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Er ließ weiße Rassisten ins Leere laufen
Für mich wird Sidney Poitier immer dieser unfassbar gut aussehende Detective bleiben, der tief unten in Mississippi stoisch für Gerechtigkeit sorgt, an der Rod Steiger, der weiße Rassisten-Sheriff, überhaupt nicht interessiert ist. Im Film war es damals, wie es heute noch in der Wirklichkeit ist: Der weiße Polizist verhaftet einen Schwarzen, der schon mal deshalb verdächtig ist, weil er schwarz ist, und es ist ihm ziemlich egal, ob der Mann schuldig ist oder nicht, die Hauptsache bleibt doch, dass der gewaltsame Tod des reichen Weißen ganz schnell aufgeklärt wird.
„In the Heat of the Night“ hieß der Film. 1967 kam er in die Kinos. Zum ersten Mal sah ich, wie es in einer kleinen Stadt wie Sparta zugeht. Die Hitze, das Fiebrige des Rassismus, die tiefe Ungerechtigkeit der Spaltung Amerikas in Schwarz und Weiß, die Wunde der Rassentrennung, die sich bis heute nicht geschlossen hat: Der Film als Spiegelbild der Verhältnisse. Poitier überlebt den Irrsinn nur deshalb, weil er in Wahrheit ein Detective aus dem Norden ist und nicht das ohnmächtige Opfer, das Steiger aus ihm machen will.
Im Film gibt es einen kleinen beispielhaften Dialog zwischen Steiger und Poitier, den ich heute noch aufsagen kann. Steiger fragt: „“Wie nennt man dich, Boy?“ Poitier antwortet: „Man nennt mich Mr. Tibbs!“ Ja, so kann man Rassisten ins Leere laufen lassen.
Hollywood schrieb auf Poitier Filme zu, in denen sich Schwarz und Weiß am Ende versöhnen. Der Weiße lernt, dass der Schwarze auch ein Mensch ist, so einfach kann das sein. Schön wäre es, Amerika hätte daraus fürs vorurteilsfreie Zusammenleben der Rassen gelernt, was ihm die Fiktion zu bedenken gab. So bleibt es die Tragik dieser Nation, dass sie sich nicht mit sich selber versöhnen kann.
Hollywood kalkulierte damals schon zynisch, was denn sonst. Dieser schöne Schwarze war dem weißen Publikum zumutbar, so dachten die Mogule des Filmgeschäfts. So dachten sie ihm Rollen zu, in denen er der den Weißen den Haß nahm. Rod Steiger, der Rassist, bringt am Ende Sidney Poitier zum Zug. Tony Curtis, der in „Flucht in Ketten“ den Rassisten spielt, lernt Sydney Poitier schätzen, als er auf ihn angewiesen ist.
Sidney Poitier war ein Pionier. Er war der erste schwarze Schauspieler, der richtig gute Rollen erhielt. Er war der erste schwarze Schauspieler, der einen Oscar bekam. Das war 1964 für eine alberne Komödie namens „Lilien auf dem Felde“, in der er einen Gelegenheitsarbeiter spielt, der auf fünf Nonnen trifft, die aus der DDR geflüchtet sind, aber egal wie töricht das Drehbuch auch ausfiel: Hollywood setzte mit diesem Oscar ein Zeichen mitten im Rassenkrieg, und darauf kam es an.
Mit seinem Ruhm bahnte Poitier Jüngeren wie Denzel Washington, Morgan Friedman, Whoopi Goldberg oder auch Idris Elba den Weg. Nach seinem Tod werden sie ihn dafür rühmen, zurecht.
Zeitweise war Sidney Poitier der bestbezahlte Schauspieler Amerikas. Klugerweise lehnte er bald klischeebeladene Rollen ab. Er kannte seinen Stellenwert, er wusste sehr wohl, was ihm Hollywood zudachte, und ging behutsam mit seinen Möglichkeiten um. Persönlich war er schüchtern, musste sich erst seinen karibischen Dialekt abtrainieren, weil er auf den Bahamas aufgewachsen war. Er besaß kaum Schulbildung und war als Schauspieler ein bestaunenswerter Naturtalent. Ihm war diese coole Eleganz eigen, die ihn in den 1960er Jahren zum Star machte. Von ihm sagten seine Verächter, die es auch unter Schwarzen gab, er sei der Traum der Weißen von einem Schwarzen.
So kann man das sehen, und auch von Michael Jordan, dem besten Basketballspieler aller Zeiten sagte man, bei ihm vergäßen die weißen Zuschauer seine Hautfarbe. Aber Jordan wie Poitier suchen es sich nicht aus, sie gehen ihrem Beruf nach, in dem sie Ausnahmekönner sind. Deshalb werden aus ihnen große Stars und damit gewaltige Projektionsflächen. Was andere in ihnen sehen, Schwarze wie Weiße, dafür sind sie jedoch nicht verantwortlich. Verantwortlich sind die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Zugleich aber verkörpern herausragenden Menschen wie Sidney Poitier die beste Hoffnung darauf, dass Amerika dereinst seinen Rassismus hinter sich lassen könnte.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.
Alles Gute, „Spiegel“
Mein altes Blatt ist 75 geworden. Glückwunsch und alles Gute. Ich mag es nach wie vor, auch wenn es sich gewaltig geändert hat. Genauer gesagt, muss ich nicht gut finden, wie es sich geändert hat, aber wäre es so geblieben, wie.es einmal war, wäre der Schrumpfungsprozess noch weiter gegangen.
Ich kam am 2. September 1990 zum „Spiegel“. Als Ressortleiter Innenpolitik. Bonn war noch die Hauptstadt und gerade in den linksliberalen Zirkeln der 68er-Generation war der Glaube verbreitet, daran würde sich nichts ändern. Darüber hatte ich mich schon mit den Kollegen in der „Zeit“ gestritten. Rund um die Wiedervereinigung erwiesen sie sich als die Wertkonservativen, als die Freunde der Unveränderlichkeit der Verhältnisse. Sie bauten darauf, dass die Alliierten auch so dachten und steckten voller Abneigung gegen Kanzler Kohl, so dass sie ignorierten, wohin die Geschichte lief. Daran wollen sie heute nicht erinnert werden, die 68er-Rentner.
