Die Tücken des Impeachments

Ich höre gerade der Debatte über das zweite Impeachment im Repräsentantenhaus zu. Das Argument der Republikaner lautet: Hat doch keinen Sinn mehr, in einer Woche ist er eh weg, was soll jetzt noch ein Impeachment! Das Argument der Demokraten lautet: Trump leugnet beharrlich, dass er verloren hat, er lügt noch immer und hetzte seine Anhänger auf, so dass sie das Capitol stürmten, dafür muss er amtsenthoben werden, im Zweifelsfall nach dem 20. Januar!

Beide haben recht. Es ist zu spät, das Impeachment-Verfahren überschattet die Amtseinführung Joe Bidens und vertieft den Hass und die Rachegelüste im Land. Und die grellen Lügen und die systematische Hetze dieses Präsidenten müssen bestraft werden.

Die Frage ist nun: Wer bekommt recht? Falls sich im Senat nicht 17 Republikaner finden sollten, die dem Impeachment zustimmen, ist Trump Gerechtigkeit widerfahren und er darf niemals wieder ein staatliches Amt innehaben. Falls sich aber diese 17 nicht finden sollten, wovon man ausgehen muss, dann gehen die Demokraten in die Geschichte ein, weil sie sage und schreibe zwei Impeachments gegen einen Präsidenten vergeblich anstrengten.

Beim ersten Mal liefen sie sehenden Auges in die Niederlage. Niederlagen schwächen. Niederlagen, ohne Aussicht auf Erfolg erlitten, sind eine Katastrophe. Aus der Depression befreite Donald J. Trump die Demokraten mit seinem unglaublichen Verhalten, erstens mit seiner Gleichgültigkeit in der Pandemie und zweitens durch sein We-love-you und You-are-very-special an seine Anhänger aus Q-Anon, Proud Boys etc., die in aller Ruhe das Capitol gestürmt und eingenommen hatten.

Die Republikaner haben einen Kompromiss angeboten: Rüge für Trump, aber kein Impeachment. Mit einer Rüge war Bill Clinton davon gekommen, als ihn die Republikaner impeachen wollten. Clinton hatte die Lüge zur Kunstform erhoben und somit den Grundstein für Trump gelegt: I didn’t have sex with this woman, Ms. Lewinski. Die Ejakulationsflecken auf ihrem Rock erzählten eine andere Geschichte.

Die Alternative der Demokraten lautete hiermit so: Begnügt euch mit einer Rüge, überlasst Trump den Gerichten oder geht das Risiko ein, noch mal mit einem Impeachment am Senat zu scheitern. Sie zogen es vor, das Risiko einzugehen. Ich befürchte, das war nicht sehr weise und wird Joe Biden daran hindern zu tun, was er sich vorgenommen hat, nämlich den Hass und die Zwietracht in Amerika abzubauen, was dringend notwendig wäre.

Aus dem Kulturkampf ist ein latenter Bürgerkrieg geworden. Donald Trump hat ihn gewonnen, wenn er wieder nicht amtsenthoben wird. Die Demokraten, die den Kongress beherrschen, sind dann empörungsgeneigte Moralisten, die den Umgang mit Macht erst wieder lernen müssen, aber bitte möglichst nicht von den Clintons.

Der eine ist ein Risiko, der andere reißt niemanden vom Hocker

Seit elf Monaten ist die CDU eine führungslose Partei. Dieser Umstand fiel einerseits nicht besonders ins Gewicht, weil da ja noch die Bundeskanzlerin war, die in der Pandemie eine Wiederauferstehung feierte. Andererseits ist der Kontrast zwischen den drei Kandidaten und Angela Merkel riesengroß und wird nicht kleiner, so lange Deutschland im Bann des Virus steht – also ungefähr bis zur Bundestagswahl am 26. September.

