Schirm die Existenz des Kontinents, sie sichert uns militärische Unterstützung zu, falls Russland zum Beispiel Litauen angreifen sollte, womit Wladimir Putin ja schon drohte. Die Botschaft Bidens lautete: Ihr könnt euch auf uns verlassen, wir stehen an eurer Seite, komme, was wolle.

Können wir? Joe Biden wird im November 80 Jahre. Er ist ein Relikt aus der Zeit, als sich die USA im Kalten Krieg nach Europa orientierten, weil sich dort der Systemkonflikt mit der Sowjetunion abspielte, ein Zustand, der sich dank Putins Kolonialismus heute wiederholt. Aber schon Barack Obama wollte sein Land auf die Auseinandersetzung mit China vorbereiten und darauf einstellen. Und so liegt der Gedanke nahe, dass der nächste amerikanische Präsident Europa vernachlässigen wird, weil nun einmal Asien der Kontinent des 21. Jahrhunderts ist, auf dem sich die historische Rivalität mit China entscheidet.

Amerika war noch nie gut darin, auf zwei Klavieren zu spielen. Und Amerika ist seit geraumer Zeit besonders effizient darin, Kulturkriege zu führen und  von innen heraus zu erodieren.

Am heutigen Montag werden die Vereinigten Staaten von Amerika 246 Jahre alt. Acht Männer unterzeichneten am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung, die mit diesen schönen Worten beginnt: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“

Glückwunsch. Aber wem wünschen wir Glück? Den Demokraten, die sich in Gruppen zerlegt haben, wobei jede einzelne Gruppe sich für das Zentrum hält, das es nicht gibt? Den Republikanern, die den Sturm aufs Kapitol für ein Stürmchen erklären? Der Ostküste und Kalifornien, wo am ehesten liberale Amerikaner zu finden sind?

Amerika, das wunderschöne, wie es in der Nationalhymne heißt, ist ein seltsames Land geworden. Gespalten im Grunde seit Ronald Reagan. Wiederbelebt durch Bill Clinton, der allerdings die Finanzmärkten entfesselte, eine Freiheit, die sie derart schamlos nutzten, dass 2008 die Märkte zusammenbrachen. Ausgerechnet Barack Obama musste dieses Wall-Street-Amerika retten, um Schlimmeres zu verhindern. Nicht aber rettete er die 4,3 Millionen Familien, die ihre Häuser verloren und dazu ihr Vertrauen in die Eliten, so dass sie zur Wahl Donald Trumps beitrugen, der wiederum den Reichen und den Konzernen hübsche Steuergesetze gönnte. Ein böser Kreislauf, der sich in die Pandemie ausdehnte.

Das Ergebnis sind die feindseligen Staaten von Amerika. Wut und Hass auf der Rechten. Hass und Wut auf der Linken. Keine Chance für Mainstream-Politik, mit der Joe Biden groß geworden war und die er heute noch verkörpert. Das System von Checks und Balances funktioniert schon lange nicht mehr. Der Kongress ist ein Gehäuse der Ohnmacht. Ein Symptom dafür ist der Ausschuss, der den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 untersuchen soll. An diesem Tag wollte Donald Trump unbedingt seinen White-Trash-Anhängern in der Staatskarosse hinterherfahren, das weiß man seit voriger Woche; der Secret Service hielt ihn davon ab. Es wareneben  seine Leute, er wollte zu ihnen, er wollte, dass sie Mike Pence dazu zwingen, ihm die Präsidentschaft zu sichern.

Muss man mehr wissen? Braucht man mehr zur Anklage? Eigentlich nicht. Kommt es dazu? Wohl kaum. Da seien die Republikaner vor, die sich von Trump zur Geisel machen lassen.

In dieses Vakuum stößt nun der Supreme Court. Er ist zum Zertrümmerer des liberalen Amerika geworden; dafür sorgte Donald Trump mit der Berufung dreier konservativer Richter. Egal was mit ihm passiert, dort sitzen die Vollstrecker der Wende zum Konservativen. Immerhin haben sie sich der Zumutung versagt und Trump die politisch verlorene Wahl nicht auch noch juristisch geschenkt, das war’s aber schon.

Die Urteile des Supreme Court haben die Tendenz, die Zentrale zu schwächen und die Bundesstaaten zu stärken. Die sollen von nun an über das Recht auf Abtreibung entscheiden. Damit ist der Kulturkampf entschieden, der seit 49 Jahren anhält, als der Supreme Court urteilte, dass die Verfassung die Freiheit zur Abtreibung schützt. Normalerweise geht das Oberste Gericht pfleglich mit Rechtsetzungen seiner Vorgänger um. Die Umkehrung der Logik ist selten, bestätigt jetzt aber den Verdacht, dass diese Richter darauf aus sind, Amerika nach ihren konservativen Vorstellungen zu verändern. 

Ab jetzt darf die Umweltschutzbehörde keine nationalen Verordnungen gegen die Vergiftung der Atmosphäre erlassen. Auch Waffengesetze sind mehr denn je das Monopol der Bundesstaaten, was dazu führt, dass Lehrer in den Klassenzimmern Waffen tragen dürfen. Davon hat noch nicht mal die Waffenlobby zu träumen gewagt. Ihr Argument war ja bei jedem Amoklauf, dass mehr Waffen zu weniger Toten in Klassenzimmern und Schulen führen. Die Mehrheit der neun Richter geben ihr recht.