„Der Spiegel“ war groß, damals. Sturmgeschütz der Demokratie. Die „Spiegel“-Affäre hatte ihn groß gemacht. Die Aufdeckung von Skandalen und Affären wie „Neue Heimat“, Flick, Barschel etc. hielt ihn groß. Schlagkraft war das Leitmotiv. Feinsinn blieb der „Zeit“ vorbehalten. Im „Spiegel“ gab es die Heranschaffer, die bald Rechercheure genannt wurden, und es gab die Zusammenschreiber, das war die Aufgabe der Ressortleiter in Hamburg. Mächtig waren sie, vor allem intern. Schreiben konnten sie, was die Heranschaffer selten konnten. Eine glasklare Arbeitsteilung. Alle verdienten sie gut, die beim „Spiegel“ angestellt waren, verdammt gut. Von heute auf morgen bekam ich das Doppelte meines „Zeit“-Gehaltes.
Es waren die letzten Tage des Monopols als Nachrichtenmagazin, wobei der Name ein Witz war, denn es ging immer um die Bewertung der Nachrichten, weit mehr als um die Nachrichten selber. In den 1950er Jahren hatte Rudolf Augstein den „Spiegel“ als Kampfblatt gegen Adenauer und Strauß populär gemacht. Gegen Adenauer, weil der Kanzler die Westbindung über die Wiedervereinigung stellte, ein Zug zum Nationalen, der ihn im Alter einholte. Gegen Strauß, weil er von Atombewaffnung träumte und zum Autoritären neigte, was ihn einerseits mit Augstein verband und gerade deshalb von ihm trennte. Peter Merseburger hat über den „Spiegel“ jener Tage ein sehr gutes Buch geschrieben.
Der „Spiegel“ liebte Feinde und suchte sie sich sorgfältig aus. Der „Spiegel“ liebte Freunde und suchte sie sich wahllos aus. Freunde des Hauses schrieb er hoch und wieder runter. Willy Brandt. Helmut Schmidt. Oskar Lafontaine. Joschka Fischer. Gerhard Schröder. Otto Schily. Kurt Biedenkopf. Martin Schulz. You name it.
Ein Segen für das Haus war der Mann, den alle ablehnten: Stefan Aust. Der Verlust des Monopols durch das rasante Aufkommen des „Focus“ kostete einige Chefredakteure den Job. Erst dann konnte Rudolf Augstein diesen Stefan Aust, einen Fernsehmann, als Chefredakteur durchsetzen. Das Haus stand Kopf. Aust sagte anfangs Geniales: Tolles Blatt, große Tradition, an der er unbedingt festhalten wollte. Dann startete er die Revolution, die das Blatt rettete: Farbfotos! Namen! Klare Gliederung! Reporter!
So muss man das machen: Zuerst sagen, alles toll, nichts zu verändern, und dann den Laden auf den Kopf stellen. Davon kann jeder Kanzler, jeder CEO lernen.
Der Tod Rudolf Augstein bedeutete die größte Veränderung. Dass die Redaktion die Hälfte des Ladens besaß und den Chefredakteur bestimmte, stand bis dahin nur auf dem Papier. Am Ende bestimmte einer: der Alte. Als er tot war, musste und durfte die KG sein, was sie besser nie hätte sein sollen. die mächtigste Instanz im Haus. Sie wählte Geschäftsführer und Chefredakteure, die kamen und schnell wieder gingen. Sie griff daneben, korrigierte sich, indem sie wieder daneben griff. Na ja.
Stabil scheint mir der Laden heute zu sein. Opposition will er bleiben und muss er wohl auch, egal wer regiert. Das Starkstromdeutsch nimmt gelegentlich überhand, wie früher auch, vielleicht jetzt öfter, aus Unsicherheit in unsicheren Zeiten. Staatsversagen ist ein ungeheures Wort, das man vorsichtig gebrauchen sollte. Kleiner Hinweis am Rande.
Happy Birthday, altes Haus! Alles Gute und gelegentlich ein feines Händchen.
Fünf, auf die es ankommt
Wenn ich Zwanziger Jahre höre, denke ich automatisch an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, Ende der Monarchie, Babylon Berlin, Sie wissen schon. Ich muss mir ins Gedächtnis rufen, dass die Zwanziger ja Gegenwart sind, was denn sonst. Ist wohl so eine Eigenart, oder geht es Ihnen manchmal auch so?
Zwanzigzweiundzwanzig also. Gedämpfte Stimmung allerorten. Politisch wie privat. Die Pandemie ist wie die Dementoren in den Harry-Potter-Büchern: Sie entzieht uns Energie, zapft Lebenssaft ab, macht uns frieren. Wie gut, dass die Herren Drosten und Lauterbach neuerdings zum Optimismus neigen und uns damit trösten, dass Covid-19 im Herbst endemisch werden kann – keine neuen Varianten, die uns das griechische Alphabet beibringen, regelmäßiges Impfen, sonst nichts. Wenn das keine gute Nachricht ist, weiß ich nicht, was eine gute Nachricht sein soll.
Was steht an? Wenig vermag ich den Olympischen Winterspielen in Peking abzugewinnen. Ich fahre gern Ski und bewundere Menschen, die von sagenhaft hohen Schanzen sagenhaft weit hinunter fliegen und bombensicher landen. Auch finde ich Biathlon spannend, aber ich ziehe es vor, wenn solche Wettbewerbe in Finnland oder Schweden, in Italien oder Österreich stattfinden. Alles was in China stattfindet, ist zuerst und zuletzt Propaganda für dieses riesige Land, das damit seinen Herrschaftsanspruch auf Weltgeltung untermauert. Das Mindeste, was man tun kann, ist nicht hinzufahren, wie es die deutsche Außenministerin angekündigt hat und die ganze amerikanische Regierung auch.
Nicht weniger absurd ist die Fußballweltmeisterschaft in Katar am Jahresende. Ich liebe Fußball und kämpfe tapfer Regungen meines Verstandes nieder, der mir einredet, ich sollte endlich einsehen, dass der Kapitalismus meinen Kindertraum schon längst pervertiert hat. Im Kopf weiß ich, dass die Super Liga die logische Konsequenz ist, weil es dann nur noch um die Verteilung von irrsinnig viel Geld unter ganz wenigen Klubs geht, notfalls auch ohne Zuschauer. Das WM-Endspiel findet am 18. Dezember statt, absurd.
Kommen wir zur Politik im engeren Sinn. Auf fünf Leute setze ich in diesem Jahr, in dem wir schon mal aus Überlebenstrieb zu mehr Optimismus verdammt sind. Nicht nur Deutsche sind darunter, aber Europa ist ja ohnehin wichtiger als seine Nationalstaaten.
