Helden unserer Zeit

Das Regime in Teheran schafft die Sittenpolizei ab. Das ist eine gute Nachricht, ein bemerkenswerter Erfolg der zumeist jungen Leute, die seit vielen Wochen in vielen iranischen Städten demonstrieren. Es ist aber leider auch eine Nachricht ohne größeres Gewicht, denn daraus folgt keineswegs, dass die gesetzlich vorgeschriebene Verhüllung der weiblichen Körper durch einen langen Mantel und ein Haare bergendes Kopftuch aufgehoben wäre. Das Entscheidende ändert sich nicht. Noch nicht?

Also werden sie weiterhin ihr Leben in die Waagschale werfen, denn jederzeit können sie verprügelt und getötet werden. Wie Jina Mahsa Amini, die junge kurdische Frau, deren Tod zum Auslöser der größten Unruhen seit Jahrzehnten wurde. Wie rund 470 Demonstranten, die seither starben.

Was muss passieren, dass Frauen auf die Straße gehen, ohne zu wissen, ob sie wieder nach Hause kommen oder von Handlangern der Mullahs aufgegriffen werden oder ob sie gar eine Kugel trifft, wahllos in die Menge abgefeuert? Die Zukunft muss ihnen schal vorkommen, als eine Fortsetzung der Kontrolle, der Entmündigung, unter denen sie in der Gegenwart leiden. Und was ist das für eine erbärmliche Religion, die auf der Diskriminierung von Frauen fusst?

In China hat die Ein-Parteien-Diktatur einigen Städten erlaubt, Einkaufszentren, Märkte und Restaurants zu öffnen. Mit der U-Bahn darf man jetzt ohne Vorlage eines negativen Tests fahren. Medikamente gegen Fieber oder Halsschmerzen kann man ohne Registrierung kaufen. Auch dieses Regime reagiert hastig auf die Demonstranten mit dem hoch gehaltenen weißen Papier. Xi Jinping und seine Handlanger haben Angst vor dem Volk, das ihm gerade die Botschaft zukommen lässt: zu viel ist zu viel.

Die Zugeständnisse fallen halbherzig aus; trotzdem mögen die Demonstrationen abflauen. Aber die Erkenntnis bleibt, dass die Allmacht der Staats- und Regierungspartei auf Dauer nur eine Illusion ist.

Diktaturen werden sehr nervös, wenn sich die Straßen mit protestierenden Menschen füllen. Konkrete Vorwürfe an das Regime schlagen erfahrungsgemäß rasch in Forderungen nach grundlegenden Reformen um. Zunächst schickt das Regime seine prügelnden Bataillone. Lassen sich die Menschen nicht einschüchtern, gibt es eben Tote. Lassen sie sich dennoch nicht einschüchtern, gibt es noch mehr Tote.

In China ist eine Wiederkehr des Tian’anmen der Alptraum Xi Jinpings. Im Juni 1989 richtete die Armee ein Massaker unter den Studenten an, die mit Verweis auf Michail Gorbatschow nach Reformen verlangt hatten. 200 Menschen starben damals, 3000 verletzten sich. Der Wunsch der KP nach totaler Kontrolle über ihr Volk ist eine Folge von 1989. 

Das theokratische System in Iran ist aus riesigen Demonstrationen hervorgegangen, denen der Schah, der Machthaber jener Tage, im Jahr 1979 weichen musste. Ajatollah Khomeini reiste aus dem Pariser Exil an und riss alle Macht an sich. Aus diesem Grund nehmen seine Nachfolger jegliche Menschenansammlung auf Straßen und Dächern blutig ernst.

Die Menschen in Iran und in China sind die Helden unserer Zeit, die wir nur bewundern können. Sie sehnen sich nach der Freiheit, die wir für selbstverständlich halten. Selbst wenn sie am Ende scheitern sollten oder vorher aufgeben, war es ihnen wohl den Versuch wert. Diktaturen werden ratlos, wenn die Demonstrationen weitergehen. Diktaturen können scheitern, wie das Beispiel der Sowjetunion zeigt. 

Die Zeitenwende im Jahr 1989 hatte niemand vorhergesehen. Das lag an der Konzentration der westlichen Regierungen und Geheimdienste auf den östlichen Machthabern und an der Missachtung der Opposition. Daraus lässt sich lernen, dass unsere Regierungen von heute achtsam sein und die Gesellschaften anderswo  im Auge behalten sollten. Diktaturen sind nur an der Oberfläche stabil. Sie können implodieren oder explodieren, sobald die Zeit reif ist.

Die Geschichte dreht sich nicht nur um Wirtschaft und Macht. Den Menschen sind Freiheit und Mündigkeit wichtig. Worauf unsere Demokratien gründen, das wünschen sie sich offenbar in Xinjiang und Teheran. Was für ein schöner Gedanke, der daraus folgt: Auf lange Sicht sind Demokratien eben doch Diktaturen überlegen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.