Es wird nicht lange dauern, bis der Supreme Court über das Recht auf Heirat für Homosexuelle neu urteilt. Im Jahr 2015 erklärte der Supreme Court die gleichgeschlechtliche Ehe in den Bundesstaaten für zulässig. Der konservativen Mehrheit des Gerichts darf man Konsequenz zutrauen und so ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die liberale Rechtsfindung aufgehoben wird. In diesem illiberalen Klima muss die ganze LBGT-Community mit erneuter Ächtung und Diffamierung rechnen, sofern sie nicht in Kalifornien beheimatet ist.

Knapp zweieinhalb Jahre hat Joe Biden noch vor sich. So lange kann Europa auf ihn zählen und die Nato zugleich für einen Krieg im Baltikum rüsten, der Putins Russland zuzutrauen ist. Diese Zeit bleibt den europäischen Verbündeten zur Emanzipation vom entzweiten Amerika für den Fall der Fälle, dass der nächste Präsident kein Interesse mehr am alten Kontinent hegt. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Bereichert und beglückt

Durch schiere Zufälle bin ich auf zwei Autorinnen aufmerksam geworden, von denen ich niemals zuvor gehört hatte. Die eine schreibt erstaunliche Romane von wunderbarer Tiefe in schöner Sprache, die andere schreibt in völlig unaufgeregter Sprache philosophisch Tiefsinniges, als wäre es für uns und für heute gedacht. Die eine stammt aus Nigeria und lebt mittlerweile teils in Amerika und teils in Nigeria; sie heißt Chimamanda Ngozi Adachie und ist Jahrgang 1977.

Die andere stammt aus einer deutsch sprechenden Familie in Riga, flog rechtzeitig vor Hitler über Japan und Amerika nach Kanada und lehrte als Schülerin und Nachfolgerin des ungemein berühmten Staats- und Verfassungstheoretikers Carl Joachim Friedrich. Sie war die erste Frau mit einer Professur auf Lebenszeit in Harvard und man muss hinzufügen, dass Harvard verdammt spät dran war, einer Frau jüdischer Herkunft diese Ehre angedeihen zu lassen. Judith Nisse Shklar ist Jahrgang 1928 und starb im Jahr 1980.

Na klar stellt sich die Frage was beide miteinander zu tun haben, sind sie doch nicht mal Generationsgenossinen, kommen aus anderen Welten, die eine lebt noch, die Philosophin starb, als die Romanautorin drei Jahre alt war. Illusionslose Humanität zeichnet beide aus. Jede von ihnen schaut genau hin, auch erbarmungslos, nimmt die Schwächen der Menschen wahr, ihre Fähigkeit, sich was einzureden, sich was vorzumachen, sich zu überhöhen, auch zu lügen und zu trügen, wenn es das Leben verlangt. Die Geschichte, in die sie gestellt sind, zwingt sie einerseits das, aber andererseits ist es natürlich ihre Freiheit, sich so oder anders zu verhalten.

Von dieser negativen Anthropologie gehen beide aus. Judith Nisse Shklar hat das Europa der beiden Weltkriege und deren Menschheitsverbrechen vor Augen und im Sinn. Ihr Denken beginnt bei dem Geschichtsprinzip Ungerechtigkeit und verweilt bei der Ungerechtigkeit, anstatt schnell zu Gerechtigkeit überzugehen, nach pflichtschuldiger Abhandlung der Ungerechtigkeit. Mehr will ich gar nicht über sie sagen, sondern nur dazu anregen, selber drin zu lesen. Ihre Bücher sind erst spät ins Deutsche übersetzt worden, sehr verdienstvoll. Hätte ich nicht den Artikel von Michael Hampe, der Philosophie in Zürich lehrt, in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen, wäre ich nie auf diese wunderbare Frau gestoßen und das wäre ein wahrhafter Verlust gewesen.

Auf Chimamanda Adichie machte mich eine Freundin aufmerksam. Sie hat einerseits Nigeria und andererseits Amerika vor Augen und im Sinn. In wenigen Wochen habe ich alles gelesen und gehört, was ich finden konnte. „Hibiskus“ ist der Roman einer wohlhabenden Familie mit einem großzügigen Vater, der viel Geld an Bedürftige verteilt, aber seine beiden Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, mit seiner Erziehung terrorisiert, die auf einem harten, unsinnlichen Katholizismus mit animistischen Grundzügen beruht. „Die Hälfte der Sonne“ ist die politische Geschichte Nigerias, dieses reichen, großen Landes, das von seinen Eliten ausgebeutet wird und von Ethnien geplagt werden, die sich gegenseitig umbringen. Im Mittelpunkt steht der Biafra-Krieg, der Bürgerkrieg im Inneren. „Americanah“ spielt in Amerika und wer sich für die Vergangenheit und Gegenwart der Rassenkonflikte im Alltag interessiert, findet in diesem Roman Sätze von Kristallklarheit, die sich ins Gedächtnis brennen.

Ich habe mit zwei TED-Talks angefangen, die auf YouTube gespeichert sind. Sie heißen: „The danger of a Single Story“ und „We should all be feminists“. Dazu gibt es ein Büchlein mit dem wunderbaren Titel: „Trauer ist das Glück, geliebt zu haben.“ Adichie hielt auch die Rede zur Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin.