Nummer 1: Christine Lagarde, weil sie als Präsidentin der Europäischen Zentralbank dafür verantwortlich ist, welchen Zinssatz wir beim Kauf einer Wohnung, eines Hauses oder wofür wir auch immer einen Kredit aufnehmen mögen, bezahlen müssen. In der Weltfinanzkrise und der Eurokrise, Stichwort Griechenland, aber auch während der Pandemie hat die EZB vieles richtig gemacht, was sie auch hätte falsch machen können. So darf es bitte weitergehen.
Nummer 2: Mario Draghi, der Lagardes Vorgänger war („Whatever it takes“) und nun ein Segen für Italien ist, dem er als Ministerpräsident dient. Weniger Italiener als Draghi kann kein Italiener sein und er hat ein bisschen vom Unmöglichen schon in kurzer Zeit wahr gemacht, und ihm möge noch viel Zeit beschieden sein, damit er noch mehr vom Unmögliche möglich machen kann – Reformen an Haupt und Gliedern für das Land, an dem schon ganz andere gescheitert sind. Nun möchte Silvio Berlusconi, mit 85 endgültig zu zombiehafter Erscheinung durchoperiert, Staatspräsident werden. Doch Draghi scheint mir jemand zu sein, den nichts erschüttern kann. Möge er seinem Land und Europa lange erhalten bleiben.
Nummer 3: Emmanuel Macron. Frankreich wählt am 10. April seinen Staatspräsidenten. Macron ist erst 44 Jahre alt, immer noch verdammt jung. Einer der groß denkt, oft größer, als er springen kann, aber egal, die Welt steckt voller Kleingeister, so dass ein Großgeist angenehm auffällt. Soweit bedenkenswerte Initiativen für die Fortentwicklung Europas in den vergangenen Jahren hörbar wurden, kamen sie aus Paris und stießen auf Schweigen, vor allem in Berlin. Muss ja nicht so bleiben. Europa kann jedenfalls nur hoffen, dass Frankreich nicht durchdreht und einen Querschläger wie Eric Zemmour eine Chance gibt, gegen den Marine Le Pen fast schon wieder seriös wirkt. Eine Erleichterung wäre es, dürfte Macron, der Springteufel, im Elysee bleiben.
Nummer 4: Olaf Scholz, für den es noch viele Debüts geben wird, national wie international, die er mit dieser Nüchternheit absolvieren wird, die wir vielleicht sogar bald schätzen lernen. Hier haben wir einen Kanzler, der es sich angewöhnt hat, sein Pensum herunter zu spulen, der sich aber auch ein paar Sätze zurechtgelegt hat, die mir gefallen: Wir sind kein gespaltenes Land, es gibt eine solide Mehrheit und die Demokratie-Verächter sind eine kleine, radikale Minderheit. Lasst uns einander Respekt zollen, sagt er auch, das zeichnet die Demokratie aus. Das Einfache zu sagen, ist oft das Schwerste. Mal schauen, wie lange er diesen wohl klingenden Grundton durchhält. Möglichst lange, will ich hoffen.
Nummer 5: Annalena Baerbock. Bei den Kleingeistern unter den Grünen laufen Wetten, wie lange es die Annalena ohne Fehler durchsteht und wann Cem Özdemir an ihre Stelle tritt und Anton Hofreiter endlich Landwirtschaftsminister werden darf. Ja, Parteifreunde reden so. Muss man sich nichts bei denken. Aber sie müssen ja nicht recht bekommen. Die Grünen haben die besten Minister, die sie haben können. An ihrer Intelligenz scheitern sie bestimmt nicht, am Durchhaltevermögen hoffentlich auch nicht. Die Klimawende fängt mit dem Trassenbau an, der Strom aus dem Norden in den Süden bringt. Müssen sie durchsetzen, was denn sonst. Fleisch soll teurer werden, ist richtig so, dann macht mal. Nord Stream 2? Dann eben nicht ans Netz. Wer die Sache bewegen will, macht sich Feinde. Ist so. Geht gar nicht anders.
Ruhiger als 2021 wird es 2022 bestimmt nicht. Hoffen wir das Beste, was bleibt uns schon übrig. Für Optimismus müssen wir schon selber sorgen und ich finde, es gibt den einen oder anderen guten Grund dafür. Außerdem: Das Leben ist zu kurz für schlechte Laune und schlechten Wein..
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.
Der gelungene Twist
Zur Entspannung habe ich mir in den letzten Tagen mehrere Filme angeschaut, die sich durch überraschende Wendungen auszeichneten, deren Logik sich erst im Nachhinein erschlossen. Ich mag es, wenn ich aus der sicheren Erwartung, wie sich die Handlung entwickeln wird, herausgerissen werde. Natürlich muss trotz aller Bereitschaft zur Verblüffung Folgerichtigkeit beim Umschwung herrschen, aber aus keinem der Filme kam ich enttäuscht heraus. Für mich liegt darin das Hitchcockhafte der Handlung.
Zwei Filme ragen heraus: „Dream House“ mit Daniel Craig, Rachel Weisz und Naomi Watts, und „The Woman in the Window“ mit Amy Adams und Gary Oldman.
„Dream House“: Daniel Craig nimmt Abschied von einem gut bezahlten Job in einer gut beleumdeten Zeitung in Manhattan und besteigt einen Vorortzug, der ihn in eine Kleinstadt weit weg vom Stadtmoloch bringt. Seine Frau, Rachel Weisz, und seine beiden Töchter erwarten ihn. Sie kann es gar nicht glauben, dass er seinen Vorsatz verwirklicht hat, seinen Job zu kündigen und hierin der neuen Umgebung ein Buch zu schreiben, für das er schon einen Vertrag besitz. Sie freut sich maßlos über das neue Leben unter den neuen Umständen.
Das Haus ist groß und schön. Die Familie ist vorbildhaft glücklich. Allerdings tauchen alsbald einige Seltsamkeiten auf, die das Idyll stören. Ein Mann schleicht ums Haus. Die Nachbarin, Naomi Watts, ist freundlich, aber schweigt auf Fragen, wer denn zuvor in diesem Haus gelebt hatte. Allmählich schält sich heraus, dass die Vorgängerfamilie einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel: Frau tot, Kinder tot, der Mann, offensichtlich der Mörder, schwer verletzt und eingeliefert in die Psychiatrie. Schlimmer noch, dieser Mörder, dieser Peter Ward, ist gerade aus dem sicheren Gewahrsam entlassen worden und womöglich derjenige, der ums Haus schleicht. Noch seltsamer, dass die Polizei keinerlei Anstalten macht, dem Verdacht nachzugehen, dass die neue Familie möglicherweise beschattet und bedroht wird. Man denkt, die Handlung dreht sich nun darum, wie Daniel Craig seine Familie vor diesem Peter Ward schützt und ihn am Ende umbringt. Weit gefehlt.
