Kluger Apologet der zynischen Kirche

Es waren einmal zwei gottesfromme Brüder aus Marktl am Inn, die ihr Leben der Heiligen Kirche  widmen wollten. Sie stammten aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Gendarmeriemeister, die Mutter Köchin. Ihre beiden Söhne waren ehrgeizig und intelligent und strebten hienieden andere geistige Sphären an.

Der große Tag zur Einkehr beim Herrn ereignete sich am 29. Juni des Jahres 1951. Auf einem ikonischen Foto sind sie im Chorhemd zu sehen, einem weißen Leinengewand mit weitem Ärmel. Im Freisinger Dom werden die Brüder Georg und Joseph Ratzinger zu Priestern geweiht. Georg ist 27, Joseph 24. Aus Georg wird der Domkapellmeister und Leiter der Regensburger Domspatzen, aus Joseph ein Großintellektueller und Apologet der katholischen Kirche und schließlich im Jahr 2005 ein Überraschungspapst. „Wir sind Papst“, lautete die vielleicht genialste aller „Bild“-Schlagzeilen.

Ja, irgendwie waren auch wir stolz auf ihn, wir Kulturprotestanten, die von je her ein gespaltenes Verhältnis zur uralten Kirche der Katholiken hatten. Die Schönheit der Gotteshäuser. Die herrlichen gregorianischen Gesänge. Einerseits. Und andererseits die Inquisition. Die Weihe für die  Konquistadoren, die eine Rechtfertigung für die Ausrottung indigener Völker brauchten. Und dann diese ungeheure Heuchelei, der Martin Luther mit seiner Abspaltung ein Ende machen wollte.

Man stelle sich vor, die katholische Kirche wäre dem Rebellen im 16. Jahrhundert gefolgt und hätte es seinen Priestern erlaubt zu heiraten. Wie vielen Jungen und Mädchen, Frauen und Männern wäre diese Orgie der Misshandlungen, Vergewaltigungen und Schädigungen für ein ganzes Leben erspart geblieben. Wie human wäre diese Reform gewesen.

Denn sie gingen ja einher, das Papsttum Benedikt XVI., und  die erschütternde Erhellung der dunkelsten Seite des Katholizismus, die vermutlich ebenso lange schon währt wie die Institution selber. Ihr ging es um den Schutz vor Aufklärung und so bewahrte sie ihre schwarzen Schafe so lange wie möglich vor strafrechtlicher Verfolgung. Nur zu oft wurden Serientäter von einem Bistum in ein anderes Bistum versetzt. Nicht die Opfer lagen der Kirche am Herzen, sondern ihre kriminellen Brüder im Ornat.

Es wäre schön, wenn die Gebrüder Ratzinger ganz anders gewesen wären. Georg warf mit Notenständern um sich, wenn die Domspatzen ihm missfielen, verteilte auch Ohrfeigen, wie er zugab. Ein Milieu aus Angst und Gewalt für die armen Kinder. Ein Sonderermittler bescheinigte Ratzinger persönlich Nettigkeit und Milde jenseits der Proben, immerhin. Für Sadismus und sexuelle Übergriffe waren andere Seelsorger in Regensburg verantwortlich. Die rund 400 Opfer, die nach vorne getreten waren, wurden finanziell entschädigt.

Joseph konnte sich zuerst nicht und dann doch an vier Fälle des Missbrauchs erinnern, als er Kardinal von München und Freising gewesen war. In seiner sentimental angehauchten Stellungnahme sprach er viel von seiner Scham und seinem Schmerz, bevor er eher beiläufig die lebenslange Versündigung an den Missbrauchten erwähnte.

Joseph war in seinen jüngeren Jahren ein progressiver Geistlicher gewesen. Als er aus München nach Rom wechselte, war davon nicht mehr viel zu bemerken. Selten ist die katholische Kirche intellektuell und geistig ähnlich elaboriert verteidigt worden als von ihm. Johannes Paul II., der polnische Papst, war eher ein Gemütsmensch gewesen, der aus politischen Gründen gewählt worden war und politisch wirkte, weil die Zeit politisch war: 1978 wurde er gewählt, als in Polen eine ernsthafte Alternative zum Kommunismus entstand. Er amtierte bis 2005, enorm lange, unter ihm triumphierte der Katholizismus tatsächlich über den Kommunismus.

Benedikt war die Alternative. Klug. Institutionentreu. Statusbewusst. Reformfeindlich. Immerhin siechte er im Amt nicht so dahin wie sein Vorgänger, der am Ende ein ebenso bemitleidenswertes wie jämmerliches Zerrbild seiner selbst war. Benedikt XVI. trat 2013 zurück, zog sich zurück und schaute aus der Ferne dazu, wie sich sein Nachfolger Franziskus um eine maßvolle innere Korrektur der halsstarrigen, uneinsichtigen, eiskalten, zynischen Kirche bemühte und damit stecken blieb, was sonst.

Nun ist er tot, der Bub aus Marktl, unser Papst. Zu gerne wüsste man, ob er, der Intellektuelle, an eine Auferstehung im Jenseits glaubte.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Sonnenschein in einer Übermannschaft

Für mich war Pelé der Größte aller Großen. Ich habe ihn bei meiner ersten Weltmeisterschaft spielen sehen, da war er 17, umgeben von Ausnahmekönnern wie Vava und Didi und Zagallo und Garrincha im Sturm. Diese brasilianische Mannschaft war noch besser als die ungarische, die 1956 die Weltmeisterschaft verdient gehabt hätte. Dazu die beiden Santos neben Bellini in der Abwehr, Gilmar im Tor. Sie bildeten eine Übermannschaft, in der Pelé glänzen durfte. Ich kann die Aufstellung jederzeit singen.

Pelé konnte alles und schoß unfassbar viele Tore. Franz Beckenbauer spielte unvergleichlich elegant und war ein Herrscher auf dem Spielfeld. Wenn er einen Mannschaftskameraden nicht leiden konnte, vermochte er Pässe zu spielen, von denen dieser Ungeliebte glaubte, er könnte sie erreichen, erreichte sie aber nicht. Dabei sah er dann aus wie ein Trottel, zu langsam, zu wenig technisch beschlagen. Nicht zufällig erwies sich der Franz auch als vorzüglicher Trainer, der sogar die deutsche Rumpelmannschaft 1990 zu Weltmeisterehren führte.

Johan Cruyff kam Beckenbauer gleich in einer unterschiedlichen Rolle. Dazu formte er Barçelona und Ajax zu den Vereinen, die sie heute sind. Darin liegt der Unterschied von Beckenbauer wie Cruyff zu Pelé, der es zwar zum Sportminister brachte, aber fußballerisch kein Erbe jenseits seiner selbst hinterließ.