Lasst euch auf das Lesen ein und ihr werdet beglückt werden.

Von Pragmatikern und Moralisten

Vor wenigen Tagen besuchte Wolodmir Selenskij die Front im Donbass und sagte dabei: „Wir werden den Süden niemandem überlassen, wir werden alles zurückholen, was unser ist, und das Meer wird ukrainisch sein.“ Ein Kriegspräsident darf das sagen, er muss es sogar, um die Moral seiner Soldaten zu stärken. Daran wird er gemessen, egal ob es den Tatsachen oder den Möglichkeiten entspricht.

Die russische Armee ist materiell zehnfach überlegen, allein mit seiner Artillerie. Tag für Tag sterben 200 bis 500 ukrainische Soldaten, noch mehr verletzen sich teils schwer, teils nicht so schwer. Diese Zahlen und Fakten wurden rund um Selenskjis Aufenthalt in Odessa und Mykolayiv bekannt. Schreckliche Zahlen sind das, die eine gegenläufige Geschichte über den wirklichen Krieg erzählen. Dass es unter diesen Umständen wirklich gelingen kann, den Donbass und auch die Krim zurück zu erobern, kann man sich wünschen, darauf lässt sich hoffen, aber Skepsis drängt sich förmlich auf.

Nachschub an schweren Waffen braucht die Ukraine, damit sie die numerische Unterlegenheit einigermaßen kompensieren kann, was denn sonst. Die USA schicken denn auch weitere 18 Haubitzen, Sie können bis zu sechs Schuss auf einmal abgeben, die allesamt im selben Ziel einschlagen. Dazu kommen Anti-Schiffs-Raketen vom Typ Harpoon und, gemeinsam mit Deutschland und England, Mehrfachfachraketenwerfer und Artilleriesysteme vom Typ Mars, das sind Abschussbatterien aus gelenkten Raketen mit GPS-System auf Kettenfahrzeugen, die bis zu 50 km/h schnell fahren.

Nichts geht ganz schnell. Die ersten 15 Flugabwehrpanzer Gepard aus deutscher Produktion, die schon länger in Rede stehen, sollen im Juli ausgeliefert werden, wobei es an Munition mangelt, denn nur 60 000 Schuss hat die Bundeswehr noch auf Lager. Ohnehin wäre es besser, in Etappen zu denken und vorwegzunehmen, was die Ukraine in vier Wochen oder vier Monaten benötigt. Müsste möglich sein und würde deutsche Talk-Runden von kleinkrämerischen Diskussionen entlasten.

Natürlich weist die Wunschliste  die Selenskji dem Quartett Scholz/Macron/Draghi und Johannes unterbreitete, noch mehr Posten auf. Sie wird umso mehr anwachsen, je länger dieser Krieg andauert. Die Ukraine kämpft mit allen Mitteln um ihre Existenz. Wladimir Putin kann sich eine moralische Niederlage leisten, aber keine Kriegsschmach, weshalb er im Zweifelsfall für noch mehr verbrannte Erde wie in Tschetschenien sorgen wird, wenn er es für nötig erachtet. 

Groß ist die moralische Unterstützung im Westen für dieses überfallene Land, und das ist auch gut so. Und dennoch bleibt der Westen militärisch vorsichtiger, als er es zu zugibt. Die Mehrfachraketenwerfer aus Amerika haben nur bedingte Reichweite. So können sich nicht weit nach Russland hinein treffen. Damit sendet die Supermacht eine Botschaft: Die Ukraine muss sich verteidigen können, soll aber das russische Hinterland nicht erreichen.

Emmanuel Macron zeigte fahrlässige Unverblümtheit, als er davor warnte, Russland zu demütigen. Er sagt laut aus politischen Gründen, was Joe Biden leise militärisch berücksichtigt. Der französische Präsident, ansonsten zum Visionären allzeit bereit, kann also auch pragmatisch kaltherzig vorgehen. Olaf Scholz hat prominente Gesinnungsfreunde für seine prinzipielle Zurückhaltung, die er jedoch mal um mal aufgeben muss. 

Übrigens fällt auf, wie wenig momentan von Annalena Baerbock zu hören ist. In der Bundesregierung ist sie zuständig für eine moralisch begründete Außenpolitik. Kann gut sein, dass ihr Pathos mittlerweile von ihrem Wirklichkeitssinn gestört wird. Kann auch sein, dass sie sich nicht länger gegen den Kanzler ausspielen lassen will. Kann genauso gut sein, dass es ein klärendes und/oder herbes Gespräch zwischen beiden gab.

Mit der Zeit dürfte sich der Scholz-Satz durchsetzen, wonach die Ukraine nicht verlieren darf. Aus gutem Grund hat er sich gegen die Zumutung gewehrt, er solle gefälligst sagen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss. Gewinnen hieße zum Beispiel: Krim und Donbass zurück. Nicht verlieren heißt: Die Ukraine muss als souveräner Staat überleben, der dann in die Europäische Union aufgenommen wird.