Daniel Craig stellt nun selber Nachforschungen an, begibt sich in die Psychiatrie, fragt nach Peter Ward und bekommt Fotos gezeigt, auf denen Peter Ward zu sehen ist. Er schaut sich diese Fotos immer wieder an, er kann es nicht fassen, denn dieser Mann mit dem verwilderten Bart ist ihm bekannt. Tatsächlich mehr als bekannt, denn er erkennt sich in ihm, er ist es selber. Er ist Peter Ward. Er ist der Mörder seiner Familie. Ja, er ist entlassen worden, aber aus der Psychiatrie. Nicht die Redaktion in Manhattan hat er aus freien Stücken verlassen, um ein neues Leben anzufangen. Etliche Jahre hat er in der geschlossenen Anstalt in der Kleinstadt verbracht und wurde vor kurzem als geheilt zurück ins Leben geschickt. Nun versteht er, dass er in seinem Wahn seine Frau und seine Kinder in seinem Haus gesehen hat, als sie glücklich miteinander waren, vor dem Tag der Katastrophe. In Wahrheit sind die drei tot, offenbar getötet von ihm, von seiner Hand. Er geht zurück zu dem Haus, in dem er einst mit seiner Familie gelebt hatte. Es ist heruntergekommen, steht seit Jahren leer, unbewohnbar. Dieses Haus ist als das Mordhaus in der Kleinstadt bekannt. Niemand will darin wohnen, niemand will es kaufen.
Peter Ward bricht in sein altes Haus ein, geht durch die Räume, redet mit seiner Frau, als wäre sie am Leben, aber diesmal mit dem Zweck heraus zu finden, was an jenem Tag passiert ist, als sie und die Kinder starben und er schwer verletzt wurde. Die Nachbarin, Naomi Watts, sieht ihn und nimmt ihn bei sich auf. Sie hat eine Tochter und einen Ex-Ehemann, der eine gewalttätige Gestalt ist, und ihr schwere Vorwürfe macht, dass sie diesen Peter Ward, diesen Mörder seiner Frau und seiner Kinder, im eigenen Haus aufnimmt und damit sich und ihre Tochter gefährdet.
Es passiert einiges, natürlich Wildes und Gewalttätiges. Naomi Watts und DanielCraig/Peter Ward werden beschossen, das alte Haus geht in Flammen auf. Und jetzt stellt sich heraus, was wirklich geschah: Der Ex-Ehemann von Naomi Watts hatte einen Killer damit beauftragt, seine Frau umzubringen, damit er das Sorgerecht für die Tochter bekam und die verhasste Ehefrau los wurde. Der Auftragsmörder war aber ins falsche Haus eingedrungen und hatte die Frau, Rachel Weisz, getötet und konsequent auch die beiden Töchter, als er seinen Irrtum bemerkte und nicht mehr zurück konnte. Daniel Craig/Peter Ward aber bekam eine Kugel in den Kopf und überlebte, wobei jedermann ihn für den Mörder hielt und er sich selber auch.
Die letzte Szene zeigt Daniel Craig/Peter Ward in Manhattan. Er geht an einem Buchladen vorbei, im Schaufenster steht sein Buch mit dem Titel „Dream House“.
Das Fluidum solcher Filme ist die Spannung, die durch den grundstürzenden Twist entsteht. Wir identifizieren uns mit der leidenden Hauptfigur, die nicht weiß, wie ihr geschehen ist. Wir gehen mit ihr auf den Weg zur Wahrheit, erkennen mit ihr langsam, aber sicher, was wirklich passiert ist und wer für die Katastrophe verantwortlich ist, welche als Ursache für die Verwirrung dient.
Dann wird sie an ihrem Fenster Zeugin eines Mordes: an der Mutter. Sie ruft, außer sich, die Polizei, die auch kommt und plötzlich mit der vollständigen Familie von drüben in Amy Adams‘ Haus steht. Die Frau, die sich als die Mutter ausgibt, sieht anders aus als die Frau, die bei ihr zu Besuch war, aber Vater und Sohn bestätigen: dass ist die Frau und Mutter von gegenüber. Zu den Polizisten gehört ein verständnisvoller Beamter, der alleine mit ihr redet. Dabei stellt sich heraus, dass Amy Adams‘ Ex-Ehemann und ihr Kind in Wahrheit tot sind. Allmählich kristallisiert sich heraus, dass Amy Adams dafür verantwortlich ist. Sie saß am Steuer des Wagens, als ihr Mann ihr eröffnete, so gehe es nicht weiter, das Ganze sei eine Farce, eine Scheinheiligkeit, die er nicht mehr ertrage. Sie sagt, aber es waren doch schöne Tage, dieses Weihnachten, und sie möchte nicht, dass es endet. Das Telefon klingelt, sie will nicht rangehen. Er sagt, dass ist doch bestimmt er, ihr Liebhaber, mit dem sie „fremdgefickt“ hat, weshalb es mit ihrer Ehe vorbei sein muss. Er will den Anruf entgegennehmen, sie versucht es zu verhindern. Mann und Frau ringen um das Handy, dabei verliert sie die Herrschaft über den Wagen. Schwerer Unfall. Mann und Tochter tot. Damit ist der Grund für ihre Agoraphobie geklärt.
Amy Adams überwacht jetzt noch intensiver das Haus gegenüber. Wieder kommt der Junge herüber, doch ist er nun ein ganz anderer Junge, ein Psychopath. Er brachte die Frau um, die Amy Adams besucht hatte. Sie war die leibliche Mutter des Jungen. Der Junge bringt auch den Mieter im Souterrain um und will Amy Adams zuschauen, wie sie stirbt, denn das ist das Schönste für ihn, das Zuschauen, wie aus dem Menschen, den er umbringt, das Leben ganz langsam entweicht. Aber sie wehrt sich und bringt ihrerseits ihn um. Der nette Polizist, der ihr die Wahrheit über sie selber sagte, entschuldigt sich bei ihr. Sie hatte recht, sie war nicht verrückt. Die ganze Familie von gegenüber, die aus Boston floh, weil der Junge der Geliebten des Vaters beim Aushauchen des Lebens zugeschaut hatte, wird nun verhaftet.
