Die Reise Joe Bidens nach Elmau und Brüssel führte uns noch mal vor, wie ungemein wichtig die Immer-Noch-Supermacht USA für Europa sein kann. Sie ist der Patron, sie garantiert mit ihrem nuklearen Schirm die Existenz des Kontinents, sie sichert uns militärische Unterstützung zu, falls Russland zum Beispiel Litauen angreifen sollte, womit Wladimir Putin ja schon drohte. Die Botschaft Bidens lautete: Ihr könnt euch auf uns verlassen, wir stehen an eurer Seite, komme, was wolle.
Können wir? Joe Biden wird im November 80 Jahre. Er ist ein Relikt aus der Zeit, als sich die USA im Kalten Krieg nach Europa orientierten, weil sich dort der Systemkonflikt mit der Sowjetunion abspielte, ein Zustand, der sich dank Putins Kolonialismus heute wiederholt. Aber schon Barack Obama wollte sein Land auf die Auseinandersetzung mit China vorbereiten und darauf einstellen. Und so liegt der Gedanke nahe, dass der nächste amerikanische Präsident Europa vernachlässigen wird, weil nun einmal Asien der Kontinent des 21. Jahrhunderts ist, auf dem sich die historische Rivalität mit China entscheidet.
Amerika war noch nie gut darin, auf zwei Klavieren zu spielen. Und Amerika ist seit geraumer Zeit besonders effizient darin, Kulturkriege zu führen und von innen heraus zu erodieren.
Am heutigen Montag werden die Vereinigten Staaten von Amerika 246 Jahre alt. Acht Männer unterzeichneten am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung, die mit diesen schönen Worten beginnt: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
Glückwunsch. Aber wem wünschen wir Glück? Den Demokraten, die sich in Gruppen zerlegt haben, wobei jede einzelne Gruppe sich für das Zentrum hält, das es nicht gibt? Den Republikanern, die den Sturm aufs Kapitol für ein Stürmchen erklären? Der Ostküste und Kalifornien, wo am ehesten liberale Amerikaner zu finden sind?
Amerika, das wunderschöne, wie es in der Nationalhymne heißt, ist ein seltsames Land geworden. Gespalten im Grunde seit Ronald Reagan. Wiederbelebt durch Bill Clinton, der allerdings die Finanzmärkten entfesselte, eine Freiheit, die sie derart schamlos nutzten, dass 2008 die Märkte zusammenbrachen. Ausgerechnet Barack Obama musste dieses Wall-Street-Amerika retten, um Schlimmeres zu verhindern. Nicht aber rettete er die 4,3 Millionen Familien, die ihre Häuser verloren und dazu ihr Vertrauen in die Eliten, so dass sie zur Wahl Donald Trumps beitrugen, der wiederum den Reichen und den Konzernen hübsche Steuergesetze gönnte. Ein böser Kreislauf, der sich in die Pandemie ausdehnte.
Das Ergebnis sind die feindseligen Staaten von Amerika. Wut und Hass auf der Rechten. Hass und Wut auf der Linken. Keine Chance für Mainstream-Politik, mit der Joe Biden groß geworden war und die er heute noch verkörpert. Das System von Checks und Balances funktioniert schon lange nicht mehr. Der Kongress ist ein Gehäuse der Ohnmacht. Ein Symptom dafür ist der Ausschuss, der den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 untersuchen soll. An diesem Tag wollte Donald Trump unbedingt seinen White-Trash-Anhängern in der Staatskarosse hinterherfahren, das weiß man seit voriger Woche; der Secret Service hielt ihn davon ab. Es wareneben seine Leute, er wollte zu ihnen, er wollte, dass sie Mike Pence dazu zwingen, ihm die Präsidentschaft zu sichern.
Muss man mehr wissen? Braucht man mehr zur Anklage? Eigentlich nicht. Kommt es dazu? Wohl kaum. Da seien die Republikaner vor, die sich von Trump zur Geisel machen lassen.
In dieses Vakuum stößt nun der Supreme Court. Er ist zum Zertrümmerer des liberalen Amerika geworden; dafür sorgte Donald Trump mit der Berufung dreier konservativer Richter. Egal was mit ihm passiert, dort sitzen die Vollstrecker der Wende zum Konservativen. Immerhin haben sie sich der Zumutung versagt und Trump die politisch verlorene Wahl nicht auch noch juristisch geschenkt, das war’s aber schon.
Die Urteile des Supreme Court haben die Tendenz, die Zentrale zu schwächen und die Bundesstaaten zu stärken. Die sollen von nun an über das Recht auf Abtreibung entscheiden. Damit ist der Kulturkampf entschieden, der seit 49 Jahren anhält, als der Supreme Court urteilte, dass die Verfassung die Freiheit zur Abtreibung schützt. Normalerweise geht das Oberste Gericht pfleglich mit Rechtsetzungen seiner Vorgänger um. Die Umkehrung der Logik ist selten, bestätigt jetzt aber den Verdacht, dass diese Richter darauf aus sind, Amerika nach ihren konservativen Vorstellungen zu verändern.
Ab jetzt darf die Umweltschutzbehörde keine nationalen Verordnungen gegen die Vergiftung der Atmosphäre erlassen. Auch Waffengesetze sind mehr denn je das Monopol der Bundesstaaten, was dazu führt, dass Lehrer in den Klassenzimmern Waffen tragen dürfen. Davon hat noch nicht mal die Waffenlobby zu träumen gewagt. Ihr Argument war ja bei jedem Amoklauf, dass mehr Waffen zu weniger Toten in Klassenzimmern und Schulen führen. Die Mehrheit der neun Richter geben ihr recht.
Es wird nicht lange dauern, bis der Supreme Court über das Recht auf Heirat für Homosexuelle neu urteilt. Im Jahr 2015 erklärte der Supreme Court die gleichgeschlechtliche Ehe in den Bundesstaaten für zulässig. Der konservativen Mehrheit des Gerichts darf man Konsequenz zutrauen und so ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die liberale Rechtsfindung aufgehoben wird. In diesem illiberalen Klima muss die ganze LBGT-Community mit erneuter Ächtung und Diffamierung rechnen, sofern sie nicht in Kalifornien beheimatet ist.
Knapp zweieinhalb Jahre hat Joe Biden noch vor sich. So lange kann Europa auf ihn zählen und die Nato zugleich für einen Krieg im Baltikum rüsten, der Putins Russland zuzutrauen ist. Diese Zeit bleibt den europäischen Verbündeten zur Emanzipation vom entzweiten Amerika für den Fall der Fälle, dass der nächste Präsident kein Interesse mehr am alten Kontinent hegt.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.