Eigentlich stand die CDU immer im Verdacht der Machtversessenheit. In der Mehrzahl der Jahre stellte sie den Kanzler seit 1949. Darin sah sie selber so etwas wie ein Naturrecht und die drei  SPD-Kanzler als Irrtümer der Geschichte. Immer war da jemand in der CDU, der unbedingt regieren wollte. Jetzt aber sagte Armin Laschet im Interview mit „Bild am Sonntag“, es sei „nicht gottgegeben, dass die CDU auch den nächsten Kanzler stellt“.

Das ist ein hübsch vieldeutiger Satz. Er stimmt insofern, als sowohl Helmut Kohl als auch Angela Merkel einem CSU-Machtmenschen den Vortritt lassen mussten, Strauß und Stoiber, ehe beide 16 Jahre regieren durften. Er kann auch als Einsicht verstanden werden, dass der Höhenflug der CDU in der Pandemie der Kanzlerin zu verdanken ist. Die Konsequenz daraus kann sein, dass die CDU ohne Angela Merkel allenfalls bei 30 Prozent liegt und damit in Reichweite der lieben, netten Grünen, die gut im Wind liegen, weil die Deutschen Harmonie zu schätzen wissen.

Tückischer ist der tiefere Sinn des Satzes, der ungefähr so zu verstehen ist: Wenn ihr, liebe Parteifreunde, auf die Idee verfallen solltet, mir den Friedrich Merz vorzuziehen, dann gefährdet ihr unsere Kanzlerschaft. Gemeint ist damit, dass der Kanzlerkandidat Merz der Lieblingsgegner von Grünen wie SPD wäre, denn er bedeutet Polarisierung, die ihnen vermutlich zugute käme. In diesem Zusammenhang ist die erstaunliche Proklamation zu verstehen, die Olaf Scholz in der vorigen Woche einfach mal so von sich gab: Ich will Kanzler werden, sagte er mit der nonchalanten Selbstverständlichkeit, mit der er sonst Corona-Hilfen in Aussicht stellt. Denn er glaubt, dass Merz die SPD auf 25 Prozent hochtreibt.

Na ja, darf Scholz so wagemutig sagen, müssen wir nicht glauben, aber das Prinzip stimmt: Merz inspiriert nach innen und spaltet nach außen, was der Demokratie nicht schaden muss, aber der CDU schaden kann.

Friedrich Merz wird dem CDU-Imperativ nach Machtversessenheit als Voraussetzung für Machtgewinn gerecht, das ist sein Vorteil. Er will Kanzler werden. Er argumentiert weltläufig und angstfrei, was ihn immer wieder anecken lässt, aber sei’s drum. Konsens ist gut, Konflikt kann zur Klärung beitragen. Wer unter den CDU-Delegierten so denkt, wählt in dieser Woche Merz. Dann gibt es einen Parteivorsitzenden, der umstandslos die Kanzlerschaft anstrebt. Basta!

Natürlich gibt es noch einige andere Überlegungen, welche die 1001 Delegierten anstellen mögen. Zum Beispiel diese: Kann Merz am 26. September die CDU auf 33, 34 oder gar 35 Prozent hieven? Und mit wem will er regieren – mit den Grünen? Wohl kaum, machen sie nicht. Mit der FDP? Reicht allein bestimmt nicht. Gemeinsam mit FDP und SPD? Doch wohl kaum.

Gut möglich aber, dass sich gegen die Merz-CDU eine andere Regierung bilden ließe – zum Beispiel aus SPD, Grünen und FDP, wobei dann ein Grüner oder eine Grüne ins Kanzleramt einziehen würde, nach jetzigem Stand der Dinge. Ist jedenfalls wahrscheinlicher als die lauen Merz-Optionen. Weniger wahrscheinlich wäre das andere Modell: SPD plus Linke plus Grüne – rechnerisch vielleicht möglich, politisch aber unerwünscht.