Pelé trieb mit seiner Kunstfertigkeit die gegnerischen Spieler und Trainer in den Wahnsinn. Beide revanchierten sich mit einer Jagd auf ihn. Sie wollten ihn ausschalten, sie wollten ihn verletzen und schafften es natürlich auch, 1962. Nichts aber konnte Brasilien aufhalten, eben eine Übermannschaft, auch ohne Pelé. Natürlich gab es einen Trainer, der für die Aufstellung zuständig war, doch wer erinnert sich schon an ihn?

Heute sind selbst die Verteidiger technisch feine Spieler, die noch die schwierigsten Bälle aus der Luft herunter pflücken, so dass sie am Fuß kleben. Damals gab es die klobigen Vorstopper à la Katsche Schwarzenbeck, welche die Aufgabe hatten, begnadete Fußballer wie Beckenbauer vom Grätschen zu entlasten und schon mal begnadete Fußballer wie Pelé abräumten. Erst im Jahr 1970 war er wieder dabei, als sich Brasilen innerhalb von 12 Jahren zum dritten Mal die Weltmeisterschaft holte.

Die Großen sind treu. Pelé spielte immer und ewig für den FC Santos. Beckenbauer spielte immer und ewig für die Bayern. Im Spätherbst ihrer Karrieren erspielten sie sich in New York bei einem Kunstklub namens Cosmos ein paar Millionen, die ihnen gegönnt seien. Beckenbauer tauchte dann noch beim HSV auf, als ich gerade rechtzeitig nach Hamburg gezogen war. Auch betagt blieb es ein Genuss, ihn spielen zu sehen.

Maradona ist die Ausnahme, er war ein Wandervogel. Messi wäre gerne bei Barça geblieben, musste jedoch nach Paris weiterziehen. Cristiano Ronaldo, der seinen Ruhm durch seinen Narzissmus schmälert, spielte in der Blüte seiner Jahre lange In Madrid, bevor er zu Manu zurückkehrte und alle und jeden gegen sich aufbrachte.

Natürlich spielt der Charakter vor allem im Prozess des Alterns die entscheidende Rolle. Pelé war vom Typus Sonnenschein und blieb es bis zuletzt. Beckenbauer suchte sich Frauen aus, die ihn jenseits des Platzes formten und den Spießer zum Weltbürger erzogen. Cruyff prägte sich selber dazu. Maradona war schwach, kokste irgendwann zu viel und endete als sein eigener Schatten. Messi bleibt wohl ewig der bescheidene Junge.

Nun ist Pelé von uns gegangen. In meiner Erinnerung bleibt er für immer dieser sonnige Junge, der das Spielen schuhlos erlernte, und fast im Alleingang die Schweden im Endspiel 1958 schlug, die unsere wunderbare Truppe mit dem 17jährigen Uwe Seeler unverdient im Halbfinale eliminiert hatten.

Friede sei mit Edson Arantes do Nascimento, von uns geliebt als Pelé.

„Westliches Zögern verlängert den Krieg“

Interview mit Wolfgang Ischinger über die Dauer des Krieges, die Churchill-Qualitäten Selenskjis und die Frage, ob mit Putin Frieden möglich sein wird.

t-online: Herr Ischinger, lassen Sie sich zu einer Prognose hinreißen: Wie lange hält der Krieg gegen die Ukraine noch an?

Ischinger: Ich würde mich ausnahmsweise sehr freuen, wenn ich falsch liegen sollte. Aber zum Jahreswechsel sehe ich leider kein Kriegsende in Sicht für die kommenden Monaten. Da müsste sich schon ein Oster- oder Pfingstwunder ereignen.

Kann es ernsthafte Friedensverhandlungen geben, solange Wladimir Putin im Kreml sitzt?

Ja, durchaus, denn es ist realpolitisch abwegig, wenn manche sagen, man könne oder dürfe mit Putin überhaupt nicht mehr reden. Mit wem sonst soll denn die Ukraine verhandeln, wenn es mal so weit ist? Natürlich will man sich von Putin nach so vielen Lügen und Kriegsverbrechen nicht über den Tisch ziehen lassen. Jede denkbare Vereinbarung müsste verifizierbar sein, da es eine Vertrauensbasis nicht gibt.

Sinnvolle Verhandlungen wird es erst dann geben, wenn Putin einsieht, dass jede Fortsetzung des militärischen Einsatzes zwar noch mehr Opfer erfordert, aber keine weiteren Quadratkilometer an ukrainischem Territorium einbringt. An diesem Punkt ist er aber  leider noch lange nicht angelangt.

Der Krieg sei ironischerweise so schwer zu beenden, weil Putin ihn verloren hat, sagt der britische Historiker Lawrence Freedman. Hat er Recht?

Natürlich hat er Recht. Nach Putins ursprünglichem Plan sollte der Krieg nach wenigen Wochen mit der völligen Unterwerfung der Ukraine im vergangenen Frühjahr enden, inklusive Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau am 9. Mai. Niemand gibt gerne zu, dass er verloren hat. Putin wird versuchen, das Gesicht nicht ganz zu verlieren. Man habe die Kriegsziele erreicht, wird irgendwann irgendeiner seiner Claqueure behaupten. Ob die Russen Putin das nach 100 000 Gefallenen oder mehr dauerhaft abnehmen werden? Dann kann es für ihn ans Eingemachte gehen.

Russland kann seine ursprünglichen Kriegsziele nicht erreichen. Der Westen rüstet die Ukraine zum Standhalten auf, aber die Ukraine kann ihre maximalen Ziele, inklusive Rückeroberung der Krim und des Donbass, auch nicht erreichen. Daran dürfte sich so schnell nichts ändern. Was folgt aus Ihrer Sicht aus dem Patt?

Wer ein baldiges Kriegsende erreichen und ein weiteres Ausbluten -– auf beiden Seiten – verhindern will, muss die Ukraine mit Kriegsgerät so ausstatten, dass sie weitere Geländegewinne erzielen und damit die Rückeroberung besetzter Gebiete, erfolgreich durchsetzen kann –, mindestens bis zur Wiederherstellung der Lage vor dem 24. Februar 2022. Die Ukraine braucht mehr Flugabwehr, aber sie braucht auch mehr Panzer. Westliches Zögern wirkt kriegsverlängernd. Insofern ist von der Führungsstärke, die diese Bundesregierung für sich in Anspruch nimmt, noch nicht sehr viel zu sehen. 

Nordkorea liefert Russland Granaten, Iran liefert Drohnen. Die Internationalisierung des Krieges nimmt auch auf Putins Seite zu. Ist dieser Krieg wie ein Perpetuum mobile?