Es passiert ja trotz aller Vorsicht Undenkbares in Europa. Man kann sich vorstellen, wie Putin bei der Aussicht tobt, dass Moldau, die Ukraine und auch Georgien vom Westen aufgenommen werden wollen. Dazu gibt sich die Nato Ende Juni eine neue Doktrin und verlegt stärkere multinationale Gefechtsverbände in die baltischen Staaten, direkt an der Grenze zu Russland. Was Putin unterbinden wollte, wird sukzessive Wirklichkeit. Darin hätte Marx die Dialektik der Geschichte erblickt, wonach die Mächtigen in ihrer Verblendung das Gegenteil ihrer Absichten erreichen.

Bei Lichte besehen rüstet der Westen die Ukraine auf, um Russland strategisch so zu schwächen, dass es von weiteren Überfallen, zum Beispiel auf Litauen, absehen muss. Zugleich bietet der Westen potentiellen Opfern wie Moldau und aktuellen Opfern wie der Ukraine die Hand, was nun bestimmt nicht gering zu achten ist, geschweige denn ohne Risiko ist.

Noch einige Zeit wird das Widersprüchliche nebeneinander herlaufen – die Vorsicht der Realpolitiker und das Herzklopfen für die Ukraine. Beides hat seine Berechtigung. Denn die Realpolitiker stärken ja zugleich die Nato und erweitern militärisch den Schutzraum für gefährdete Länder. Und die Moralisten sollen gerne unseren Sinn für das fundamentale Unrecht wach halten, das der Ukraine widerfährt.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern

Was zum Hören: Blind Willie McTell

In jedes Bob-Dylan-Memory-Hörbuch gehört das Lied vom blinden Willie McTell, einem Bluessänger und Gitarristen, der von 1998 bis 1959 lebte und auch Hot Shot Willie oder Blind Sammie genannt wurde. Er prägte eine eigene Fingertechnik an der Gitarre aus, die Spezialisten besser erklären können als ich. Natürlich macht Bob Dylan daraus keine Biographie, sondern er beschreibt die Welt des Südens in Willies Welt. Man muss wissen, was er meint, aber schwer ist das nicht. Wer sich ein besonderes Erlebnis gönnen möchte, sollte auf YouTube Bob Dylans Auftritt mit diesem Lied zu Ehren von Martin Scorsese im Hollywood Palladium am 12. Januar 2012.

Hier kommt der Text:

Seen the arrow on the doorpost
Saying this land is condemned
All the way from New Orleans
To Jerusalem travel through east Texas
Where many martyrs fell
And I dont know one can sing the blues
Like blind Wille McTellWell

I heard that hoo-dove singing
As they were taking down the tent
The stars above the barren trees
Was his only audiance

Them charcoal gypsy maidens
Can strut their feathers well
But nobody can sing the blues
Like blind Wille McTell

Seen them big plantations burning
Hear the cracking of the whips
Smell that sweet magnolia blooming
See the ghost of slarvery ship

I can hear them tribes moaning
Hear the undertakers bell
Nobody can sing the blues
Like blind Wille McTell

There’s a woman by the river
With some fine young handsome man
He’s dressed up like a squier
Bootlegged whiskey in his hand

There’s a chain gang on the highway
I can hear them rebells yell
And I know no one can sing the blues
Like blind Wille McTellWell

God is in his heaven
And we are what was his
But power and greed and corruptible seed
Seem to be all that there is

I’m gazing out the window
Of the St. James Hotel
And I dont know no one that can sing the blues
Like blind Wille McTell

Putins zweite Front

Die Militärregierung im Tschad, einem Staat in Zentralafrika, hat den Notstand ausgerufen. Die Uno schätzt, dass dort 5,5 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind. Der Präsident von Senegal, Micky Sall, flog nach Sotschi, um Wladimir Putin zu bitten, er möge doch die in vielen Ländern Afrikas dringend benötigten Weizenlieferungen freigeben. Der russische Präsident tat so, als seien ihm die Hände gebunden. Vom Westen, versteht sich.

Der Hunger in Afrika ist die zweite Front, an der Putin leichter Erfolge erzielt als im Donbass. Er argumentiert, dass die russischen Frachtschiffe nicht ausfahren können, weil sie vom Westen unter Sanktionen gestellt sind. Das stimmt zwar nicht, kommt aber gut an, weil die ehemaligen Kolonialstaaten England und Frankreich in Afrika nicht zufällig unter dem Verdacht stehen, stets ihren  selbstsüchtigen Interessen zu folgen. In Wirklichkeit dürfen die russischen Frachtschiffe keine Häfen der Europäischen Union anlaufen, was aber bei gutem Willen kein größeres Problem wäre.

Russland ist der zweitgrößte Getreideproduzent weltweit. Die Ukraine ist auch ein wichtiger Exporteur und würde gerne liefern wie eh und je. Kann sie aber nicht. Den Hafen von Odessa blockiert die russische Marine. Kein Schiff, kein Frachter vermag auszulaufen. Weder Getreide noch Sonnenblumenöl (da ist die Ukraine führend) können verschifft werden. Dafür sorgt Russland, niemand sonst.

„Politik in Mafia-Manier“ nennt die „Süddeutsche Zeitung“ Putins zynisches Jonglieren mit den Lebensmitteln – den Mitteln zum Überleben. Hungersnöte sind abzusehen im Jemen, in Äthiopien, in Ägypten und Tunesien usw. Nach der ehernen Regel des Kapitalismus führt die gezielte Minderung des Angebots zur Verteuerung der Nachfrage. Der Weizen-Preis geht durch die Decke und je mehr Bedarf arme Länder haben, desto größer ist ihre Verzweiflung. 

