Soeben habe ich ein dickes Buch zu Ende gelesen, unglaublich verdienstvoll, unglaublich ausführlich. Darin steht die Biographie einer Frau, die mir bis dahin unbekannt gewesen war: Simone Weil, Französin, Philosophin, Aktivistin, Asketin und eine Heilige in einer unheiligen Zeit. Zeitgenossin von Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre und Hannah Arendt.
Insbesondere Simone de Beauvoir bewunderte sie für ihre Fähigkeit, Anteil an den Menschen und Ereignissen jener Tage zu nehmen – sie persönlich zu verstehen, auf sich zu beziehen. In ihrer Autobiographie schreibt sie: „Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, dass sie bei dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen war. Diese Tränen nötigten mir noch mehr Achtung ab als ihre Begabung in Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für einen ganzen Erdkreis zu schlagen.“
Dagegen waren Beauvoir wie Sartre gleichzeitig damit beschäftigt, die Welt auf Abstand zu halten. Die Menschen um sie herum erschienen ihnen belanglos. Sie waren „die anderen“, die sie am Café Flore vorbei eilen sahen, ein Gewimmel aus Menschen, die sich voneinander nicht unterschieden und folglich vernachlässigbar blieben.
Simone Weil besuchte die gleichen Schulen wie Beauvoir und Sartre, suchte aber keine Gemeinschaft. Ein Freund allein blieb ihr aus dieser Phase ihres Lebens: Maurice Schumann, zwei Jahre älter, nach dem Krieg Außenminister und Initiator der deutsch-französischen Versöhnung. Beim Begräbnis Simone Weil im Jahr 1943 gehörte er zu den wenigen Trauergästen.
Wie Sartre/Beauvoir ging Simone Weil in die französische Provinz als Philosophielehrerin. Während die andere Simone aber aus den Schülerinnen Liebhaberinnen für sich und Sartre rekrutierte, war die heilige Simone an ihrem Äußeren desinteressiert und offenbar eher asexuell. In ihrer Freizeit widmete sie sich der linken Gewerkschaftsbewegung und zwar ihrem anarcho-syndikalistischem Zweig. Wer darüber etwas wissen will oder gar über die Linke Frankreichs in den Jahren vor der Volksfrontregierung Blum, erfährt vieles aus dieser Biographie, die ihre Freundin Simone (noch eine Simone!) Pétrement schrieb.
Simone Weil imponiert mir aus zwei Gründen: wegen ihrer Hellsicht und ihrer inneren Unabhängigkeit. Ihre Hellsicht beweist sie zum Beispiel, als sie im Sommer 1932 einige Wochen in Deutschland verbringt. Sie sagt präzise voraus, was Hitler, der erst ein halbes Jahr später Reichskanzler werden darf, für Deutschland und Europa bedeutet. Dazu schätzt sie richtig ein, dass die deutsche Linke aus SPD und KPD sich gegenseitig zerfleischen wird, anstatt gemeinsam gegen die Rechte anzutreten.
Im Herbst 1933 geht Jean-Paul Sartre für ein Jahr als Stipendiat nach Berlin. Er liest Heidegger, Husserl und Kafka und widmet sich mehr noch zahllosen Amouren, wie er Simone de Beauvoir ausführlich mitteilt. Die Politik interessiert ihn wenig. Nun ist Hitler Reichskanzler geworden, den Reichstagsbrand nutzt er zur Vertreibung und Verfolgung der Linken. Wer sehen kann, sieht, was sich hier abspielt. Sartre aber betrachtet die Nazis als schnell vorübergehenden Spuk – als Inbegriff der anderen, die er verachtet.
Simone Weil ist für mich der Inbegriff geistiger Unabhängigkeit. Die faszinierende Klarheit, mit der sie den Krieg kommen sieht, leitet sie aus der „Ilias“ ab, dem großen antiken Text. Sie gehört zu den allerersten Denkern, denen die Ähnlichkeit von Kommunismus und Faschismus auffällt. Die drei Jahre ältere Hannah Arendt entwickelt daraus nach dem Krieg ihre Totalitarismus-Theorie. Zur Hellsicht geistiger Unabhängigkeit gehört auch, dass Simone Weil schon vor dem Krieg die gemeinsame Illusion von Kommunismus und Kapitalismus entdeckt: Beide glauben an das unendliche Wachstum der Wirtschaft, wobei aber doch die irdischen Ressourcen erkennbar endlich sind. Also liegen beide Denkweisen falsch, leiden beide an einem fundamentalen Irrtum. Diese Einsicht gewinnt Simone Weil am Ende der dreißiger Jahre! Da kann ich nur den Hut sehr tief ziehen.