Zum Glück nicht. Die Zahl der Russland-Unterstützer lässt sich ja an einer Hand abzählen. Entscheidend ist, und bleibt dass weder China noch Indien Waffen liefern. Russland ist politisch und geostrategisch weitgehend isoliert. Mit relativ beschränktem Ressourcen-Einsatz hat der Westen der Ukraine dabei geholfen, die russische Militärmaschine um circa die Hälfte zu dezimieren. Wenn das nichts ist! Und  die Sanktionsschlinge zieht sich weiter zu. Das sind keine guten Aussichten für Russland im Jahr 2023.

Präsident Selenskij hat in den USA Eindruck gemacht. Die Medien dort vergleichen ihn mit Churchill, dem imposanten britischen Premier im Zweiten Weltkrieg. Ist Selenskji auch aus Ihrer Sicht ein kleiner Churchill?

Der Vergleich mit Churchill im Jahr 1941, der damals per Schiff nach Amerika reiste, drängt sich geradezu  auf. Auch mit seiner Redegewalt und Kommunikationskunst kann Selenskyi mit dem großen Briten mithalten. Er selber sollte den Vergleich allerdings nicht zu weit treiben, denn erinnern wir uns: Kaum war der Krieg gewonnen, war Churchill seinen Job als Premierminister los! 

Die USA ist der entscheidende Machtfaktor für die Ukraine. Präsident Biden hat jetzt das bodengestützte Raketenabwehrsystem Patriot zugesagt. Sollte Deutschland nachziehen?

Ja, sollten wir. Ich fand es schade, dass die USA und Deutschland die Lieferung mit Patriots nicht als gemeinsames Projekt behandelt haben. So zeigt die Diskussion um die Patriots einmal mehr, warum das Vertrauen in die Entscheidungskraft Deutschlands verbesserungsfähig ist. Selenskij wusste genau, warum er weder nach Brüssel oder gar Berlin reiste, sondern nach Washington. 

Kanzler Olaf Scholz’ Argument war bislang, keine deutschen Waffen im Alleingang. Der Umkehrschluss lautet: Was Amerika liefert, kann auch Deutschland liefern. Ist der nächste Schritt Kampfpanzer wie der Leo 2 für die Ukraine?

Kein Alleingang ist ein gutes Argument. Aber die Ukraine braucht modernere Panzer immer dringender. Die Panzerlieferanten sollten ein Konsortium bilden, damit Alleingänge vermieden werden. 

Bidens schöner Satz an Selenskji lautete: „Ihr seid nicht allein, Ihr werdet nie allein sein.“ Liegt darin eine Selbstverpflichtung, an der Bidens Nachfolger, wer auch immer das sein wird, nicht vorbeikommen wird?

In diese Selbstverpflichtung wird vor allem der US-Kongress eingebunden sein. Das ist für die Ukraine im Jahr 2023 entscheidend. Ein großer Erfolg für Selenskji! Einen Ewigkeitswert hat dieser Satz -–wie alles in der Politik – freilich nicht. 

Welches Duell zeichnet sich nach Ihrer Erfahrung bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2024 ab?

Für Prognosen ist es zu früh! Wir wissen weder, ob Biden nochmal antritt, oder Trump den Platz freiwillig für Ron de Santis, den Gouverneur von Florida, räumen wird.

Glauben Sie, dass Donald Trump eine ernsthafte Chance auf Wiederwahl besitzt?

Nein. Aber seine erneute Kandidatur würde die amerikanische Demokratie innerlich weiter aushöhlen. Ich hoffe, die Republikaner lernen aus der Geschichte mit diesem Präsidenten. 

Kamala Harris als demokratische Kandidatin scheidet aus?

Sie hat bisher wenig beeindruckt. Falls Biden nicht antreten sollte, brauchen die Demokraten die allerstärkste Führungsfigur in ihren Reihen, um gewinnen zu können. Ich habe leise Zweifel, dass Kamala Harris diese Qualitäten hat. 

Wenige Deutsche sind so vertraut mit der Weltpolitik der letzten 50 Jahre wie Sie. Wenn Sie zurück nach vorn schauen – wie viel Optimismus können Sie für sich retten?

Kaum ein Land ist von der Zeitenwende so massiv getroffen und zur Umkehr gezwungen wie Deutschland. Die Energiepolitik muss genauso wie manche der lieb gewonnenen außenpolitischen Dogmen völlig neu konzipiert werden. So viel Krise und Konflikt war selten. Dazu der Krieg mit einer Nuklearmacht mitten in Europa!

Wir warten alle auf die nationale Sicherheitsstrategie, die rechtzeitig zur Münchner Sicherheitskonferenz im Februar vorgestellt werden soll. Aber ich halte es ganz optimistisch mit Friedrich Hölderlin, der in meiner Heimatstadt Nürtingen aufwuchs: „ Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Rainer und sonst kainer

Rainer und sonst kainer ist gestorben, wie schade. Den Spitznamen gaben ihm meine Söhne, als wir Rainer Burchardt in Genf besuchten, wo er als Korrespondent für den NDR arbeitete. Abends setzte er sich ans Bett der Jungs, die damals 10 und 7 waren, und spielte Gutenachtlieder auf der Gitarre. Ich stand in der Tür und schaute zu. Ich sehe die beiden Buben noch vor mir, wie sie beglückt im Bett saßen und ihm mit glänzenden Augen still lauschten. Dafür liebten sie ihn. Er hatte diese Art, in solchen Momenten ganz da zu sein, sich ganz auf sie zu konzentrieren, sehr lässig, sehr ernsthaft.

Als ich im Deutschlandfunk erfuhr, dass er mit 77 Jahren gestorben war, rief ich einen meiner Söhne an und fragte ihn, ob er sich an Rainer erinnere. Natürlich erinnerte er sich an ihn und unseren Besuch in Genf auf dem Rückweg aus dem Skiurlaub in den Trois Vallées. Ein kleiner Moment der Trauer und Andacht für einen klugen, angenehmen Mensch. Stolz war er, ganz bestimmt, und dazu gelassen. Kein einfacher Mensch, sicherlich, aber einer, auf den wir zählen konnten, wir drei.

Rainer war ein Linker innerhalb des damaligen Rasters: hochmoralisch, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, kein Atomkraftwerk in Brokdorf, in der DDR ist nicht alles schlecht und der Kapitalismus muss dringend gebändigt werden. Seine prägenden Jahre erlebte er unter CDU-Regierungen in Kiel. Er gehörte zur Clique um Björn Engholm, der Ikone der schleswig-holsteinischen Sozialdemokratie, und Günther Jansen und Norbert Gansel. Ihr Ahnherr hieß Jochen Steffen, damals dort oben ein angesehener Mann, aufrecht und eine moralische Autorität.