So gesehen stellt die Wahl von Friedrich Merz für die CDU ein Risiko dar. Und deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass sich die 1001 Delegierten am Ende auf Armin Laschet einigen. Leidenschaftslos. Illusionslos. Das Weiter-So, das er bedeutet, reißt niemanden vom Hocker. Aber immerhin hat Laschet als einziger der Drei schon mal eine Wahl gewonnen. Er verbindet Härte mit Wärme und ist ein Integrationskünstler. Am wichtigsten aber: Er bedeutet kein Risiko und bietet die Option, mit den Grünen zu regieren, die Merz nicht hat.

Soweit man Umfragen trauen darf, liegen Laschet und Röttgen und Merz  noch nahe beieinander. Röttgen ist ein achtbarer Kandidat, der dafür sorgen wird, dass keiner der Drei im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht. Also treten die beiden Kandidaten, die vorne liegen, gegeneinander an. Ziemlich spannend, dauert ziemlich lange, weil ja Briefwahl herrscht. 

Die fiebrige Hitze eines normalen Parteitages fehlt diesmal. Kandidatenreden aus dem Off können kaum eine Wende bringen. Die Umstände entemotionalisieren die Wahl, machen daraus eine Geisterabstimmung oder eben einen rationalen Akt. Und damit kommt diese Wahl eines Parteivorsitzenden, ungewohnt wie sie ist, dem Idealbild einer demokratischen Wahl nahe, bei der ja der Verstand die Entscheidung fällen soll.

Es gibt noch einen wichtigen Unterschied zwischen Merz und Laschet. Merz würde sofort den Kanzler spielen, der er noch nicht ist. Er würde in Konkurrenz zur Kanzlerin treten, die ihn vor vielen Jahren in die Wüste schickte, was er nicht vergessen kann. Da Merz kein Amt hat, muss er die Kanzlerin zwangsläufig zur Seite drängen, was ihm aber wohl kaum gelingen sollte. Folglich würde er sich mit seiner Ungeduld selber schwächen.

Laschet ist Ministerpräsident und hat eine Bühne. Also muss er nicht mit den Hufen scharren. Sein Problem liegt woanders: Gewinnt er im zweiten Wahlgang, fehlt es ihm an Autorität, folglich fällt ihm die Kanzlerschaft nicht zu.

Schauen wir uns mal die Lage aus der Sicht von Markus Söder an. Merz bedeutet: Das war’s dann, ich bleibe in Bayern und bin ansonsten weiterhin 12 Jahre jünger als Merz, mal schauen, ob der mit dann über 70 noch mal antreten wird. Laschet bedeutet: Die CDU soll mir mal den roten Teppich ausrollen, damit ich Kanzler werden kann, anders als Strauß und Stoiber.

Die CDU wählt einen Vorsitzenden und das ganze Land muss darauf hoffen, dass sie die richtige Wahl trifft. Denn auf den Kanzler kommt es an, wenn die Kanzlerin, auf die wir uns in Krisen verlassen konnten, ihren Abschied nimmt.

Veröffentlicht auf t-online, heute.

Isch over! Isch over?

Auf Netflix gibt es die Serie „Designated Survivor“, den Kiefer Southerland spielt. Er ist ein netter Kerl, anständig und zu wenig machtbewusst, um mehr als ein unbedeutendes Mitglied im Kabinett des Präsidenten zu sein. Austauschbar. Zweitrangig. Während alle wichtigen Menschen im Weißen Haus und in den Ministerien im Capitol versammelt sind, harrt er aus im Weißen Haus für den Fall, dass etwas passiert – organisiert als Überlebender, wie es die Verfassung vorsieht. Und es passiert etwas, ein Anschlag, eine mörderische Explosion, ein Akt des Terrorismus, dem das gesamte Establishment zum Opfer fällt. Worauf der nette Kerl Präsident sein muss und das Machtbewusstsein in sich entdeckt, selbstverständlich nur aus Redlichkeit, aus Patriotismus.