Diese Afrika-Strategie ist wirkungsvoll, keine Frage. Als die Uno vor kurzem über die Resolution abstimmte, mit der Russland zum Abzug seiner Truppen aufgefordert wurde, enthielten sich 16 afrikanische Länder, acht glänzten durch Abwesenheit und Eritrea stimmte dagegen. Ein Triumph für Putin, aber was für ein trostloser, was für ein widerwärtiger.

Das Vorgehen ist wie in Syrien parasitär. Wo immer sich eine Lücke auftut, stößt Putin hinein. Aus Mali zum Beispiel zog sich Frankreich zurück; seither führt die berühmt-berüchtigte Wagner-Gruppe, eine russische Söldner-Miliz, den Kampf gegen den IS. Auch in Afrika, ganz wie in Sowjet-Zeiten, sucht Russland den Wettbewerb mit dem Westen um Einfluss. Was aber hat Putin zu bieten? Waffen. Als mangelte es daran, als gäbe es nicht Wichtigeres.

An der ersten Front versucht die russische Artillerie weiterhin, sich den Weg frei zu schießen, inzwischen unterstützt von der Luftwaffe. Es ist ein langsamer Krieg, der sich noch lange hinziehen wird. Viele Kampfpanzer und anderes schwere Gerät hat die russische Armee verloren. Wie viele Soldaten gestorben sind, kann nur geschätzt werden., wahrscheinlich zwischen 20 000 und 30 000, jedenfalls enorm viele. Soeben sind offenbar neue Rekrutenjahrgänge an die Front geschickt worden. Der Krieg geht weiter, immer weiter.

Die entscheidende Frage lautet: Kann die Ukraine den Krieg gewinnen? Ihre militärische Taktik läuft darauf hinaus, dass sich die Russen möglichst langsam und unter enormen Verlusten durch den Donbass kämpfen müssen. Aus dieser Sicht birgt ein Abnutzungskrieg Chancen auf Erfolg. Der britische Militärexperte Philips Payson O’Brien sagt dazu Einleuchtendes im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“:  „Es kommt darauf an, welche Verluste sie den Ukrainern zufügen im Vergleich zu den Verlusten, die ihnen zugefügt werden. Die Städte sind nicht entscheidend, entscheidend sind die Verluste.“

Irgendwann im Sommer will die Ukraine eine Gegenoffensive starten. Mit den schweren Waffen aus dem Westen, inklusive Deutschland. Solange der Nachschub rollt, bleibt vermutlich auch die Moral hoch. Und danach lässt sich vermutlich absehen, welcher Spielraum der Ukraine bleibt.

Dass man ein Herz aus Stein haben muss, um nicht mit der Ukraine zu bangen, versteht sich von selber. Dass man nicht leichtfertige Prognosen über den Kriegsausgang abgeben sollte, liegt auch auf der Hand. Die deutsche Außenministerin lässt ihr heißes Herz für die Ukraine schlagen. Der deutsche Bundeskanzler übt Zurückhaltung, gut so. In einer  guten Regierung gehören unterschiedliche Stimmen zur selbstverständlichen Arbeitsteilung. Könnte man mal in Betracht ziehen, anstatt der Versuchung nachzugeben, Annalena Baerbock gegen Olaf Scholz ausspielen zu wollen. 

Zu den Absurditäten dieser Tage gehört auch die Kritik daran, dass der Kanzler, und dazu Emmanuel Macron, gelegentlich mit dem Kriegsherrn im Kreml telefonieren. Geht’s noch? Zu hören, ob sich an Putins Einschätzung der Lage etwas geändert hat, gehört zum Vernunfthandeln, das man sich von Regierungschefs erwarten sollte. 

Macron ist wie immer auf eigener Umlaufbahn. Er warnt davor, Putin zu demütigen. Da stellt sich sofort die Frage: Was heißt demütigen? Die größtmögliche Demütigung wäre den Krieg zu verlieren, nicht nur moralisch, sondern auch militärisch. Oder meint der französische Präsident, die Lieferung schwerer Waffen, vor allem Luftabwehrraketen, ginge zu weit? Und wo endet die Demütigung Russlands und wann beginnt die Demütigung der Ukraine?

An der ersten Front steht der Westen noch ziemlich einträchtig auf der Seite der überfallenen Ukraine. An der zweiten Front müssen sich Europa und Amerika etwas einfallen lassen, damit sie den Kollateralschaden des Krieges, den Russland in Afrika verursacht, schnell und wirksam mindern.

Dafür der ganze Wahnsinn?

Natürlich bleibt die Frage, warum sich zwei Menschen, von denen man annehmen muss, dass sie sich wenigstens vorübergehend geliebt haben, so eine widerwärtige Schlammschlacht vor Gericht liefern. Dafür habe ich nur die Erklärung, dass es sich um zwei Schauspieler handelt, die wie gewohnt Rollen studierten und Texte aufsagten, die sie aber dummerweise selber geschrieben hatten, und niemand kann felsenfest sagen, wie viel Fiktion und wie viel Wahrheit darin steckt.