Der Schluss: Amy Adams verlässt das Haus, an das sie wegen des katastrophalen Unfalls gebunden war. Es steht zum Verkauf. Ihr Leben kann nun weitergehen, irgendwo.
Beide Filme sind sehr gut konstruiert und komponiert. Beide Filme haben hervorragende Schauspieler. Amy Adams drehte vorzügliche Filme hintereinander, angefangen mit „American Hustle“. Gary Oldman bleibt leider nur eine kleinere Rolle, die er wunderbar füllt. Daniel Craig spielt für mich zum erstmal eine düstere Charakterrolle und macht das sehr gut. Die Regisseure Joe Wright und Jim Sheridan („Dream House“) sagen mir nichts, bauen aber äußerst geschickt die Spannung auf, die mich nicht los ließ.
Mehr als gute Unterhaltung. Hitchcock-Schule eben.
„Persönlich traue ich Putin sehr viel zu“
t-online: Herr Ischinger, an der Grenze zur Ukraine stehen mindestens 100 000 russische Soldaten in Gefechtsbereitschaft. Die Nato hält ihre schnelle Eingreiftruppe in Alarmbereitschaft. Was trauen Sie Wladimir Putin zu?
Ischinger: In solchen Fällen sollten wir immer zwischen Fähigkeiten und Absichten unterscheiden. Die militärischen Fähigkeiten sind angesichts der aktuellen massiven Truppenkonzentration an der russischen Westgrenze außerordentlich bedrohlich. Bei den Absichten müssen wir im Prinzip immer vom „worst case“ ausgehen. Persönlich traue ich Putin, insbesondere nach der Annexion der Krim im Jahr 2014, sehr viel zu. Ich halte ihn aber nicht für einen Hasardeur.
In seiner Pressekonferenz kurz vor Weihnachten sagte Putin, der Westen müsse ihm Sicherheitsgarantien geben und zwar sofort. DieLogik ist: Entweder ihr gebt mir, was ich will, oder ich nehme es mir.
Putin pokert mit sehr hohem Einsatz. Er kalkuliert damit, dass der Westen, vor allem Europa, angesichts seiner Drohung mit Krieg einknickt. Sein Problem besteht aber darin, dass er irgendwann von dem Baum wieder herunterklettern muss, auf den er so hoch gestiegen ist, ohne sein Gesicht zu verlieren, falls wir doch nicht einknicken sollten.
Putin sagte schon öfter, der Westen habe Russland „dreist getäuscht“ und Russland „faktisch beraubt“. In der Sache meint er die Ausdehnung der Nato nach Osten. Wie viel Wahrheit steckt in diesen wüsten Vorwürfen?
Keinerlei Wahrheit steckt darin. Das Geraune über mündliche Versprechungen im Jahr 1990 rund um die Wiedervereinigung Deutschlands ist spätestens seit 1997 hinfällig oder nur noch für Historiker interessant, weil Russland mit der Unterschrift unter die Nato-Russland-Grundakte damals, also vor 24 Jahren, die Nato-Erweiterung nach Osten akzeptierte.
Immer geht es um die Ukraine, die einerseits von Putin als integraler Bestandteil Russlands reklamiert wird und andererseits imstande sein sollte, seine Bündnisse frei wählen. Setzt sich die nackte Machtpolitik durch?
Hoffentlich nicht. Putins Erpressung ist eine Bewährungsprobe für den Westen, für die Nato und die Europäische Union. Ich gebe zu, dass wir in der Defensive sind. Die europäische Sicherheitsordnung ist schwer erschüttert. Viel zu lange hat auch die deutsche Regierung an die schöne Vision umfassender Partnerschaft mit Russland geglaubt. Seit 2008, dem Krieg gegen Georgien, spätestens aber seit der Annexion der Krim 2014 ist dieser Traum ausgeträumt, aber viele in Berlin wollten es immer noch nicht wahrhaben.
Gehört die Ukraine, gehört Georgien in die Nato? Um beiden Staaten geht es Putin ja immer wieder.
Spätestens seit der Charta von Paris im Jahr 1990 gilt das Prinzip freier Bündniswahl. Wäre es entsprechend dem Geist und den Buchstaben der Nato-Russland-Grundakte gelungen, das Verhältnis zu Russland auf eine grundsätzlich neue, kooperativere Basis zu stellen, dann gäbe es heute keinen Grund für einen tiefgreifenden Konflikt. Das Projekt ist jedoch aus verschiedenen Gründen gescheitert. Wir wissen schon seit 15 Jahren, dass eine Nato Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine aus russischer Sicht das Überschreiten einer roten Linie bedeuten würde. Deshalb stellten sich Deutschland und Frankreich von Anfang an gegen Amerika, das beiden Staaten den Weg in die Nato ebnen wollte. Daran hat sich bisher – leider – nichts geändert.
Putin legt Wert darauf, mit den USA direkt zu verhandeln und verlangt wieder nach Garantien, dass die Ukraine, aber auch Georgien, weder Aufnahme in die Nato noch in die EU finden. Sollte sich Präsident Biden darauf einlassen und wie weit kann er gehen?
Natürlich sollte Washington mit Moskau verhandeln. Aber die Aufnahme Georgiens und der Ukraine steht seit langem nicht mehr auf der Tagesordnung der Nato, auch wenn sich das Bündnis prinzipiell zur eventuellen Mitgliedschaft der beiden Staaten bekennt, da Georgien wie der Ukraine die Wahl der Bündnisse nun einmal frei steht. Joe Biden kann und will diesem Grundsatz nicht abschwören.
Könnte die Nato passiv bleiben, falls russische Truppen tatsächlich die Ukraine besetzten?
Hoffentlich herrscht in Moskau Unsicherheit über eine westliche Reaktion. Das wirkt abschreckend.
Wie lässt sich dieser Konflikt entschärfen und welche Rolle könnte Deutschland dabei einnehmen?
Berlin spielte bisher und spielt auch jetzt, gemeinsam mit Frankreich, eine operativ wichtige Rolle, bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die auf Frieden im Donnas zielen. Kanzler und Außenministerin sollten sich intensiv gegenüber Moskau engagieren, aber bitte in engster Abstimmung mit der EU und insbesondere mit den unmittelbar gefährdeten östlichen Partnerländern. Wir dürfen dabei die erhebliche deutsche Glaubwürdigkeitslücke wegen Nord Stream 2 nicht außer Acht lassen.