Im Norden waren sie radikaler als die SPD anderswo. Sie waren ja auch zur Opposition verdammt, und es sah nicht danach aus, als würde sich daran so schnell etwas Gravierendes ändern. Dann aber brach der Barschel-Skandal aus, der sich um Schweinkram im Wahlkampf drehte. Uwe Barschel war der Ministerpräsident, der am 11. Oktober 1987 in einer Badewanne im Genfer Hotel sein Leben aushauchte. War es Selbstmord? War es Mord? Alle paar Jahre wird der Fall Barschel wieder durchgespielt und mit neuen Theorien garniert. Nur langsam verliert sich das Interesse an diesem beispiellosen Vorkommnis in der alten Bundesrepublik, zwei Jahre vor der Wiedervereinigung.

Für ein paar Jahre war die SPD hoch im Norden das Nonplusultra. Engholm war der Engel, der bald fiel, anstatt Bundeskanzler zu werden. Aus Rainer, dem leidenschaftlichen Hörfunk-Journalisten, entstand der Sprecher des Bundesvorstandes unter dem Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Später fand er zurück in unser Gewerbe und wurde Chefredakteur des Deutschlandfunks. Was für eine Kombination. der lebenslange Linke, und der Inbegriff des guten, konservativen Rundfunks!

Ich bin noch mal alleine nach Genf gefahren. Von Rainer wollte ich wissen, wie er das gemacht hatte: seinen Sohn alleine zu erziehen und zugleich voll als Korrespondent zu arbeiten. Bei Rotwein saßen wir zusammen und er erzählte mir, wie es gekommen war, dass die Mutter gegangen war und ihm den Kleinen überlassen hatte. Darin war er mir ein Vorbild.

Zu Freunden wurden wir leider nicht. Freunde sehen sich regelmäßig und tauschen sich in der Zeit dazwischen beharrlich aus. Dazu sahen wir uns zu selten; jeder von uns lebte in seiner Welt; mehr Nähe suchten wir nicht. Aber er gehörte zu den Menschen, denen ich mich sofort nahe fühlte, wenn ich sie traf, obwohl ich sie jahrelang nicht gesehen hatte.

Wir drei denken an Dich, Rainer. Für uns warst Du wie kainer.

Vom Blitzkrieg zum Blutbad

In Kürze jährt sich der Überfall auf die Ukraine. Nichts ist so gekommen, wie es sich der große Feldherr im Kreml ausgemalt hat.Wolodymyr Selenskyj ist noch immer Präsident, Kiew eine freie Stadt und das Land, dem Putin jede kulturelle oder politische Eigenständigkeit absprach, erweist sich als Hort nationalen Widerstandes. Gegenüber dem israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett gestand Wladimir Putin ein, dass die Ukraine wehrfähiger ist, als ihm eingeflüstert wurde. Er schickte aber hinterdrein: „Wir sind ein großes Land und haben Geduld.“

Für die nächsten Tage hat der Kreml eine große Rede des Präsidenten angekündigt. Niemand erwartet Friedensschalmeien. Im Gegenteil könnte Russland stärker auf Kriegswirtschaft umschalten oder noch mehr Kanonenfutter an die Front werfen. Alles andere wäre eine Überraschung. Für das Frühjahr bereitet Russland offenbar eine Offensive vor. Der Krieg, das Töten geht weiter, immer weiter.

Wie viele russische Soldaten schon gestorben sind und noch sterben werden, hat keine Auswirkungen auf Putins Gemüt. Seine Generäle misst er daran, ob sie ihre haarsträubenden Fehler, die auf seiner haarsträubenden Fehlern beruhen, wettmachen können. Diktatoren lassen gerne Köpfe rollen, damit der eigene Kopf möglichst fest auf dem Hals sitzen bleibt.

In einer aufwendigen Recherche hat die „New York Times“ die Anfänge des Krieges rund um den 24. Februar recherchiert. Die Reporter kamen in den Besitz geheimer Schlachtpläne, konnten abgefangene Funksprüche und Telefonate auswerten, interviewten russische Soldaten und sprachen auch mit Leuten, denen das Innenleben des Kreml vertraut ist.

Verwundete Soldaten erzählten, dass sie ohne ein Mindestmaß an militärischer Ausbildung in den Krieg ziehen mussten. Sie hätten nicht genug zu essen gehabt, Ausrüstung und Munition seien Mangelware gewesen. Scharfschützen hätten den Gebrauch ihrer Gewehre auf einem Wikipedia-Ausdruck studiert, die Landkarten für den Vormarsch in die Ukraine hätten aus den sechziger Jahren gestammt. Da viele Soldaten per Handy daheim anriefen, war es ein Leichtes sie zu orten. Auch so sind die hohen Verluste der russischen Streitkräfte zu erklären. 

Das Lehrbeispiel ist Syrien. Was sich nicht erobern lässt, wird eben zerstört. Wie viele Soldaten dabei ihr Leben lassen, ist zweitrangig. Angeblich ist Putins Limit 300 000 Tote. Aber wer will schon wissen, wann die Verluste an Menschenleben seine Macht bröckeln lassen?

Den großen Strategen Putin gab Selenskyj schnell nach Kriegsbeginn Rätsel auf. „Was für eine Art Jude ist er?“, fragte er den israelischen Ministerpräsidenten Bennett. „Er macht doch die Nazis dort salonfähig.“ Derart verantwortungslos, derart ahnungslos redet also der Mann, der sich für den Lenin des 21. Jahrhunderts  hält und die Ukraine heim ins Reich holen will.

Ein Blitzkrieg sollte es werden. Ein lang anhaltendes Blutbad ist daraus geworden. Kein demokratischer Kriegsherr könnte sich im Amt halten, wäre er dermaßen seiner Selbstsuggestion erlegen. Nur ein Diktator mit seinem riesigen Manipulationsapparat kann von seinem fundamentalen Versagen ablenken.

Der Krieg sei „ironischerweise so schwer zu beenden, weil Russland ihn verloren hat“, sagt der britische Historiker Lawrence Freedman in einem Interview. So ist es. Mit Putin gibt es keinen Frieden, lautet die Schlussfolgerung. Und ohne Putin?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Was zum Lesen: Putins Krieg

From The New York Times:

Putin’s War: The Inside Story of a Catastrophe

Secret battle plans, intercepted communications and Russian soldiers explain how a “walk in the park” became a catastrophe for Russia.

https://www.nytimes.com/interactive/2022/12/16/world/europe/russia-putin-war-failures-ukraine.html?smid=em-share

Ein Herz für den ganzen Erdkreis

Soeben habe ich ein dickes Buch zu Ende gelesen, unglaublich verdienstvoll, unglaublich ausführlich. Darin steht die Biographie einer Frau, die mir bis dahin unbekannt gewesen war: Simone Weil, Französin, Philosophin, Aktivistin, Asketin und eine Heilige in einer unheiligen Zeit. Zeitgenossin von Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre und Hannah Arendt.