Ein Rätsel bleibt mir auch das unfassbare Interesse an der He-said-she-said-Gerichtsverhandlung und die rabiate Teilung von irrsinnig vielen Fans in zwei Lager. Der Hashtag JusticeForJohnnyDepp zählte auf der Plattform sage und schreibe 16,2 Milliarden Aufrufe, während es JusticeForAmberHeard „nur“ auf 55 Millionen Aufrufe brachte. Gibt es wirklich nichts Wichtigeres auf der Welt? Haben so viele Menschen kein Leben?

Nüchtern betrachtet, kommen da zwei Menschen nicht voneinander los und sind versessen darauf sind, sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen.  Nüchtern betrachtet besaß Johnny Depp, der aussieht wie ein frühzeitig gealterter Rockstar, vor Gericht den Vorteil größerer Bekanntheit, weil er nun einmal in Blockbustern mitspielte, die ihn vor ein paar Jahren zum bestverdienenden Schauspieler auf dem Globus machten.

Trotzdem hätte ich schwören können, dass Amber Heard im Land, das die Me-Too-Bewegung erfunden hat, siegen würde. Gründe dafür gab es genug. Nach einem Jahr Ehe hatte sie ja eine einstweilige Verfügung gegen ihren Mann erwirkt – wegen Misshandlungen unter Drogeneinfluss. Dazu passte das Urteil eines Londoner Gerichts, wonach Johnny Depp  als „Wife Beater“ bezeichnet werden darf, als Ehemann, der seine Ehefrau schlägt. 

Von einer Jury, die den Daumen hebt oder senkt, halte ich prinzipiell nicht viel. Fast zwangsläufig wohnt Prozessen in Amerika immer ein größeres Maß an Show inne, welche die meisten Angeklagten ihren Anwälten überlassen. So war es beim Verfahren gegen O.J. Simpson, das ähnlich spektakulär verlief; aber dabei ging es um zwei Morde und damit um alles für den Angeklagten.

Bei Amber versus Depp ging es um häusliche Gewalt und  Drogen, auch um üble Nachrede und Diffamierung – um schrecklich Menschliches. Ungewöhnlich war diesmal nur, dass beide Kläger vor Gericht in den Zeugenstand gingen. Die Show ging noch weiter als sonst üblich. Und das Publikum waren die Geschworenen. Wie es häufig in amerikanischen Gerichtssälen passiert, überforderte sie das Trommelfeuer der wüsten Behauptungen.

Das Urteil fällt anders als gedacht aus, zugunsten von Johnny Depp. Er sagte, die Jury habe ihm sein Leben zurück gegeben. Sie sagte, sie sei am Boden zerstört. Die Logik des Urteils ist: Sie hat ihn stärker diffamiert als er sie. So gesehen war es ihr entscheidender Fehler, dass sie in einen Meinungsartikel für die „Washington Post“ schrieb, in dem sie allerdings nicht einmal ihren Ex-Mann erwähnte. 

Amerika ist das Land, in dem immer auch vor Gericht um mindestens eine Handvoll Dollar verhandelt wird. Amber Heard muss ihm 10,35 Millionen Dollar zahlen und Johnny Depp ihr 2 Millionen Dollar. Da er ihr bei der Scheidung 7 Millionen überlassen musste, ist daraus fast ein Nullsummenspiel geworden. Richter und Jury wollten es so. Dieser Schacher ist ihr weiser Ratschluss. Ist das nicht abstoßend? Dafür der ganze Wahnsinn? Kann irgendjemand damit zufrieden sein?

Das wirkliche Drama besteht darin, dass das Eigentliche völlig aus dem Blickfeld geraten ist. Amber Heard reichte die Scheidung wegen Misshandlungen ein. In der „Washington Post“ schrieb sie: „Ich habe mich gegen sexualisierte Gewalt gewehrt und den Zorn der Gesellschaft gespürt.“ Jetzt ergeht es ihr noch einmal so, nur dass die Jury den Zorn der Gesellschaft auch noch zur Richtschnur ihres Urteils gemacht hat.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Warum der FC Bayern Real drei Gefallen tat

Der FC Bayern München mit seiner eingefleischten Selbstgefälligkeit schied in der Champions League gegen Villareal aus. Drei der in München Aussortierten gewannen mit Real Madrid gegen Liverpool so, wie sie vorher gegen Paris, Chelsea und ManCity gewonnen hatten: mit Glück, das man sich erst aber mal verdienen muss. Einer der Aussortierten, Trainer Ancelotti, ist jetzt der Größte seiner Zunft, weil er als Spieler und Trainer so oft Pokale gewonnen hat wie keiner vor oder neben ihm. Er tanzt nicht an der Seitenlinie, er führt sich nicht auf, er bleibt cool, kaut seinen Kaugummi und schaut ausdruckslos aufs Spielfeld. Nur einmal sah ich ihn seine Fassung verlieren, das war, als Benzema gegen Chelsea einen Panenka-Elfmeter verwandelte, da tippte er sich mit beiden Zeigefingern an die Stirn. Sein absolutes Gegenteil, José Mourinho, vergoss Tränen, weil sein neuester Verein, AS Rom, die Conference League gewann, herzlichen Glückwunsch auch. Da ist jemand bescheiden geworden, wie schön für uns, wie traurig für ihn.