So etwas Schlichtes, so etwas Plattes wie einen Sturm aufs Kapitol von Amerikanern mit Flagge und Trump-Plakaten wäre keinem der phantastischen Drehbuchschreibern eingefallen, die wunderbare Serien aus sentimentaler Phantasie schreiben. Jungs, die Fassaden hochklettern und Fenster einschlagen. Abgeordnete, die sich im Sitzungssaal verbarrikadieren. Leibwächter mit gezogener Waffe an der Tür. Ein Vizepräsident, der von Sicherheitsleuten in Sicherheit bugsiert wird. Stundenlange Belagerung drinnen und draußen.

Das FBI untersteht dem Justizminister. Die Nationalgarde untersteht dem Präsidenten. Die Capitol Police untersteht dem Kongress. Die Metropolitan Police darf nur Hilfsdienste leisten. Das Kapitol ist Bundesgebiet. Der Präsident tätschelt die Belagerer: We love you, you are very special. Der Verteidigungsminister kontaktiert den Vizepräsidenten im Versteck und dann endlich wird die Nationalgarde alarmiert. Und stundenlang diese Fernsehbilder von den Stufen des Kapitals, auf denen Trump-Anhänger in aller Ruhe stehen und sich unterhalten und die Macht genießen, die sie sich unter dem Beifall des Präsidenten genommen haben.

Was nun?

  1. Pence macht ernst und sorgt dafür, dass der Präsident abgesetzt wird, da er den Mob aufgewiegelt hat, vors Kapitol geschickt hat und damit politisch für den Irrsinn verantwortlich ist.
  2. Es gibt einen Massenexodus aus dem Weißen Haus, weil Trumps Mitarbeiter befürchten müssen: mitgefangen mitgehangen.
  3. Trump verlässt das Weiße Haus, weil ihm nur noch Figuren wie Rudy Giuliani bleiben, während das republikanische Establishment, gedemütigt bis auf die Knochen, sich nun doch tatsächlich in Scharen von ihm lossagt. Wenn Lindsay Graham und Mitch McConnell markige Worte über die Vorgänge am Mittwochnachmittag finden, selbstverständliche ohne Nennung des Verantwortlichen, ist Ende angesagt. Isch over.
  4. Trump wird wegen Aufwiegelung und Anstiftung zum Sturm aufs Kapitol verhaftet. Im Land brechen überall Folgeunruhen aus, weil der tiefe Staat, von dem Trump gefaselt hat, dem Wahnsinn ein Ende macht.
  5. Die Belagerer landen reihenweise vor Gericht, weil sie dumm genug waren, ihr Gesicht in die Handys zu halten.
  6. Es passiert gar nichts. Trump röhrt weiter, eben nicht mehr auf Twitter, sondern auf anderen Kanälen. Am 19. Januar verlässt er unter Absingen hässlicher Lieder das Weiße Haus, in das Joseph Biden jr. ohne den üblichen Pomp und Circumstances einzieht.
  7. Nach dem 20. Januar, nicht mehr immuner Präsident, kommt Donald Trump vor Gericht: wegen Aufwiegelung, wegen Steuerhinterziehung, wegen Behinderung der Justiz etc. Mit ihm Rudy Guiliani et altera.

Schau mer mal.

Es reicht noch nicht, mehr muss sein – härter, schärfer

Immer wieder stellt uns diese verdammte Pandemie vor Fragen, die niemand richtig beantworten kann. Uns bleiben nur vorläufige Antworten. Das ist unbefriedigend, nervt, bringt vieles durcheinander, macht den Spaß an der Planung des nächsten Urlaubs, macht die Freude auf die nächste Feier mit Freunden zunichte.

Warum lassen sich die Zahlen an Infizierten (insgesamt 1,8 Millionen bis heute) und Toten (mehr als 35 000 bis heute) nicht eindämmen? Im Oktober wollte die Kanzlerin stärkere Einschränkungen und die Ministerpräsidenten wollten schlauer sein und waren es nicht. Wer kann aber behaupten, dass härtere Einschnitte damals für geringere Zahlen heute gesorgt hätten? Länder wie Österreich oder Frankreich haben früher und entschiedener als Deutschland reagiert und sind keineswegs besser dran.

Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow ist der einzige, der scharfe Selbstkritik übt. Er gibt zu, dass er sich geirrt hat. Er sieht ein, dass mehr sein muss. Er schwenkt um und ging mit dem Vorsatz in die Videokonferenz mit der Kanzlerin, er werde für Maßnahmen plädieren, die „noch viel schärfer und viel härter“ ausfallen. Präzisiert hat er seine Wünsche nicht.

Die Kanzlerin war da genauer. Sie schlug vor, dass Kreise mit einem Inzidenzwert von mehr als 100 Ausgangssperren einführen sollten – wenn sich also innerhalb der letzten sieben Tage mehr als 100 von 100 000 Menschen infiziert haben. Den SPD-geführten Länder ging dieser Vorschlag zu weit. Aber war es nicht schön häufiger so? Wollte die Kanzlerin nicht immer mal wieder weitergehen als die Ministerpräsidenten? Und wem gab die Entwicklung recht?

Der Kompromiss lautet so: Nun dürfen sich die Menschen, die in einem Gebiet mit einer Inzidenz von 200 leben, nur noch in einem Radius von 15 Kilometern bewegen. 

Ab und zu müssen wir uns sagen, dass wir alle in dieser Pandemie dazulernen, die einen mehr, die anderen weniger. Nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Pandemien sind eben so, sie machen aus Gesellschaften Lerngemeinschaften, aus Regierungen epidemiologische Oberseminare.

Was haben wir nicht schon alles gelernt. Das Virus greift die Alten an, das war Phase 1 im Frühjahr. Die Urlauber verbreiten das Virus, das war Phase 2 im Sommer. Die  Corona-Partys im Park und Clan-Hochzeiten sind Superstreader, das war Phase 3 im Frühherbst. Das Virus mutiert und verbreitet sich so noch schneller, das ist Phase 4 seit Dezember. Und woran liegt es, dass die Zahlen so hoch bleiben?

Was tun? Bei der Pressekonferenz mit der Kanzlerin, Markus Söder und Michael Müller war von Rücksicht auf den Wirtschaftskreislauf und das Grundrecht auf Freiheit wenig zu hören, zumal die Horrorzahlen vom Arbeitsmarkt ausbleiben. Auch mit der Erörterung von Gründen für die neuen Einschränkungen im Privaten hielten sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten nicht lange auf. Die Zahlen sprechen für sich. Die Zahlen verlangen nach härter und schärfer.

Am schwersten fiel der Kanzlerin und den Länderchefs die Regelung für Kitas und Schulen. Kinder gelten als ideale Überträger, da sie selber vom Virus verschont bleiben, ihn aber weitergeben. Morgens und nachmittags sind sie unterwegs, fahren Bus und Bahn, fangen womöglich Aerosole ein und geben sie weiter. Darüber reden sie in Berlin oder München intern, aber nicht extern und schon gar nicht laut..

Dass die Schulen zu bleiben, dass die Kitas nur Notbetreuung anbieten, spricht für die These von den Kindern als einer Quelle der Virus-Verbreitung. Für die Verlängerung dieses Lockwoods waren sämtliche Ministerpräsidenten zu haben, ausnahmsweise, das kommt ja nicht häufig vor. Dafür nehmen sie vieles in kauf: das Stöhnen der Eltern, die den Kleinbetrieb Familie organisieren müssen; das Stöhnen der Arbeitnehmer, die wieder mehr Heimarbeit der Angestellten zulassen müssen; das Stöhnen der Kinder, die genug vom digitalen Lernen haben.

In Etappen zu denken, auf Sicht zu beschließen, lässt sich gar nicht vermeiden. Also ist der 31. Januar der nächste Fixpunkt. Also müssen wir mit dem paradoxen Zustand zurecht gekommen, dass weiterhin viele Menschen erkranken und sterben, während es mit dem Impfen allmählich los geht, hoffentlich bald in höheren Mengen als in den ersten Tagen. 