Während sich Sartre in „Das Sein und das Nichts“ an Heidegger abarbeitet und Simone de Beauvoir (sie ist ein Jahr älter als Weil) langsam den Mitmenschen, den anderen, Bedeutung zumisst, stürzt sich Simone Weil ins Leben ihrer Zeit. Sie verdingt sich als Fabrikarbeiterin, wozu sie keinesfalls geeignet ist. Sie ist sich natürlich ihres Mangels an Alltagsfertigkeiten bewusst, aber ihre eiserne Disziplin hält sie bis zur völligen Erschöpfung durch. Sie gibt Kurse für Arbeiter, nimmt an Streiks und Demonstrationen teil. Sie reist von einem Gewerkschaftskongress zum nächsten, sucht Anschluss an lokale Gewerkschaftsgrößen rund um die Schulen, an denen sie Philosophie und Griechisch lehrt. Sie behält sich von ihrem Gehalt nur den Lohn einer Arbeiterin und spendet den Rest an die Gewerkschaftskasse. Bald geht sie weit darüberhinaus und reist nach Spanien, um im Bürgerkrieg den Aufständischen beizustehen. Sie verlangt nach einem Gewehr, aber erstens ist sie sehr kurzsichtig und zweitens grotesk ungeeignet für den Alltag, geschweige denn für die Teilnahme am Krieg.
Das Besondere an Simone Weil ist ihre Selbstaufzehrung in der Zeitgenossenschaft, ihre vita activa. So einfühlsam und nachsichtig, wie sie mit den Arbeitern in der Fabrik oder den anderen Helfern bei der Weinlese sein kann, so rücksichtslos ist sie sich selbst gegenüber. Eine kleine Person mit einem großen Herzen und einer Neigung zur Selbstzerstörung. Sie ißt zu wenig, heizt im kältesten Winter ihre kleinen, unwirtlichen Wohnungen nicht. Damit macht sie sich zu einem exemplarischen Fall eines Kindes aus großbürgerlichem Haus, das sich für ihre Privilegien bestraft, indem sie sich auf eine Stufe mit einer unterprivilegierten Arbeiterin stellt. Die Geschichte der europäischen Linken kennt ja viele Intellektuelle, die ihre Klasse nach dem Ersten Weltkrieg vorübergehend oder dauerhaft negierten, um sich der Revolution anzuschließen, von der ungarischen Räterepublik (Georg von Lukács, Bankierssohn aus Budapest) bis zur Münchner Räterepublik (Erich Toller, Erich Mühsam, Ernst Niekisch) bis zur Unterstützung der 1917 gegründeten kommunistischen Sowjetunion (André Gide, Sartre, André Malraux unter vielen anderen).
Simone Weil arbeitete dort, wo das Leben konkret ist: bei den einfachen Leuten, bei den Arbeitern, in der Gewerkschaftsbewegung. Der Glaube an die Revolution kam ihr abhanden; dagegen sprach die Empirie. Die Volksfrontregierung unter Léon Blum scheiterte nach kurzer Blütezeit. An ihrer persönlichen Askese änderten die Enttäuschungen nichts. Ihre Radikalität wandte sich auch immer gegen sich selbst.
Dazu kam, dass sie viele Jahre lang unter furchtbaren Kopfschmerzen litt. Nichts blieb unversucht, um die Gründe für die Tortur zu finden. Ihre Eltern, stets besorgt um ihre Tochter, so wenig geeignet für das, was sie sich vornahm, reisten mit ihr in die Städte, in die sie das Bildungsministerium als Philosophielehrerin entsandte, richtete ihre Wohnung ein, füllten die Vorräte auf – bemühten sich um die Lebenserleichterung, mit der sie an ihrer Tochter mal um mal scheiterten. Der ältere Bruder André, ein mathematisches Genie, machte Karriere und ging so durch das Leben, wie es einem Kind aus dem Großbürgertum eben möglich war. Nicht die unerträgliche Leichtigkeit war Simone Weils Elixier, sondern die unerträgliche Schwere.