Insbesondere Simone de Beauvoir bewunderte sie für ihre Fähigkeit, Anteil an den Menschen und Ereignissen jener Tage zu nehmen – sie persönlich zu verstehen, auf sich zu beziehen. In ihrer Autobiographie schreibt sie: „Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, dass sie bei dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen war. Diese Tränen nötigten mir noch mehr Achtung ab als ihre Begabung in Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für einen ganzen Erdkreis zu schlagen.“

Dagegen waren Beauvoir wie Sartre gleichzeitig damit beschäftigt, die Welt auf Abstand zu halten. Die Menschen um sie herum erschienen ihnen belanglos. Sie waren „die anderen“, die sie am Café Flore vorbei eilen sahen, ein Gewimmel aus Menschen, die sich voneinander nicht unterschieden und folglich vernachlässigbar blieben.

Simone Weil besuchte die gleichen Schulen wie Beauvoir und Sartre, suchte aber keine Gemeinschaft. Ein Freund allein blieb ihr aus dieser Phase ihres Lebens: Maurice Schumann, zwei Jahre älter, nach dem Krieg Außenminister und Initiator der deutsch-französischen Versöhnung. Beim Begräbnis Simone Weil im Jahr 1943 gehörte er zu den wenigen Trauergästen.

Wie Sartre/Beauvoir ging Simone Weil in die französische Provinz als Philosophielehrerin. Während die andere Simone aber aus den Schülerinnen Liebhaberinnen für sich und Sartre rekrutierte, war die heilige Simone an ihrem Äußeren desinteressiert und offenbar eher asexuell. In ihrer Freizeit widmete sie sich der linken Gewerkschaftsbewegung und zwar ihrem anarcho-syndikalistischem Zweig. Wer darüber etwas wissen will oder gar über die Linke Frankreichs in den Jahren vor der Volksfrontregierung Blum, erfährt vieles aus dieser Biographie, die ihre Freundin Simone (noch eine Simone!) Pétrement schrieb.

Simone Weil imponiert mir aus zwei Gründen: wegen ihrer Hellsicht und ihrer inneren Unabhängigkeit. Ihre Hellsicht beweist sie zum Beispiel, als sie im Sommer 1932 einige Wochen in Deutschland verbringt. Sie sagt präzise voraus, was Hitler, der erst ein halbes Jahr später Reichskanzler werden darf, für Deutschland und Europa bedeutet. Dazu schätzt sie richtig ein, dass die deutsche Linke aus SPD und KPD sich gegenseitig zerfleischen wird, anstatt gemeinsam gegen die Rechte anzutreten.

Im Herbst 1933 geht Jean-Paul Sartre für ein Jahr als Stipendiat nach Berlin. Er liest Heidegger, Husserl und Kafka und widmet sich mehr noch zahllosen Amouren, wie er Simone de Beauvoir ausführlich mitteilt. Die Politik interessiert ihn wenig. Nun ist Hitler Reichskanzler geworden, den Reichstagsbrand nutzt er zur Vertreibung und Verfolgung der Linken. Wer sehen kann, sieht, was sich hier abspielt. Sartre aber betrachtet die Nazis als schnell vorübergehenden Spuk – als Inbegriff der anderen, die er verachtet.

Simone Weil ist für mich der Inbegriff geistiger Unabhängigkeit. Die faszinierende Klarheit, mit der sie den Krieg kommen sieht, leitet sie aus der „Ilias“ ab, dem großen antiken Text. Sie gehört zu den allerersten Denkern, denen die Ähnlichkeit von Kommunismus und Faschismus auffällt. Die drei Jahre ältere Hannah Arendt entwickelt daraus nach dem Krieg ihre Totalitarismus-Theorie. Zur Hellsicht geistiger Unabhängigkeit gehört auch, dass Simone Weil schon vor dem Krieg die gemeinsame Illusion von Kommunismus und Kapitalismus entdeckt: Beide glauben an das unendliche Wachstum der Wirtschaft, wobei aber doch die irdischen Ressourcen erkennbar endlich sind. Also liegen beide Denkweisen falsch, leiden beide an einem fundamentalen Irrtum. Diese Einsicht gewinnt Simone Weil am Ende der dreißiger Jahre! Da kann ich nur den Hut sehr tief ziehen.

Während sich Sartre in „Das Sein und das Nichts“ an Heidegger abarbeitet und Simone de Beauvoir (sie ist ein Jahr älter als Weil) langsam den Mitmenschen, den anderen, Bedeutung zumisst, stürzt sich Simone Weil ins Leben ihrer Zeit. Sie verdingt sich als Fabrikarbeiterin, wozu sie keinesfalls geeignet ist. Sie ist sich natürlich ihres Mangels an Alltagsfertigkeiten bewusst, aber ihre eiserne Disziplin hält sie bis zur völligen Erschöpfung durch. Sie gibt Kurse für Arbeiter, nimmt an Streiks und Demonstrationen teil. Sie reist von einem Gewerkschaftskongress zum nächsten, sucht Anschluss an lokale Gewerkschaftsgrößen rund um die Schulen, an denen sie Philosophie und Griechisch lehrt. Sie behält sich von ihrem Gehalt nur den Lohn einer Arbeiterin und spendet den Rest an die Gewerkschaftskasse. Bald geht sie weit darüberhinaus und reist nach Spanien, um im Bürgerkrieg den Aufständischen beizustehen. Sie verlangt nach einem Gewehr, aber erstens ist sie sehr kurzsichtig und zweitens grotesk ungeeignet für den Alltag, geschweige denn für die Teilnahme am Krieg.

Das Besondere an Simone Weil ist ihre Selbstaufzehrung in der Zeitgenossenschaft, ihre vita activa. So einfühlsam und nachsichtig, wie sie mit den Arbeitern in der Fabrik oder den anderen Helfern bei der Weinlese sein kann, so rücksichtslos ist sie sich selbst gegenüber. Eine kleine Person mit einem großen Herzen und einer Neigung zur Selbstzerstörung. Sie ißt zu wenig, heizt im kältesten Winter ihre kleinen, unwirtlichen Wohnungen nicht. Damit macht sie sich zu einem exemplarischen Fall eines Kindes aus großbürgerlichem Haus, das sich für ihre Privilegien bestraft, indem sie sich auf eine Stufe mit einer unterprivilegierten Arbeiterin stellt. Die Geschichte der europäischen Linken kennt ja viele Intellektuelle, die ihre Klasse nach dem Ersten Weltkrieg vorübergehend oder dauerhaft negierten, um sich der Revolution anzuschließen, von der ungarischen Räterepublik (Georg von Lukács, Bankierssohn aus Budapest) bis zur Münchner Räterepublik (Erich Toller, Erich Mühsam, Ernst Niekisch) bis zur Unterstützung der 1917 gegründeten kommunistischen Sowjetunion (André Gide, Sartre, André Malraux unter vielen anderen).