Dass es nicht zügiger geht, ist schade und irritiert vor allem alte Menschen, die zuerst dran kommen. Wer ist schuld daran? Wahlweise der Gesundheitsminister, die Kanzlerin, die Europäische Union. Sagen die SPD, sagen Experten, sagen die üblichen Verdächtigen.

Ja, die Kanzlerin bevorzugte die europäische Lösung, weil sie europäisch denkt. Die EU hat schon im Sommer bei mehreren Firmen insgesamt zwei Milliarden Impfdosen bestellt, das war weitsichtig, das wird reichen. Damals schien das Tübinger Unternehmen Curevac am schnellsten zu sein, war es dann aber nicht, bis zur Zulassung seines Impfstoffs werden noch Wochen vergehen. Damals war von Biontech wenig Spektakuläres zu hören, von Moderna auch nicht viel, genauso wenig wie von AstraZeneca. Also lag es nahe, bei allen zu bestellen. Diversifizieren war sinnvoll. Hat die EU gemacht.

Im Nachhinein wissen wir vieles besser. Mehr Impfstoff hätte schneller bereit stehen müssen. Mehr Impfstoff müsste schneller produziert werden. Der Weg über die EU kostet Zeit. Alles richtig. Aber immerhin hat der Wettlauf mit dem Virus begonnen.

Noch wird infiziert und an Corona gestorben. Zugleich wird geimpft und bald schon schneller geimpft als in der stillen Zeit. Und irgendwann im Lauf des Jahres werden wir den Wendepunkt erreichen, an dem so viele Menschen geimpft sind, dass die Pandemie ihren Schrecken verliert. 

Veröffentlicht auf t-onlinde.de, heute.

Mein Vater

Heute wäre mein Vater 101 Jahre alt geworden. Er starb mit 88 einen friedlichen Tod, sofern man bedenkt, was ihm erspart geblieben ist: Demenz, Verlust seiner selbst, Qual, noch mehr Leiden, als ihm ohnedies beschert gewesen war. Er sah nicht mehr viel, hörte schlecht, war aber bis zuletzt bei Sinnen, was mich im Nachhinein noch mehr freut.

Das letzte Bild von ihm, das ich für immer im Kopf behalten werde, sah so aus: Mein Vater saß an seinem Schreibtisch im Wohnzimmer unseres Hauses, die Lupe in der Hand, Briefmarken vor sich. Antonia, seine 7-jährige Enkelin, kam neugierig näher, setzte sich auf seinen Schoß, genauer gesagt: auf seine Prothesen, und er zeigte ihr seine Briefmarken und versprach ihr, dass er ihr ein Album zusammenstecken werde.

Eine halbe Stunde sitzen die beiden einträchtig am Schreibtisch, Großvater und Enkelin, vertieft in die Briefmarkensammlung, und kein einziges Mal muss er in dieser Zeit husten. Das Karzinom in seiner Lunge hat ein Einsehen und lässt ihn in Ruhe. Sechs Wochen später setzt er sich in seinem Bett auf, nimmt ein Glas mit Wasser in die Hand, will trinken, kippt nach hinten und ist tot.

Je länger er tot ist, desto öfter und stärker denke ich an ihn. Eltern sind eine Brandmauer und sobald sie tot sind, wissen die Kinder, dass sie die nächsten sein werden, die sterben müssen, sofern die Biologie und nicht das Schicksal waltet. Je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass ich ihm ähnlich bin, im Bestreben fair und gerecht den Kindern und Enkeln gegenüber zu sein. Am liebsten habe ich wie er alle um mich und dann schaue ich mich zufrieden um, ohne dass ich, genauso wenig wie er, im Mittelpunkt stehen muss.