Für Deutschland ist Nord Stream 2, die Gasleitung von Wyborg nach Lubmin, in die Auseinandersetzung mit Russland verwoben. Kanzler Olaf Scholz sagt kühl, die Inbetriebnahme sei eine unpolitische Entscheidung einer Behörde, der Netzagentur. Wie weit kommt er mit dieser Ausrede?
Richtig ist, dass die Bundesnetzagentur und die EU-Kommission zur Zeit einen bürokratischen Entscheidungsprozess zur Zertifizierung der Pipeline durchführen. Aber natürlich ist Nord Stream 2 längst zum Gegenstand geostrategischer Auseinandersetzungen geworden, nicht zuletzt durch die deutsch-amerikanische Vereinbarung vom Juli 2021, mit der Deutschland sich unter anderem zu Maßnahmen verpflichtet, sollte Russland die Gasl-Lieferungen als Waffe einsetzen. Also, es handelt sich um ein hochpolitisches und stark umstrittenes Projekt von strategischer Bedeutung, das die Glaubwürdigkeit deutscher Politik einem erheblichen Stress-Test aussetzt.
Die Verträge für Nord Stream 2 hat Gerhard Schröder in seinen letzten Kanzlertagen unterzeichnet, Lubmin liegt in Mecklenburg-Vorpommern, das Manuela Schwesig regiert, Scholz ist SPD-Kanzler.Ist die Gasleitung eine SPD-Leitung?
Die Regierung Merkel hielt 16 Jahre lang an dem Projekt gegen alle Einwände fest. Daran darf die CDU erinnert werden.
Was würden Sie der Ampel-Regierung empfehlen: Nicht-Inbetriebnahme bis zum Rückzug der Soldaten von der Grenze zur Ukraine?
Ich würde dringend empfehlen, einerseits Putin völlig im Unklaren über unsere Reaktion im Falle militärischer Aktionen zu belassen. Russland sollte befürchten müssen, dass die Pipeline stillgelegt wird. Dazu würde ich der deutschen Regierung engste Abstimmung mit unseren östlichen Partnern, einschließlich der Ukraine, nahe legen.
Im Jahr 2005, als der Vertrag mit Gazprom zustande kam, lagen die Verhältnisse anders. Seither veränderte sich Putin zur Kenntlichkeit.Ist es aus heutiger Sicht nicht verhängnisvoll, dass sich Deutschlandvon Russland energiepolitisch abhängig macht?
Deutschland ist ja nicht das einzige Land in Europa, das auf mittlere Sicht auf Gas angewiesen bleibt. Wo sind denn nach Kohle- und Atomausstieg die besseren Alternativen? Unabhängig davon war und ist die deutsche Nord-Stream-Politik das Gegenteil eines diplomatischen Meisterstücks. Sämtliche östliche Nachbarn sowie das Europäische Parlament, dazu Frankreich und die USA zugleich derart massiv zu vergrätzen und damit die eigene europapolitische Glaubwürdigkeit zu untergraben – so viel selbstverschuldetes Missgeschick ist der deutschen Außenpolitik schon lange nicht mehr passiert.
Die neue Außenministerin hat neulich von wertegeleiteter Außenpolitik gesprochen. Ist das ein Maßstab, der Ihnen einleuchtet?
Die deutsche Außenpolitik war von je her wertegeleitet. Entscheidend ist, ob es gelingt, Werte und Interessen in Einklang zu bringen.
Welchen Eindruck haben Sie von Annalena Baerbock gewonnen?
Viel hängt davon ab, ob es ihr gelingt, die ersten Monate als erste deutsche Außenministerin fehlerfrei hinter sich zu bringen. Bisher ist ihr dieses Kunststück nach meinem Eindruck gut gelungen. Der professionelle Apparat des Auswärtigen Amtes hilft ihr dabei.
Haben Sie Vertrauen in die Ampel-Regierung und was erwarten Sie sich von ihr?
Ich erhoffe mir einen Aufbruch nach einem Jahrzehnt des Status-quo-Denkens. Dass wir in der Digitalisierung Nachholbedarf haben, sollte jedem spätestens in der Pandemie klar geworden sein. Vor allem aber erhoffe ich mir mehr Mut zur Führung, nicht nur in der Klimapolitik.
Sie sind ein Diplomat aus der Genscher-Schule. Was kann deutsche Diplomatie nach Ihrer Erfahrung erreichen und worauf sollte sie sichbeschränken?
Deutschland kann und muss der „Enabler“ für eine handlungsfähigere Europäische Union sein. Wenn wir unsere politisch-ökonomische Macht zu Gunsten einer geeinigten und respektierten EU einsetzen, liegen wir richtig. So kann die neue Bundesregierung auch ihrem Versprechen, mehr Führungsverantwortung zu übernehmen, am besten gerecht werden. Dabei wird Rücksichtnahme auf die kleineren EU-Mitglieder wichtig sein, die sich niemals marginalisiert fühlen dürfen. Zugleich sollten wir in der Außenpolitik nicht vor Überlegungen zu einem Kerneuropa zurückschrecken. Das Tempo der EU darf nicht vom Langsamsten definiert werden.
Dass Deutschland eine größere Rolle in der internationalen Politik spielen sollte, ist fast ein Gemeinplatz. Welche Empfehlungen würden Sie dem Kanzler und seiner Außenministerin geben?
Bitte außenpolitisch mit einer Stimme sprechen, mit oder ohne nationalen Sicherheitsrat. Und: Die G7- Präsidentschaft im Jahr 2022 beherzt nutzen, um die westliche Welt aus der Defensive herauszuführen.
Die Münchner Sicherheitskonferenz, die Sie leiten, ist ein Tummelplatz für internationale Konfliktzonen wie die Ukraine. Findet Sie wie geplant im Februar statt und mit wem?
Ich bin gedämpft optimistisch, dass wir trotz Omikron eine richtige, also nicht nur virtuelle Konferenz organisieren können. Sicher aber wird die Zahl der Teilnehmer massiv reduziert sein und wer da ist, muss sich täglich PCR-Tests unterziehen. Schon jetzt haben sich zahlreiche hochrangige Delegationen aus der ganzen Welt angemeldet.
Sie geben die Konferenz-Leitung danach ab. Was war ein besonders guter Augenblick für Sie in Ihren 14 Jahren, was ein besonders weniger guter?