Es müssen die Kopfschmerzen gewesen sein, die zur verblüffenden Wende in diesem Leben führte. Sie marterten sie, die Ärzten untersuchten sie auf Tumor, fanden aber nichts. Der Dauerschmerz linderte sich aber in bestimmten Augenblicken und an bestimmten Orten. Bei Orgelmusik in einer Kirche, unter dem Einfluss gregorianischer Gesänge, in einer Abtei fand sie Ablenkung und erlebte Epiphanien. Das Mildern verstand sie als Erscheinung Gottes in ihrem Dasein. Ihr Leiden erschien ihr als Ausdruck des Leidens des Gottessohnes Jesus Christus. Was ihr die Philosophie, deren Verstandestätigkeit sie verpflichtet war, notwendig verwehrte, die Integration des Gottesbegriffs, erlaubte ihr das Leben.
Über die Epiphanien schrieb sie: „In meinen Überlegungen über die Unlösbarkeit des Gottesproblems hatte ich diese Möglichkeit nicht vorausgesehen: die einer wirklichen Berührung von Person zu Person hienieden, zwischen dem menschlichen Wesen und Gott. Ich hatte wohl unbestimmt von dergleichen reden gehört, aber ich hatte es niemals geglaubt.“
Theologisch lehnte sie den erbarmungslosen Gott des Alten Testaments und die Übernahme des Christentums durch Rom ab. Sie versuchte sich darin, das antike Streben nach Selbsterkenntnis mit dem Neuen Testament in Einklang zu bringen. So wurde sie katholisch ohne Aufnahme in die katholische Kirche, mit der sie geschichtlich die Inquisition und die Religionskriege verband. Von Geburt war sie Jüdin und die Bedeutung dieses Umstandes machten ihr die Nazis nach der Eroberung Frankreichs im Jahr 1940 klar.
Rechtzeitig floh die Familie Weil nach Amerika, wohin sich der große Bruder André schon durchgeschlagen hatte. Simone aber blieb nicht in New York. Unbedingt wollte sie nach England und dort unter der Exilregierung unter Charles de Gaulle dienen. Dafür hatte sie genaue Vorstellungen: Sie wollte mit dem Fallschirm hinter den Linien abspringen, dem französischen Widerstand beitreten und Deutsche töten.
Nach England kam sie 1942. Mit ihren Ideen konnte sie niemanden überzeugen. Fürs Tun war sie ungeeignet, fürs Denken bestens geeignet. Also setzte man sie daran, eine Verfassung für das befreite Frankreich auszuarbeiten.
Mit 34 Jahren starb sie. Die Selbstzerstörung durch Askese war letztlich erfolgreich. Sie zog sich Tuberkulose zu, die eigentlich nach Ansicht ihrer Ärzte kurierbar war – sofern sie sich gut ernährte. Nichts lag ihr ferner. Sich selber Gutes zu tun, erschien ihr frevelhaft. Es muss ihr tiefer Wunsch gewesen sein, sich nicht zu retten. Sie aß immer weniger, trank zu wenig. Von London ließ sich in ein Sanatorium in Ashford verlegen. Am 30. August 1943 fand ihr Begräbnis statt. Der treue Maurice Schumann hatte sie auf dem Sterbebett besucht und stand nun mit einer Londoner Vermieterin, bei der Simone Weil gewohnt hatte, am Grab. Der Pfarrer hatte den Zug verpasst.
Was für eine Frau. Das Unbedingte war ihr gemäß. Was ihr zufiel, das Denken, achtete sie nicht in dem Maße, wie es ihr gut getan hätte. Unbedingt wollte sie, was ihr nicht gegeben war. Der Ruhm ergab sich später. Albert Camus bezeichnete Simone Weil als „den einzigen großen Geist unserer Zeit.“ T.S. Elliot bewunderte sie.
Vier Jahre nach ihrem Tod veröffentlichte ein Freund ihre Essays, Gedichte, Briefe und Fabrik-Tagebücher. Sie hatte ihm den Papierberg in einer Aktentasche auf dem Bahnhof von Marseille übergeben, nicht wissend, ob sie überleben würde.
p.s. Ich muss noch erwähnen, wie ich auf Simone Weil gestoßen bin: Im wunderbaren Buch „Feuer der Freiheit“ von Wolfram Eilenberger, das mich zum Weiterlesen animierte – was lässt sich Besseres über ein Buch sagen?