Mehr denn je frage ich mich, wie er mit dem Leben zurecht kam. Ohne Klage, zu der er jeden Grund gehabt hätte. Ohne Auflehnen gegen das Schicksal, das es nicht gut mit ihm meinte. Mit seiner Stoik, Kraft und Disziplin brachte er es im Laufe der Zeit zu einigem: zwei Söhne, einigermaßen gut geraten; 11 Enkel, einigermaßen gut geraten; ein Haus gebaut, die Welt bereist, so gut wie immer seine Wünsche so angelegt, dass sie sich erreichen ließen.

Sein Lebensgefühl interessiert mich heute mehr denn je. Der Grund seines Gemütes. Die Tiefe, die er war. Ein Bauernsohn aus dem Frankenwald. Mit 19 in den Krieg gezwungen. Mit 22 ein Krüppel oder freundlicher gesagt: kriegsversehrt, die Beine verloren – als hätte er sie verloren, irgendwo stehen lassen wie einen Mantel oder einen Hut. Angeschossen und Wundbrand. Nicht im Schnee bei Charkow liegen gelassen, sondern zurückgeschleppt von anderen, die er kaum kannte.. Mehr als zwei Jahre lang im Lazarett. Eine junge Frau kennengelernt, meine Mutter, die nach seinem Tod sagte, er hätte ihr damals so unendlich leid getan. Durchs Leben gekämpft, bis es leichter wurde, viele Jahre später.

In „Wolfszeit“, dem eindrucksvollen Buch von Harald Jähner, habe ich ein Gedicht gefunden, von dem ich mir denke, dass es sein Gemüt treffend beschreibt. Erich Fried schrieb es im Jahr 1945. Nie hat mein Vater lamentiert, nie geklagt. Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht:

Wir sind am Tod vorüber marschiert / und haben ihn hinten gelassen / weil auch der Tod den Atem verliert / in den stürzenden Gassen. / Wir ziehen auf Krücken bei euch ein / ist nichts mehr, was uns droht… / so lasst uns heute lustig sein / denn gestern waren wir tot.

Müde ist der Tod geworden, deshalb hat er Männer wie meinen Vater ausgelassen. Ein blinder Zufall verschonte ihn, während andere vor ihm, hinter ihm, neben ihm und über ihm krepierten. Krepieren ist kein schönes Wort, gibt aber wieder, worum es geht: Um diesen grauenhaft blinden Zufall, der Leben nach Belieben nimmt oder nicht. Die einen kommen nicht davon, die anderen schon. Denen, die davon kommen, bleibt das schlechte Gewissen, dass sie davon gekommen sind. Bleibt die Schuld.

Mein Vater ist nicht auf Krücken eingezogen, sondern auf Prothesen. Er hatte noch seine Kniee, denn amputiert wurden beide Beine 10 cm unterhalb. Er konnte einziehen, immerhin, was so vielen anderen verwehrt war. Ihm wäre es als Blasphemie erschienen, hätte er sich darüber beschwert, dass er kriegsversehrt war, während so viele andere vom Krieg verschlungen worden waren, als der Tod noch Atem besaß.

Vielleicht ist es aber auch so: Beschäftigung mit seinem Schicksal hätte ihn gelähmt. Deshalb schaute er nach vorne und nicht zurück. Freiwillig war er nicht in den Krieg gezogen. Nicht einmal ein Nazi war er gewesen. Aufs Verdrängen hatte er einen Anspruch. Verdrängen war sein Recht. Und wir, seine Söhne, müssen ihm dankbar dafür sein, dass er weitermachte, als verstünde es sich von selber, anstatt zu klagen, zu lamentieren. Nichts davon verstand sich von selber. Bis wir das verstanden, vergingen viele Jahre.

Die Eule der Minerva fliegt erst in der Dämmerung. In der Dämmerung meines Lebens fühle ich mich meinem Vater näher als zu seiner Lebenszeit.