Es gab seit 2008 eigentlich keine negativen Erlebnisse, aber wirklich viele Höhepunkte, die sich mir ins Gedächtnis eingebrannt haben. Der jüngste Höhepunkt war der erstmalige – wenn auch virtuelle – Auftritt eines amtierenden US-Präsidenten im Februar 2021 mit der Botschaft: We are back! Besonders erfreulich ist für mich persönlich, dass ich vor drei Jahren die Münchner Sicherheitskonferenz mit ihrem großartigen Team in eine von mir gegründete Stiftung einbringen konnte. Als Chef der Stiftung werde ich der Konferenz eng verbunden bleiben und meinen Nachfolger Christoph Heusgen tatkräftig unterstützen.
Herr Ischinger, danke für das Gespräch.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.
Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden
Desmond Tutu ist tot. Lehrer. Priester. Freiheitskämpfer. Nobelpreisträger. Vor allem dieses ansteckende Lachen, diese Heiterkeit, aus der Tiefe humanistischer Gesinnung. Wo keine Gerechtigkeit herrscht, kann kein Frieden einziehen, sagte er. Gemünzt war dieser schöne, kluge Satz auf die Apartheid in seinem Land, das Höchstmaß an Ungerechtigkeit, aber damit kanzelte er auch Jacob Zuma ab, den Kleptomanen unter den Mandela-Nachfolgern.
Außer den weißen Südafrikanern mochte so gut wie jeder diesen fröhlichen Mann Gottes, der Gewalt nicht mit Gegengewalt bezahlen wollte, sondern es mit Gandhi hielt, dem König der Friedfertigkeit, die jede Gewalt ins Unrecht setzt und die Herrschenden in die Machtlosigkeit trieb, nachdem sie, natürlich, viel zu viele Menschen umgebracht, eingesperrt oder vertrieben hatten.
Tutu ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass wir Menschen eine Sehnsucht nach souveränen Vertretern unserer Gattung haben, die uns ein Beispiel geben: für Zivilcourage, für Langmut, für Moralität der Gesinnung, für Charakter, für den Glauben an eine höhere Macht. Deshalb mochten ihn die Menschen, wo immer er auftauchte, seine sonoren, kraftvolle Stimme erhob und alle Lügen strafte, die da meinten, Gewalt müsse auf Gewalt treffen, Blut auf Blut, Unrecht auf Unrecht. Nicht alle Menschen konnten Desmond Tutu in seinem Glauben an Gott folgen, aber achten konnten sie seinen Glauben, aus dem er die Menschlichkeit schöpfte, die ihn auszeichnete.
Nun ist er gestorben. Hochbetagt. Menschen wie er reißen eine Lücke, von der wir nur hoffen können, dass sie andere irgendwann schließen. Möge er in Frieden ruhen. Ihm wäre zu gönnen, dass sein Glaube im Jenseits eine Heimstatt findet.
Das höllische Problem
In diesen Tagen lässt sich erstmals die Methode Scholz studieren. Vorsichtig wirft er kleine Steine ins Wasser und beobachtet die zarten Wellen, die er damit erzeugt. Über die trickreiche Gas-Pipeline Nordstream 2 sagte er, die Entscheidung über die Inbetriebnahme obliegt der Bundesnetzagentur, einer Behörde, die nach behördlichen Richtlinien arbeitet, und nicht etwa ihm, dem Bundeskanzler.
Die Außenministerin gab einen anderen Hinweis. Nordstream 2 müsse europäisches Recht einhalten, wozu gehört, dass der Gasproduzent keine Pipelines betreiben darf. Auch Annalena Baerbock lässt ein Sternchen zu Wasser und beobachtet unschuldsvoll den Wellenschlag.
Beide betreiben die Reduktion des Komplexen. Darin liegt der übliche Vorgang in der Politik, die tagaus, tagein aus komplexen Problemen besteht, die zur besseren Behandlung aufs Verständliche herunter gebrochen wird. Routine sozusagen. Der Vorteil liegt darin, dass die Handelnden hinter dem Problemen zuerst einmal verschwinden, indem sie sich auf Technisches berufen, eben auf die Bundesnetzagentur oder Europarecht.
Natürlich glaubt weder der Bundeskanzler noch die Außenministerin daran, dass sie mit dieser Reduktion des Komplexen durchkommen. Eine Etappe ist das, nicht mehr. So weit waren die Vorgänger in beiden Ämtern auch schon, sie wollten sich ähnlich herausreden und sind genau so daran gescheitert.
Nordstream 2 ist zu einem höllischen Problem für die deutsche Regierung geworden und zudem ist es ein tückisches Erbe der SPD. Der Urheber arbeitet heute für den russischen Monopolisten Gazprom und heißt Gerhard Schröder. In seinen letzten Amtstagen als Bundeskanzler unterzeichnete er 2005 die Verträge. Durch den Übertritt in die Gazprom-Dienste kurz darauf war dieses Erbe von Anfang an vergiftet.
Zugegeben lagen die Verhältnisse damals anders. Wladimir Putin veränderte sich seither zu neuer Kenntlichkeit. Heute ist das Problem beispiellos komplex und liegt längst nicht mehr in deutschen Händen allein.
100 000 Soldaten hat Russland an die Grenze zur Ukraine verlagert. Warum wohl? Um den Westen zu erpressen. Entweder ihr verzichtet auf jedwede Einmischung in der Ukraine (und Georgien dazu) oder wir sorgen für klare Verhältnisse – diese Botschaft sendet Putin. Entweder er sichert uns vertraglich zu, dass die Ukraine genauso wir Georgien in unserer Einflusszone liegt oder wir nehmen uns, was zu uns gehört und ihr könnt gar nichts dagegen machen oder wollt ihr etwa deswegen einen großen Krieg anfangen?
Zur ganzen Wahrheit gehört, dass einmalige Chancen zu dauerhaftem Frieden und friedlicher Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen vertan wurden, wobei in der ersten Etappe der Westen fahrlässig handelte. Nach der Wiedervereinigung war vieles möglich, sogar die Aufnahme Russlands in die Nato schien nicht ausgeschlossen zu sein. Noch am 25. September 2001 hielt Putin im Bundestag eine vielbeachtete Rede, in der er den Kalten Krieg endgültig für beendet erklärte.
Dann die Rosenrevolution in Georgien 2003. Dann die orangene Revolution in der Ukraine 2004/05. Demokratie und Orientierung nach Westen. Beitritt zu EU und/oder Nato als Absicherungswunsch. Wohlwollen im Westen. Schwenk in Moskau mit Verratsvorwürfen. Kurzer Krieg gegen Georgien. Annexion der Krim und Stellvertreterkrieg In der Ostukraine.