Toni Kroos ließ der FC Bayern München 2014 ziehen. Die Herren Hoeness und Rummenigge verweigerten ihm das Gehalt, das er verlangte. Geld ist immer auch ein Symbol für Respekt. Die beiden verweigerten ihm die Achtung, wobei ich mir denke, dass sie im Sommer, als Deutschland mit einem überragenden Toni Kroos Weltmeister wurde, ins Grübeln gerieten, was sie natürlich niemals zugeben würden. Für Kroos erwies sich die Schnödigkeit als Glücksfall, für Real ebenfalls. Nach wie vor ist er das Metronom mit einer unfassbaren Sicherheit, mit seinen Pässen das Tempo anzugeben und zu variieren. Modrić hat mal von ihm gesagt, für Normalmenschliche sein das Fußballspiel Chaos, Anarchie, nur für Kroos vollziehe es sich in Zeitlupe, weshalb er so gut wie immer die richtige Entscheidung zu fällen vermag.

Der Dritte im Bunde ist Alaba. Auch ihn haben sie in München nicht besonders gut behandelt. Deshalb ging er zu Real und war vom ersten Augenblick die erhoffte Verstärkung. Ramos? Wird nicht vermisst, spielt nicht in Paris. Wer hätte das gedacht?

Glückwunsch an Ancelotti, Alaba und Kroos. Und schönen Dank an den FC Bayern München.

Wie lange noch und mit welchem Kriegsziel?

Mariúpol ist gefallen, wie man so sagt – als wäre die 450 000-Einwohner-Stadt am Asowschen Meer hingefallen und nicht von der russischen Artillerie völlig zerstört worden. Die Soldaten im Stahlwerk haben nach knapp drei Monaten aufgegeben, wie es heißt – als wären sie nicht in russische Kriegsgefangenschaft geraten, was nichts Gutes verheißt, um das Mindeste zu sagen. 

Ich habe heute gelesen, dass Mariúpol ein Symbol für den ukrainischen Widerstandsgeist ist und für die russische Zerstörungswut. Beides stimmt, aber es kommt noch ein Aspekt hinzu: Mariúpol ist auch ein Symbol für den unbedingten Willen Putins, diesen Krieg zu gewinnen, koste es, was es wolle.

Es hat wenig Sinn, Wladimir Putin zu dämonisieren. Ja, er baut seine Macht inzwischen nur noch auf Repression, Bestechung und der großen Lüge auf, die Propaganda heißt. Aber noch verfolgt er überschaubare Interessen mit allen Mitteln des Krieges, der sich anders entwickelt hat, als er dachte. Zu seinem Arsenal des Schreckens gehört auch seine Drohung mit taktischen Atomwaffen, die man so ernst nehmen muss, wie sie Olaf Scholz ernst nimmt. Damit würde Putin jedoch einen Krieg mit der Nato riskieren, an dessen Ende die Selbstzerstörung Russlands stehen könnte.

Geht er so weit? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht; womöglich weiß er das selber noch nicht. Gelingt es ihm jedoch in absehbarer Zeit, sein revidiertes Kriegsziel zu erreichen, die Reduktion der Ukraine auf Dauer, dann bleibt es vermutlich bei der Androhung. 

Wie es aussieht, verfolgt Putin noch ein anderes Ziel: eine Hungerkrise im Nahen Osten und in Nordafrika. Deshalb hindert er die Ukraine am Export seines Getreides, deshalb lässt er Getreidesilos bombardieren. Bricht der Hunger aus, dann fliehen Millionen Menschen nach Europa und lösen eine zweite Flüchtlingskrise wie  2015 aus, möglichst mit dem gleichen Effekt, Europa zu destabilisieren. Und dieses Europa leidet, anders als 2015, unter einer eine hohen Inflation und steigenden Preisen als Folge des Putin-Krieges.

So könnte Putins Rechnung aussehen. Die Nato mag er unwillentlich gestärkt haben. Die Erweiterung um Schweden und Finnland ist aus dieser Sicht ärgerlich, aber nicht entscheidend. Die Auswirkungen auf die Europäische Union könnten diesmal noch schwerer wiegen, wie man am knappen Wahlsieg Emmanuel Macrons über Marine LePen ablesen kann. Den Westen zu schwächen, der die Ukraine gegen ihn stärkt, bleibt eines seiner strategischen Ziele.

Was Putin will, wissen wir also einigermaßen verlässlich. Was die Ukraine will, wissen wir mehr oder weniger genau. Nicht länger ist die Rede von Neutralität oder dem vorläufigen Verzicht auf den Donbass, auch nicht von Verhandlungen mit Russland, was man in dieser Lage gut verstehen kann. Im Juli will die ukrainische Armee eine große Gegenoffensive starten, mit den schweren Waffen aus dem Westen. Sie wird versuchen, die russischen Truppen so zu besiegen, dass sie sich zurückziehen, womöglich ganz und gar, daas ist Selenskijs Wunschvorstellung, das ist sein Kriegsziel.

Die estnische Präsidentin Katja Kallas hat ausgesprochen, worum es geht: Russland soll den Krieg so verlieren, dass es der Ukraine das gesamte Terrain zurückgeben muss, inklusive Lugansk und Donezk. Nur dann wäre Russland auf längere Sicht nicht in der Lage, die baltischen Staaten zu überfallen.

Auch in Amerika beginnt jetzt die Diskussion darüber, worin das Kriegsziel liegen sollte. Putin soll strategisch geschwächt werden, so viel ist klar. Aber wie weit soll die Schwächung gehen – bis zu einem Russland ohne Putin? Doch wer käme nach ihm und wie können wir sicher sein, dass eine russische Militärdiktatur eine besser Alternative wäre?

