Hans Magnus Enzensberger war Augenzeuge und Chronist. Mittäter und Aufschreiber. Er war Dichter und Schriftsteller, Zeitungsgründer und Übersetzer. Er war so vieles, dass es für viele Leben gereicht hätte. Und wenn andere unter der Mannigfaltigkeit ihrer Talente l, weil sie sich entscheiden mussten und und die Wahl so oder so falsch zu sein schien: Er hatte diese Anwandlungen nicht. Er häutete sich, er war mal dies und jenes und manches zugleich, und da immer exzellent ausfiel, was seine Hände verließ, war er vielleicht sogar ein fröhlicher Mensch, jedenfalls erweckte er diesen Endruck. Fröhlich vermutlich besonders dann, wenn er mal wieder schneller um die nächste Ecke zog, als seine Freunde und Gegner schauen konnten, und sie damit derart verblüffte, dass sie ihm Untreue an der gemeinsamen Sache vorwarfen.
Dabei teilte er die Irrtümer seiner Generation, das schon, aber eben auf hohem Niveau. Kuba erschien ihm als interessantes Experiment und wie manch anderer blieb ihm Amerika lange ein ferner Kontinent. Er sympathisierte mit den 68ern, hielt sie jedoch auf Abstand, wie er vieles auf Abstand hielt, womit sich seine Generation ein Leben lang gemein machte, aus falsch verstandener Treue. In dieser Zeit gründete er das „Kursbuch“, das er zum Seismographen der Bundesrepublik machte. Kurz darauf rief er TransAtlantik ins Leben, ein Kulturmagazin, gemeinsam mit Gaston Salvatore, einem chilenischen Schriftsteller, der selbstverständlich links war.
Enzensberger gründete, legte mit Gedichten und Essays das Fundament und zog dann weiter. Aufhalten, Stehenbleiben, Stagnieren war nicht sein Existenzmodus. Stets unterwegs, war er beseelt von einer unversiegbaren Neugierde. Von Bob Dylan gibt es ein Lied auf seiner letzten CD, das „I contain multitudes“ heißt. Hans Magnus Enzensberger barg in sich Mannigfaltigkeit und ihm war es vergönnt, sie in seinem langen Leben beispielhaft zur Geltung zu bringen.
Wessen Gemüt so disponiert ist, neigt zwangsläufig zur Unzuverlässlichkeit. Nicht literarisch, nicht was die Qualität anbelangte, wohl aber politisch. Eigentümlichen Ruhm erlangte er zum Beispiel mit seinem Lob aufs Durchwurschteln, das er an einer besonderen Persönlichkeit exemplifizierte: an Helmut Kohl. Er fand, die Deutschen hätten in ihrer Geschichte im Übermaß die Dinge zu einem Ende gebracht. Er war eben Jahrgang 1929, war alt genug, so dass sich ihm der Wahnsinn Hitlers ins Gedächtnis einbrannte. Und so sah er Kohl, die „Birne“, den Provinzler, der Intellektuelle verachtete, völlig anders als seine Bewunderer in der „Zeit“ oder im „Spiegel“, die fassungslos auf der Strecke blieben.
Weit vor dem Ende der bipolaren Welt reiste er für die „Zeit“ durch Europa, nicht durch die üblichen Zentren, sondern an die Ränder. Daraus entstand „Ach, Europa“, erst eine Zeitungsserie und danach ein Buch. Was sah er? Ein Europa der Wünsche, das die Zukunft noch nicht hinter sich hat. Was andere Treulosigkeit nannten, war in Wahrheit Unbestechlichkeit.
Auch im Alter sah noch der Junge aus ihm heraus, der mit Spiel und Ernst jonglierte. Er schrieb fabelhaft, er dichtete fabelhaft, er war der ultimative Intellektuelle, der das Leben als unaufhörlichen Prozess betrachtete, dem sich das Verstehen zu fügen hatte. Dabei wirkte leicht und locker, was er öffentlich sagte und schrieb. Je älter er wurde, desto lässiger wirkte er. Von Walter Benjamin stammt der Satz, man müsse immer radikal sein, aber besser nicht konsequent. Eine schöne Lebensmaxime, die Enzensberger maximal erfüllte.
Ich mochte seine Gedichte. Immer war ich neugierig, was jetzt er wohl wieder zu sagen hatte. Ich staunte über „Hammerstein oder: Der Eigensinn“, ein Buch über einen deutschen General mit Karriere in der Reichswehr, der 1934 zum Rücktritt gezwungen wird, weil er Hitler verabscheute. Enzensberger erforscht ihn in fiktiven Gesprächen. Er überraschte eben immer, weil er sich jederzeit überraschen ließ.
Hans Magnus Enzensberger war mein Leben lang da. Ich zählte auf ihn. Ich mochte seine Treulosigkeit. Ich habe ihn ein paar Mal getroffen, aber das ist länger her. So jemand darf eigentlich nicht sterben, sein Tod ist unfair. Und doch was für ein Glück, dass es so einen Menschen für uns gab.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.