Simone Weil arbeitete dort, wo das Leben konkret ist: bei den einfachen Leuten, bei den Arbeitern, in der Gewerkschaftsbewegung. Der Glaube an die Revolution kam ihr abhanden; dagegen sprach die Empirie. Die Volksfrontregierung unter Léon Blum scheiterte nach kurzer Blütezeit. An ihrer persönlichen Askese änderten die Enttäuschungen nichts. Ihre Radikalität wandte sich auch immer gegen sich selbst.

Dazu kam, dass sie viele Jahre lang unter furchtbaren Kopfschmerzen litt. Nichts blieb unversucht, um die Gründe für die Tortur zu finden. Ihre Eltern, stets besorgt um ihre Tochter, so wenig geeignet für das, was sie sich vornahm, reisten mit ihr in die Städte, in die sie das Bildungsministerium als Philosophielehrerin entsandte, richtete ihre Wohnung ein, füllten die Vorräte auf – bemühten sich um die Lebenserleichterung, mit der sie an ihrer Tochter mal um mal scheiterten. Der ältere Bruder André, ein mathematisches Genie, machte Karriere und ging so durch das Leben, wie es einem Kind aus dem Großbürgertum eben möglich war. Nicht die unerträgliche Leichtigkeit war Simone Weils Elixier, sondern die unerträgliche Schwere.

Es müssen die Kopfschmerzen gewesen sein, die zur verblüffenden Wende in diesem Leben führte. Sie marterten sie, die Ärzten untersuchten sie auf Tumor, fanden aber nichts. Der Dauerschmerz linderte sich aber in bestimmten Augenblicken und an bestimmten Orten. Bei Orgelmusik in einer Kirche, unter dem Einfluss gregorianischer Gesänge, in einer Abtei fand sie Ablenkung und erlebte Epiphanien. Das Mildern verstand sie als Erscheinung Gottes in ihrem Dasein. Ihr Leiden erschien ihr als Ausdruck des Leidens des Gottessohnes Jesus Christus. Was ihr die Philosophie, deren Verstandestätigkeit sie verpflichtet war, notwendig verwehrte, die Integration des Gottesbegriffs, erlaubte ihr das Leben.

Über die Epiphanien schrieb sie: „In meinen Überlegungen über die Unlösbarkeit des Gottesproblems hatte ich diese Möglichkeit nicht vorausgesehen: die einer wirklichen Berührung von Person zu Person hienieden, zwischen dem menschlichen Wesen und Gott. Ich hatte wohl unbestimmt von dergleichen reden gehört, aber ich hatte es niemals geglaubt.“

Theologisch lehnte sie den erbarmungslosen Gott des Alten Testaments und die Übernahme des Christentums durch Rom ab. Sie versuchte sich darin, das antike Streben nach Selbsterkenntnis mit dem Neuen Testament in Einklang zu bringen. So wurde sie katholisch ohne Aufnahme in die katholische Kirche, mit der sie geschichtlich die Inquisition und die Religionskriege verband. Von Geburt war sie Jüdin und die Bedeutung dieses Umstandes machten ihr die Nazis nach der Eroberung Frankreichs im Jahr 1940 klar.

Rechtzeitig floh die Familie Weil nach Amerika, wohin sich der große Bruder André schon durchgeschlagen hatte. Simone aber blieb nicht in New York. Unbedingt wollte sie nach England und dort unter der Exilregierung unter Charles de Gaulle dienen. Dafür hatte sie genaue Vorstellungen: Sie wollte mit dem Fallschirm hinter den Linien abspringen, dem französischen Widerstand beitreten und Deutsche töten.

Nach England kam sie 1942. Mit ihren Ideen konnte sie niemanden überzeugen. Fürs Tun war sie ungeeignet, fürs Denken bestens geeignet. Also setzte man sie daran, eine Verfassung für das befreite Frankreich auszuarbeiten.

Mit 34 Jahren starb sie. Die Selbstzerstörung durch Askese war letztlich erfolgreich. Sie zog sich Tuberkulose zu, die eigentlich nach Ansicht ihrer Ärzte kurierbar war – sofern sie sich gut ernährte. Nichts lag ihr ferner. Sich selber Gutes zu tun, erschien ihr frevelhaft. Es muss ihr tiefer Wunsch gewesen sein, sich nicht zu retten. Sie aß immer weniger, trank zu wenig. Von London ließ sich in ein Sanatorium in Ashford verlegen. Am 30. August 1943 fand ihr Begräbnis statt. Der treue Maurice Schumann hatte sie auf dem Sterbebett besucht und stand nun mit einer Londoner Vermieterin, bei der Simone Weil gewohnt hatte, am Grab. Der Pfarrer hatte den Zug verpasst.

Was für eine Frau. Das Unbedingte war ihr gemäß. Was ihr zufiel, das Denken, achtete sie nicht in dem Maße, wie es ihr gut getan hätte. Unbedingt wollte sie, was ihr nicht gegeben war. Der Ruhm ergab sich später. Albert Camus bezeichnete Simone Weil als „den einzigen großen Geist unserer Zeit.“ T.S. Elliot bewunderte sie.

Vier Jahre nach ihrem Tod veröffentlichte ein Freund ihre Essays, Gedichte, Briefe und Fabrik-Tagebücher. Sie hatte ihm den Papierberg in einer Aktentasche auf dem Bahnhof von Marseille übergeben, nicht wissend, ob sie überleben würde.

p.s. Ich muss noch erwähnen, wie ich auf Simone Weil gestoßen bin: Im wunderbaren Buch „Feuer der Freiheit“ von Wolfram Eilenberger, das mich zum Weiterlesen animierte – was lässt sich Besseres über ein Buch sagen?

Helden unserer Zeit

Das Regime in Teheran schafft die Sittenpolizei ab. Das ist eine gute Nachricht, ein bemerkenswerter Erfolg der zumeist jungen Leute, die seit vielen Wochen in vielen iranischen Städten demonstrieren. Es ist aber leider auch eine Nachricht ohne größeres Gewicht, denn daraus folgt keineswegs, dass die gesetzlich vorgeschriebene Verhüllung der weiblichen Körper durch einen langen Mantel und ein Haare bergendes Kopftuch aufgehoben wäre. Das Entscheidende ändert sich nicht. Noch nicht?