Der Kanzler und seine Außenministerin haben gesagt, dass Putin in der Ukraine nicht siegen darf. Kann man so sagen. Kann man sich auch so wünschen. Olaf Scholz ließ sich vermutlich zu einer solchen Aussage hinreißen, die seinem Stoizismus widerstrebt, weil der Druck national und international einfach zu groß wurde. Annalena Baerbock ist wohl auch innerlich davon überzeugt, zumal sie mit ihrer moralisch begründeten Haltung ziemlich viel Beifall bekommt. Auch mir imponiert ihr Auftreten in mancher Hinsicht.

Kein Wunder, denn klares Reden ist nach unseren Erfahrungen mit nebulöser Sprache, vorgetragen von Genscher oder Steinmeier,  Gabriel oder Maas, eine Wohltat. Zu viel klares Reden schränkt allerdings schon jetzt den Spielraum ein, den auch deutsche Diplomatie irgendwann mal braucht, wenn es um Sondierungen für einen Frieden geht, der dem Krieg, dem Morden, den Verbrechen, den Vergewaltigungen und Entführungen ein Ende bereitet. Haben wir nicht immer andere belehrt, zum Beispiel die USA, man müsse eine Exit-Strategie bedenken? Gilt das nicht auch für die deutsche Außenpolitik?

Kriege sind dynamische Prozesse. Vieles erscheint heute möglich, was morgen schon wieder verflogen sein kann. Und umgekehrt kann morgen denkbar werden, was heute noch undenkbar ist. Zwangsläufig verändern sich die Ziele im gleichen Rhythmus, vor allem dann, wenn ein langer Abnutzungskrieg eintritt. 

Das Drama im Stahlwerk ist nun vorbei. Im Osten fliegt die russische Luftwaffe Angriffe auf die Stadt Sjewjerodonezk. Der Krieg geht weiter, immer weiter. Wie lange noch?

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Fundstück: Karl Valentin

Heute habe ich einen Satz in der Zeitung gelesen, in dem Karl Valentin zitiert wird. Karl Valentin (1892-1948): Komiker und Volkssänger, das sind präzise, altertümliche Beschreibungen, heute würden wir sagen: bayerischer Comedian. Ich würde sagen: Sprachwunder mit einer Vorliebe fürs Paradoxe.

Der Satz lautet: Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.

Wie so häufig steckt in solchen Sätzen eine ganze Welt. Auf das Ich kommt es nicht an, draußen in der Welt herrschen eigene Gesetze, auf die kein Mensch Einfluss üben kann. Dabei ist die Natur, der Regnen, nur eine Metapher für Geschichte. Die Geschichte ereignet sich, egal was das Ich davon hält. Sie ist das Fremde, Kalte, vielleicht auch mal das Warme, aber immer ist sie unabhängig vom Ich.

Heute tun viele so, als sei es anders. Als käme es auf sie an. Jeder beliebige Politiker oder Autor oder Niemand wird so zitiert: Ich will. Ich will, dass die Ukraine Waffen bekommt (Anton Hofreiter). Ich will, dass Putin den Krieg verliert (Annalena Baerbock). Ich will, dass daraus kein Atomkrieg entsteht (Olaf Scholz).

Philosophisch nennt man diese Haltung Solipsismus: Ich behaupte, es kommt auf mich an, die Dinge haben sich nach mir zu richten. Ich will, dass es regnet. Ich will, dass es nicht regnet. Mein Wollen regiert die Dinge.

Die Ich-will-Menschen würden Karl Valentin Opportunismus vorwerfen. Er passt sich an. Er hat keine Wünsche, keine Träume. Er behauptet, dass es einfach regnet, ob er es so will oder nicht. Er fügt sich der Welt ein. Sein Ich ist reduziert auf das Machbare, Erwartbare. Paradoxien sind die Ausflucht der Realisten. Mehr bekommen sie nicht hin. Sind sie nicht arm, eingeschränkt, diese Auf-mich-kommt-es-nicht-an-Menschen?

Man kann es aber auch so sehen. Wer zwei Weltkriege erlebt hat, und Valentin war schon beim Ersten erwachsen, wer in Bayern das Ende der Monarchie, Anarchie, Revolutionen, Hyperinflation, Hitler-Putsch, Freikorps-Morde, den Aufstieg der Nazis mitgemacht hat, dann die bedingungslose Kapitulation, das Nachkriegs-Elend, der Nachkriegs-Hunger, die Besatzung usw.: Ja, dem sind die Illusionen ausgegangen und der Rückzug auf das Überlebensnotwendige ist konsequent. Der besinnt sich darauf, dass er in das Rad der Geschichte nicht eingreifen kann, dass er nicht so tun kann, als käme es auf ihn an, und dem sind die Ich-will-Sätze versiegt, wenn er sie denn jemals im Repertoire gehabt haben sollte.

Das Moralisieren in Kriegszeiten ist eine gefährliche Eigenschaft. Es geht nicht darum, was ihr wollt, es geht darum, was Putin will, denn auf ihn kommt es an, nicht auf euch. Es regnet Bomben, wenn er es will. Es gibt Frieden, wenn er nicht weiter weiß.

Weniger Solipsismus, bitte.