Mariúpol ist gefallen, wie man so sagt – als wäre die 450 000-Einwohner-Stadt am Asowschen Meer hingefallen und nicht von der russischen Artillerie völlig zerstört worden. Die Soldaten im Stahlwerk haben nach knapp drei Monaten aufgegeben, wie es heißt – als wären sie nicht in russische Kriegsgefangenschaft geraten, was nichts Gutes verheißt, um das Mindeste zu sagen.
Ich habe heute gelesen, dass Mariúpol ein Symbol für den ukrainischen Widerstandsgeist ist und für die russische Zerstörungswut. Beides stimmt, aber es kommt noch ein Aspekt hinzu: Mariúpol ist auch ein Symbol für den unbedingten Willen Putins, diesen Krieg zu gewinnen, koste es, was es wolle.
Es hat wenig Sinn, Wladimir Putin zu dämonisieren. Ja, er baut seine Macht inzwischen nur noch auf Repression, Bestechung und der großen Lüge auf, die Propaganda heißt. Aber noch verfolgt er überschaubare Interessen mit allen Mitteln des Krieges, der sich anders entwickelt hat, als er dachte. Zu seinem Arsenal des Schreckens gehört auch seine Drohung mit taktischen Atomwaffen, die man so ernst nehmen muss, wie sie Olaf Scholz ernst nimmt. Damit würde Putin jedoch einen Krieg mit der Nato riskieren, an dessen Ende die Selbstzerstörung Russlands stehen könnte.
Geht er so weit? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht; womöglich weiß er das selber noch nicht. Gelingt es ihm jedoch in absehbarer Zeit, sein revidiertes Kriegsziel zu erreichen, die Reduktion der Ukraine auf Dauer, dann bleibt es vermutlich bei der Androhung.
Wie es aussieht, verfolgt Putin noch ein anderes Ziel: eine Hungerkrise im Nahen Osten und in Nordafrika. Deshalb hindert er die Ukraine am Export seines Getreides, deshalb lässt er Getreidesilos bombardieren. Bricht der Hunger aus, dann fliehen Millionen Menschen nach Europa und lösen eine zweite Flüchtlingskrise wie 2015 aus, möglichst mit dem gleichen Effekt, Europa zu destabilisieren. Und dieses Europa leidet, anders als 2015, unter einer eine hohen Inflation und steigenden Preisen als Folge des Putin-Krieges.
So könnte Putins Rechnung aussehen. Die Nato mag er unwillentlich gestärkt haben. Die Erweiterung um Schweden und Finnland ist aus dieser Sicht ärgerlich, aber nicht entscheidend. Die Auswirkungen auf die Europäische Union könnten diesmal noch schwerer wiegen, wie man am knappen Wahlsieg Emmanuel Macrons über Marine LePen ablesen kann. Den Westen zu schwächen, der die Ukraine gegen ihn stärkt, bleibt eines seiner strategischen Ziele.
Was Putin will, wissen wir also einigermaßen verlässlich. Was die Ukraine will, wissen wir mehr oder weniger genau. Nicht länger ist die Rede von Neutralität oder dem vorläufigen Verzicht auf den Donbass, auch nicht von Verhandlungen mit Russland, was man in dieser Lage gut verstehen kann. Im Juli will die ukrainische Armee eine große Gegenoffensive starten, mit den schweren Waffen aus dem Westen. Sie wird versuchen, die russischen Truppen so zu besiegen, dass sie sich zurückziehen, womöglich ganz und gar, daas ist Selenskijs Wunschvorstellung, das ist sein Kriegsziel.
Die estnische Präsidentin Katja Kallas hat ausgesprochen, worum es geht: Russland soll den Krieg so verlieren, dass es der Ukraine das gesamte Terrain zurückgeben muss, inklusive Lugansk und Donezk. Nur dann wäre Russland auf längere Sicht nicht in der Lage, die baltischen Staaten zu überfallen.
Auch in Amerika beginnt jetzt die Diskussion darüber, worin das Kriegsziel liegen sollte. Putin soll strategisch geschwächt werden, so viel ist klar. Aber wie weit soll die Schwächung gehen – bis zu einem Russland ohne Putin? Doch wer käme nach ihm und wie können wir sicher sein, dass eine russische Militärdiktatur eine besser Alternative wäre?
Der Kanzler und seine Außenministerin haben gesagt, dass Putin in der Ukraine nicht siegen darf. Kann man so sagen. Kann man sich auch so wünschen. Olaf Scholz ließ sich vermutlich zu einer solchen Aussage hinreißen, die seinem Stoizismus widerstrebt, weil der Druck national und international einfach zu groß wurde. Annalena Baerbock ist wohl auch innerlich davon überzeugt, zumal sie mit ihrer moralisch begründeten Haltung ziemlich viel Beifall bekommt. Auch mir imponiert ihr Auftreten in mancher Hinsicht.
Kein Wunder, denn klares Reden ist nach unseren Erfahrungen mit nebulöser Sprache, vorgetragen von Genscher oder Steinmeier, Gabriel oder Maas, eine Wohltat. Zu viel klares Reden schränkt allerdings schon jetzt den Spielraum ein, den auch deutsche Diplomatie irgendwann mal braucht, wenn es um Sondierungen für einen Frieden geht, der dem Krieg, dem Morden, den Verbrechen, den Vergewaltigungen und Entführungen ein Ende bereitet. Haben wir nicht immer andere belehrt, zum Beispiel die USA, man müsse eine Exit-Strategie bedenken? Gilt das nicht auch für die deutsche Außenpolitik?
Kriege sind dynamische Prozesse. Vieles erscheint heute möglich, was morgen schon wieder verflogen sein kann. Und umgekehrt kann morgen denkbar werden, was heute noch undenkbar ist. Zwangsläufig verändern sich die Ziele im gleichen Rhythmus, vor allem dann, wenn ein langer Abnutzungskrieg eintritt.
Das Drama im Stahlwerk ist nun vorbei. Im Osten fliegt die russische Luftwaffe Angriffe auf die Stadt Sjewjerodonezk. Der Krieg geht weiter, immer weiter. Wie lange noch?
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.