Es waren einmal zwei gottesfromme Brüder aus Marktl am Inn, die ihr Leben der Heiligen Kirche widmen wollten. Sie stammten aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Gendarmeriemeister, die Mutter Köchin. Ihre beiden Söhne waren ehrgeizig und intelligent und strebten hienieden andere geistige Sphären an.
Der große Tag zur Einkehr beim Herrn ereignete sich am 29. Juni des Jahres 1951. Auf einem ikonischen Foto sind sie im Chorhemd zu sehen, einem weißen Leinengewand mit weitem Ärmel. Im Freisinger Dom werden die Brüder Georg und Joseph Ratzinger zu Priestern geweiht. Georg ist 27, Joseph 24. Aus Georg wird der Domkapellmeister und Leiter der Regensburger Domspatzen, aus Joseph ein Großintellektueller und Apologet der katholischen Kirche und schließlich im Jahr 2005 ein Überraschungspapst. „Wir sind Papst“, lautete die vielleicht genialste aller „Bild“-Schlagzeilen.
Ja, irgendwie waren auch wir stolz auf ihn, wir Kulturprotestanten, die von je her ein gespaltenes Verhältnis zur uralten Kirche der Katholiken hatten. Die Schönheit der Gotteshäuser. Die herrlichen gregorianischen Gesänge. Einerseits. Und andererseits die Inquisition. Die Weihe für die Konquistadoren, die eine Rechtfertigung für die Ausrottung indigener Völker brauchten. Und dann diese ungeheure Heuchelei, der Martin Luther mit seiner Abspaltung ein Ende machen wollte.
Man stelle sich vor, die katholische Kirche wäre dem Rebellen im 16. Jahrhundert gefolgt und hätte es seinen Priestern erlaubt zu heiraten. Wie vielen Jungen und Mädchen, Frauen und Männern wäre diese Orgie der Misshandlungen, Vergewaltigungen und Schädigungen für ein ganzes Leben erspart geblieben. Wie human wäre diese Reform gewesen.
Denn sie gingen ja einher, das Papsttum Benedikt XVI., und die erschütternde Erhellung der dunkelsten Seite des Katholizismus, die vermutlich ebenso lange schon währt wie die Institution selber. Ihr ging es um den Schutz vor Aufklärung und so bewahrte sie ihre schwarzen Schafe so lange wie möglich vor strafrechtlicher Verfolgung. Nur zu oft wurden Serientäter von einem Bistum in ein anderes Bistum versetzt. Nicht die Opfer lagen der Kirche am Herzen, sondern ihre kriminellen Brüder im Ornat.
Es wäre schön, wenn die Gebrüder Ratzinger ganz anders gewesen wären. Georg warf mit Notenständern um sich, wenn die Domspatzen ihm missfielen, verteilte auch Ohrfeigen, wie er zugab. Ein Milieu aus Angst und Gewalt für die armen Kinder. Ein Sonderermittler bescheinigte Ratzinger persönlich Nettigkeit und Milde jenseits der Proben, immerhin. Für Sadismus und sexuelle Übergriffe waren andere Seelsorger in Regensburg verantwortlich. Die rund 400 Opfer, die nach vorne getreten waren, wurden finanziell entschädigt.
Joseph konnte sich zuerst nicht und dann doch an vier Fälle des Missbrauchs erinnern, als er Kardinal von München und Freising gewesen war. In seiner sentimental angehauchten Stellungnahme sprach er viel von seiner Scham und seinem Schmerz, bevor er eher beiläufig die lebenslange Versündigung an den Missbrauchten erwähnte.
Joseph war in seinen jüngeren Jahren ein progressiver Geistlicher gewesen. Als er aus München nach Rom wechselte, war davon nicht mehr viel zu bemerken. Selten ist die katholische Kirche intellektuell und geistig ähnlich elaboriert verteidigt worden als von ihm. Johannes Paul II., der polnische Papst, war eher ein Gemütsmensch gewesen, der aus politischen Gründen gewählt worden war und politisch wirkte, weil die Zeit politisch war: 1978 wurde er gewählt, als in Polen eine ernsthafte Alternative zum Kommunismus entstand. Er amtierte bis 2005, enorm lange, unter ihm triumphierte der Katholizismus tatsächlich über den Kommunismus.
Benedikt war die Alternative. Klug. Institutionentreu. Statusbewusst. Reformfeindlich. Immerhin siechte er im Amt nicht so dahin wie sein Vorgänger, der am Ende ein ebenso bemitleidenswertes wie jämmerliches Zerrbild seiner selbst war. Benedikt XVI. trat 2013 zurück, zog sich zurück und schaute aus der Ferne dazu, wie sich sein Nachfolger Franziskus um eine maßvolle innere Korrektur der halsstarrigen, uneinsichtigen, eiskalten, zynischen Kirche bemühte und damit stecken blieb, was sonst.
Nun ist er tot, der Bub aus Marktl, unser Papst. Zu gerne wüsste man, ob er, der Intellektuelle, an eine Auferstehung im Jenseits glaubte.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.