Eigentlich gab es schon 2005 gute Gründe, keinen weiteren Vertrag zur direkten Lieferung von Gas, an der Ukraine vorbei, nach Deutschland abzuschließen. Jetzt ist das Röhrensystem fertig, kostete 8 Milliarden Euro. Lubmin, der Ankunftsort, liegt in Mecklenburg-Vorpommern, wo Manuela Schwesig Ministerpräsidentin mit riesigem Interesse an der Inbetriebnahme amtiert und in Berlin regiert Olaf Scholz. Nordstream 2 ist ein Baby der SPD und deshalb muss der Kanzler irgendwann sagen: ich würde das Ding gerne wollen, aber ich kann nicht.
Die Europäische Union stellte das Junktim auf, dass Produzent und Netz nicht in einer Hand liegen darf. Eine Lex Putin. Polen und die baltischen Staaten sind entschieden dagegen, dass Deutschland Deals mit Russland in dieser Dimension eingeht. Die USA sind gegen Nordstream 2, vermeiden aber einen Grundsatzkonflikt mit der Bundesregierung. Die Pipeline ist ein deutscher Sonderweg, der Misstrauen allüberall erzeugt.
Ein enormes strategisches Problem. Ein außenpolitisches Problem, das die Beziehungen innerhalb von Nato und EU verschlechtert. Abhängigkeit von einem auf Erpressung gepolten Autokraten. Ein Problem zwischen Ost und West im neuen Kalten Krieg. Die Ukraine als Spielball der Weltpolitik.
Mehr Komplexität geht nicht. Deutschland muss sich entscheiden. Auf den Bundeskanzler kommt es an. Unter diesen Umständen muss sich Olaf Scholz aus übergeordneten Interessen gegen das Baby der SPD wenden. Diesmal gilt, was selten gilt: Diese Entscheidung ist alternativlos.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.
Zwischenruf: Don’t overshare
Gerade eben habe ich gelesen, dass eine junge Frau namens Ricarda Lang, sie ist 27 Jahre alt, Bundesvorsitzende der Grünen werden möchte. Das ist nicht nur in Ordnung, sondern natürlich auch eine interessante Nachricht. Die Lücke, die Annalena Baerbock und Robert Habeck reißen, muss schließlich gefüllt werden. Ricarda Lang sitzt im Bundestag, stammt aus Nürtingen, die Mutter erzog sie alleine. Sie soll analytisch stark sein und weiter denken als andere, sagen andere über sie. Solche Leute brauchen die Grünen und braucht das Land. Dass sie das Studium abgebrochen hat, stellt sie in eine Reihe mit Paul Zimiak und Kevin Kühnert. Politik wird dann zur einzigen Option. Halte ich persönlich für ein Problem in einer Berufswelt, in der man sich besser etliche Optionen eröffnet.
Mehr noch beschäftigt mich, dass es in dem Artikel in der „Berliner Morgenpost“ heißt, sie sei „offen bisexuell“. Warum muss ich das wissen? Zeichnet sie sich dadurch aus? Was sagt diese Information über das aus, was sie politisch will, was die Grünen von ihr haben könnten? Dass sie daran arbeiten will, aus den Grünen die führende progressive Kraft zu machen, liegt nahe, da die Partei schon mal eine Kanzlerkandidatin aufstellte und bei der Bundestagswahl unter ihren Möglichkeiten blieb. Wenn sich das nächste Duo, Omid Nouripour bewirbt sich für die Realos, daran macht, die Grünen zu stärken, ist das nur folgerichtig.
Nouripour hat übrigens versäumt, uns mit seiner sexuellen Orientierung zu belästigen. Gut so. Im übrigen dachte ich bisher, wir sind weiter, es ist selbstverständlich, dass Menschen unterschiedlich sind, in vielerlei Hinsicht, und dass die Zeit vorbei ist, daraus ein großes Ding zu machen. Ich könnte mich jetzt auch über Identitätspolitik und deren Verdienste wie Tücken auslassen. Will ich aber nicht. Nur so viel: In Amerika sagen sie zu einem Übermaß an nicht unbedingt erkenntnisfördernder Information: don’t overshare.
Schau mer mal
Wie das eben so ist, wenn eine neue Regierung loslegt, bilden sich sofort wilde Gerüchte, die raunend verbreitet werden. Das eine Gerücht geht so: Die Grünen sagen sich, wenn es eine oder einer von ihnen nicht schafft, wechselt Cem Özdemir ins Außenministerin und Anton Hofreiter, der hinterrücks ausgetrickst worden ist, darf endlich Landwirtschaftsminister werden. Das setzt voraus, dass es Annalena nicht packt, womit sie rechnen, die Grünen, die solche Gedankenspiele anstellen. Das andere Gerücht kursiert unter Sozialdemokraten und kreist um den Finanzminister. Ob der’s wohl schafft, dieses anspruchsvolle Ministerium? Ist nicht besonders vorgebildet, der Gute, ja ja. Dem war ja nicht mal der Oskar gewachsen, damals, und der wusste eigentlich Bescheid.
Gegen Gerüchte ist natürlich kein Kraut gewachsen. Und dass der eine oder die andere scheitert, ist gut möglich. Aber genauso gut möglich ist es, dass weder die Außenministerin noch der Finanzminister scheitert. Und falls einer oder einer scheitern sollte, ist es genauso wenig ausgemacht, dass es Annalena Baerbock ist oder Christian Lindner. Beide wollten genau diese Ämter. Beide haben sich präventiv eingearbeitet und mit kundigen Leuten geredet. Das feit nicht vor Fehlern, aber naiv gehen sie nicht ans Werk.
Ich kenne Christine Lambrecht nicht, doch es sieht so aus, als sei sie davon überrascht worden, dass sie nicht Innen-, sondern Verteidigungsministerin wurde. Schwierig, schwierig, da kommt niemand ungeschoren davon. Damit will ich nicht sagen, dass es ihr schlecht ergehen muss. Im Außenministerium wird Baerbock behütet und von Profis umstellt, die ihr helfen, wo es nötig ist. Im Verteidigungsministerium aber lagern Sprengsätze allüberall und können jederzeit hochgehen, egal wie kompetent die Ministerin ist.
Ich neige dazu, den Neuen Schonfrist zu gewähren. Sie sollen erst einmal machen, dürfen auch Fehler begehen und dann können wir ja sehen, wie sie sich dazu verhalten. Wie beim Tennis sind jedoch die unforced errors entscheidend – Fehler, für die sie persönlich verantwortlich sind und nicht die Probleme oder Umstände oder die Ratgeber.
Also macht mal. Und dann schau mer mal.