Also werden sie weiterhin ihr Leben in die Waagschale werfen, denn jederzeit können sie verprügelt und getötet werden. Wie Jina Mahsa Amini, die junge kurdische Frau, deren Tod zum Auslöser der größten Unruhen seit Jahrzehnten wurde. Wie rund 470 Demonstranten, die seither starben.

Was muss passieren, dass Frauen auf die Straße gehen, ohne zu wissen, ob sie wieder nach Hause kommen oder von Handlangern der Mullahs aufgegriffen werden oder ob sie gar eine Kugel trifft, wahllos in die Menge abgefeuert? Die Zukunft muss ihnen schal vorkommen, als eine Fortsetzung der Kontrolle, der Entmündigung, unter denen sie in der Gegenwart leiden. Und was ist das für eine erbärmliche Religion, die auf der Diskriminierung von Frauen fusst?

In China hat die Ein-Parteien-Diktatur einigen Städten erlaubt, Einkaufszentren, Märkte und Restaurants zu öffnen. Mit der U-Bahn darf man jetzt ohne Vorlage eines negativen Tests fahren. Medikamente gegen Fieber oder Halsschmerzen kann man ohne Registrierung kaufen. Auch dieses Regime reagiert hastig auf die Demonstranten mit dem hoch gehaltenen weißen Papier. Xi Jinping und seine Handlanger haben Angst vor dem Volk, das ihm gerade die Botschaft zukommen lässt: zu viel ist zu viel.

Die Zugeständnisse fallen halbherzig aus; trotzdem mögen die Demonstrationen abflauen. Aber die Erkenntnis bleibt, dass die Allmacht der Staats- und Regierungspartei auf Dauer nur eine Illusion ist.

Diktaturen werden sehr nervös, wenn sich die Straßen mit protestierenden Menschen füllen. Konkrete Vorwürfe an das Regime schlagen erfahrungsgemäß rasch in Forderungen nach grundlegenden Reformen um. Zunächst schickt das Regime seine prügelnden Bataillone. Lassen sich die Menschen nicht einschüchtern, gibt es eben Tote. Lassen sie sich dennoch nicht einschüchtern, gibt es noch mehr Tote.

In China ist eine Wiederkehr des Tian’anmen der Alptraum Xi Jinpings. Im Juni 1989 richtete die Armee ein Massaker unter den Studenten an, die mit Verweis auf Michail Gorbatschow nach Reformen verlangt hatten. 200 Menschen starben damals, 3000 verletzten sich. Der Wunsch der KP nach totaler Kontrolle über ihr Volk ist eine Folge von 1989. 

Das theokratische System in Iran ist aus riesigen Demonstrationen hervorgegangen, denen der Schah, der Machthaber jener Tage, im Jahr 1979 weichen musste. Ajatollah Khomeini reiste aus dem Pariser Exil an und riss alle Macht an sich. Aus diesem Grund nehmen seine Nachfolger jegliche Menschenansammlung auf Straßen und Dächern blutig ernst.

Die Menschen in Iran und in China sind die Helden unserer Zeit, die wir nur bewundern können. Sie sehnen sich nach der Freiheit, die wir für selbstverständlich halten. Selbst wenn sie am Ende scheitern sollten oder vorher aufgeben, war es ihnen wohl den Versuch wert. Diktaturen werden ratlos, wenn die Demonstrationen weitergehen. Diktaturen können scheitern, wie das Beispiel der Sowjetunion zeigt. 

Die Zeitenwende im Jahr 1989 hatte niemand vorhergesehen. Das lag an der Konzentration der westlichen Regierungen und Geheimdienste auf den östlichen Machthabern und an der Missachtung der Opposition. Daraus lässt sich lernen, dass unsere Regierungen von heute achtsam sein und die Gesellschaften anderswo  im Auge behalten sollten. Diktaturen sind nur an der Oberfläche stabil. Sie können implodieren oder explodieren, sobald die Zeit reif ist.

Die Geschichte dreht sich nicht nur um Wirtschaft und Macht. Den Menschen sind Freiheit und Mündigkeit wichtig. Worauf unsere Demokratien gründen, das wünschen sie sich offenbar in Xinjiang und Teheran. Was für ein schöner Gedanke, der daraus folgt: Auf lange Sicht sind Demokratien eben doch Diktaturen überlegen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Lasst uns auf die Frauen hoffen

Ich hatte mir die Europameisterschaft der Frauen angeschaut und war wirklich sehr angetan und mehr noch: begeistert von der deutschen Mannschaft. Kampfkraft und Technik. Mut und Willensstärke. Stürmende Außenverteidigerinnen, die konsequent verteidigten. Durchsetzungsstarke Mittelstürmerin. Pech im Endspiel, aber mit hoch erhobenem Haupt verloren.

Damals schrieb ich, Kimmich könne sich einiges von Lena Oberdorf abschauen. Im Nachhinein würde ich empfehlen, dass sich die gesamte Mannschaft und der Trainerstab vieles abschauen sollten, was die Frauen richtig machen und die Männer falsch. Die Enttäuschung von heute entspricht der hohen Anerkennung von damals.

Kimmich: hoher Anspruch, nicht eingelöst. Neuer: ein Schatten seiner selbst, 4 von 5 Toren hätte jemand mit seinem Anspruch halten müssen. Dass Müller seine Zeit hinter sich hat, sahen Millionen Zuschauer, nur der Bundestrainer nicht. Dass Gündogan die Schaltfigur im Mittelfeld war, gefiel den Zuschauern, aber hielt den Bundestrainer nicht davon ab, ihn stets auszuwechseln, damit die gegnerische Mannschaft Tore schießen konnte. Ich habe Flick in diesem Turnier selten verstanden.

Er wandte das Erfolgskonzept aus seiner Bayern-Zeit an und stellte so viele Bayern wie möglich auf. Bei Bayern hatten Gnabry, Sané, Müller und Musiala aber Lewandowski vor sich und Müller war mal vieles, aber nie ein Lewandowski. Immerhin sah Flick ein, dass Füllkrug die Intuition eines Tore-Garanten besitzt und nahm ihn mit. Warum er ihn gegen Costa Rica nicht von Anfang an einsetzte, bleibt sein Geheimnis.

Deutschland hat nicht wie Bayern München gespielt, sondern wie Borussia Dortmund. Dortmund ist auch so eine Mannschaft mit Talent und einem Mangel an Willenskraft. Deshalb steht der BVB in der Bundesliga dort, wo er steht. Deshalb ist Deutschland allenfalls Mittelmaß. Süle ist die Inkarnation der Trägheit hier wie dort. Mächtiger Körper, zittriges Gemüt, Hang zu Fehlern. Luftloch im eigenen Strafraum gegen Costa Rica! Oder Schlotterbeck: hier wie dort eine sichere Bank für schwache Gegenwehr.

In der spanischen Mannschaft spielen Spieler, die im Verein nicht unbedingt erste Wahl sind, eine herausragende Rolle. Olmo, in Leipzig meist von der Bank: Spielmacher. Asensio: bei Real zweite Wahl, in der Nationalmannschaft gesetzt. Was sieht Luis Enrique, was Hans-Dieter Flick nicht sieht? Offenbar das Entscheidende. Was lernt man daraus? Eine Mannschaft muss ein inneres Gefüge haben, das ihr Stabilität verleiht. Nicht eine Ansammlung der besten Spieler ist automatisch eine gute Mannschaft. Nicht die Spieler mit dem größten Anspruch lösen zuverlässig die hohen Erwartungen ein. Eine Mannschaft ist ein Mosaik, dessen Schlußstein ein eher unscheinbarer Spieler sein kann. Kanté bei Frankreich ist so einer; er ist verletzt und sein Fehlen wird sich noch bemerkbar machen. Choupo-Moting aktuell bei Bayern. Harry Maguire bei England. Schwarzenbeck früher in der deutschen Nationalmannschaft.

Mal schau’n, welche Konsequenzen der DFB ziehen wird. Wahrscheinlich lösen sie Bierhoff ab, damit wenigstens einer geht, der aber nicht Flick heißen darf. Es gibt da ja eine Tradition, siehe Löw. In anderthalb Jahren ist Europameisterschaft. Viel Glück.

Die Frauen spielen im nächsten Jahr ihre Weltmeisterschaft aus. Ich bin gespannt, ich freue mich darauf, ich halte Lena Oberdorf und Merle Frohms und den anderen ganz fest die Daumen. Sie werden uns nicht enttäuschen.

Was für ein Glück, dass es ihn für uns gab

Hans Magnus Enzensberger war Augenzeuge und Chronist. Mittäter und Aufschreiber. Er war Dichter und Schriftsteller, Zeitungsgründer und Übersetzer. Er war so vieles, dass es für viele Leben gereicht hätte. Und wenn andere unter der Mannigfaltigkeit ihrer Talente l, weil sie sich entscheiden mussten und und die Wahl so oder so falsch zu sein schien: Er hatte diese Anwandlungen nicht. Er häutete sich, er war mal dies und jenes und manches zugleich, und da immer exzellent ausfiel, was seine Hände verließ, war er vielleicht sogar ein fröhlicher Mensch, jedenfalls erweckte er diesen Endruck. Fröhlich vermutlich besonders dann, wenn er mal wieder schneller um die nächste Ecke zog, als seine Freunde und Gegner schauen konnten, und sie damit derart verblüffte, dass sie ihm Untreue an der gemeinsamen Sache vorwarfen. 

Dabei teilte er die Irrtümer seiner Generation, das schon, aber eben auf hohem Niveau. Kuba erschien ihm als interessantes Experiment und wie manch anderer blieb ihm Amerika lange ein ferner Kontinent. Er sympathisierte mit den 68ern, hielt sie jedoch auf Abstand, wie er vieles auf Abstand hielt, womit sich seine Generation ein Leben lang gemein machte, aus falsch verstandener Treue. In dieser Zeit gründete er das „Kursbuch“, das er zum Seismographen der Bundesrepublik machte. Kurz darauf rief er TransAtlantik ins Leben, ein Kulturmagazin, gemeinsam mit Gaston Salvatore, einem chilenischen Schriftsteller, der selbstverständlich links war.

Enzensberger gründete, legte mit Gedichten und Essays das Fundament und zog dann weiter. Aufhalten, Stehenbleiben, Stagnieren war nicht sein Existenzmodus. Stets unterwegs, war er beseelt von einer unversiegbaren Neugierde. Von Bob Dylan gibt es ein Lied auf seiner letzten CD, das „I contain multitudes“ heißt. Hans Magnus Enzensberger barg in sich Mannigfaltigkeit und ihm war es vergönnt, sie in seinem langen Leben beispielhaft zur Geltung zu bringen.

Wessen Gemüt so disponiert ist, neigt zwangsläufig zur Unzuverlässlichkeit. Nicht literarisch, nicht was die Qualität anbelangte, wohl aber politisch. Eigentümlichen Ruhm erlangte er zum Beispiel mit seinem Lob aufs Durchwurschteln, das er an einer besonderen Persönlichkeit exemplifizierte: an Helmut Kohl. Er fand, die Deutschen hätten in ihrer Geschichte im Übermaß die Dinge zu einem Ende gebracht. Er war eben Jahrgang 1929,  war alt genug, so dass sich ihm der Wahnsinn Hitlers ins Gedächtnis einbrannte. Und so sah er Kohl, die „Birne“, den Provinzler, der Intellektuelle verachtete, völlig anders als seine Bewunderer in der „Zeit“ oder im „Spiegel“, die fassungslos auf der Strecke blieben.

Weit vor dem Ende der bipolaren Welt reiste er für die „Zeit“ durch Europa, nicht durch die üblichen Zentren, sondern an die Ränder. Daraus entstand „Ach, Europa“, erst eine Zeitungsserie und danach ein Buch. Was sah er? Ein Europa der Wünsche, das die Zukunft noch nicht hinter sich hat. Was andere Treulosigkeit nannten, war in Wahrheit Unbestechlichkeit.

Auch im Alter sah noch der Junge aus ihm heraus, der mit Spiel und Ernst jonglierte. Er schrieb fabelhaft, er dichtete fabelhaft, er war der ultimative Intellektuelle, der das Leben als unaufhörlichen Prozess betrachtete, dem sich das Verstehen zu fügen hatte. Dabei wirkte leicht und locker, was er öffentlich sagte und schrieb. Je älter er wurde, desto lässiger wirkte er. Von Walter Benjamin stammt der Satz, man müsse immer radikal sein, aber besser nicht konsequent. Eine schöne Lebensmaxime, die Enzensberger maximal erfüllte.

Ich mochte seine Gedichte. Immer war ich neugierig, was jetzt er wohl wieder zu sagen hatte. Ich staunte über „Hammerstein oder: Der Eigensinn“, ein Buch über einen deutschen General mit Karriere in der Reichswehr, der 1934 zum Rücktritt gezwungen wird, weil er Hitler verabscheute. Enzensberger erforscht ihn in fiktiven Gesprächen. Er überraschte eben immer, weil er sich jederzeit überraschen ließ. 

Hans Magnus Enzensberger war mein Leben lang da. Ich zählte auf ihn. Ich mochte seine Treulosigkeit. Ich habe ihn ein paar Mal getroffen, aber das ist länger her. So jemand darf eigentlich nicht sterben, sein Tod ist unfair. Und doch was für ein Glück, dass es so einen Menschen für uns gab.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.