Aus dem Archiv: Gespräch mit John Grisham

Ich habe gerade wieder einen Roman von John Grisham gelesen: „Das Manuskript“. Wieder ist es eine spannende Geschichte wie ein Pfeil. Wieder der Verzicht auf jede Metaebene. Wieder dieser Sog von der ersten Seite an. Ich beginne zu lesen und höre nicht mehr auf. Ich fange morgens an und lese die letzte Seite nachts. Ich kann nicht anders.

Anfangs habe ich Grisham gelesen, damit ich das amerikanische Rechtssystem besser verstehe. Durch ihn habe ich es besser verstanden. Seither lese ich seine Bücher, weil er sagt, er rechne jederzeit mit dem Ende seines Erfolgs. Und ich lese sie, weil ich fasziniert davon bin, dass er für seine Geschichten jeweils eine eigene Sprache findet. Das beste Buch ist für mich „Das Bekenntnis“, 2019 geschrieben.

Es gibt noch einen anderen Grund, ihn immer wieder zu lesen. Dieser Mann ist immun gegen Eitelkeit. Ich habe ihn im Oktober 2010 in München interviewt und konnte nicht fassen, wie wenig beeindruckt er von seinen irrwitzigen Verkaufszahlen weltweit ist (rund 350 Millionen). Aber lesen Sie selber. Die Überschrift lautete damals: „Wo ist der Held?“ Barack Obama war Präsident und natürlich ging es auch um ihn, aber im Mittelpunkt des „Spiegel“-Gesprächs stand der Autor John Grisham und seine Geschichte.

SPIEGEL: Mr. Gris­ham, bis­her ha­ben Sie nur Thril­ler ver­öf­fent­licht. Jetzt ha­ben Sie »Das Ge­setz« ge­schrie­ben, ein Buch mit sie­ben Kurz­ge­schich­ten. Die Men­schen, die Sie dort be­schrei­ben, sind tö­rich­te, ver­na­gel­te Fi­gu­ren, die nichts auf die Rei­he be­kom­men. War­um ver­zich­ten Sie dies­mal auf Ihre üb­li­chen Hel­den?

Gris­ham: Als ich mit die­sen Ge­schich­ten an­fing, man­che be­schäf­ti­gen mich seit 20 Jah­ren, da glaub­te ich noch, jede sei gut für ei­nen Ro­man. Dann habe ich dar­an her­um­ge­bas­telt und her­um­ge­spielt, wo­bei mir klar­ wur­de, dass die Stof­fe nicht rei­chen für ei­nen lan­gen Ro­man. Es hat sich so ent­wi­ckelt.

SPIEGEL: Ihre bis­he­ri­gen Bü­cher han­deln vom Kampf zwi­schen Hel­den und Schur­ken, wo­bei das Gute siegt – das ist der ewi­ge ame­ri­ka­ni­sche Traum. Fällt es Ih­nen heu­te schwe­rer als vor 20 Jah­ren, Hel­den zu kon­stru­ie­ren?

Gris­ham: Wir Ame­ri­ka­ner glau­ben noch im­mer, dass je­dem, der ar­bei­ten will und Op­fer bringt, das Glück winkt, so dass er Gro­ßes leis­ten kann. Es gibt im­mer noch ge­nug Hel­den im Kampf um Recht und Ge­rech­tig­keit, die klei­ne Leu­te ver­tre­ten, de­nen BP auf die Füße ge­tre­ten ist oder de­nen fälsch­lich Ver­bre­chen zur Last ge­legt wer­den, die ins Ge­fäng­nis kom­men oder zum Tod ver­ur­teilt wer­den. Noch gibt es ge­nü­gend An­wäl­te in den Schüt­zen­grä­ben, die sich für Ge­rech­tig­keit ein­set­zen. Dar­an glau­be ich nach wie vor. Na­tür­lich gibt es auch An­wäl­te, die ich nicht mag, weil es ih­nen ums Geld geht und sonst um nichts: die BP ver­tei­di­gen und an­de­re Groß­kon­zer­ne. Noch im­mer las­sen sich wun­der­ba­re Ge­schich­ten über die­sen Kampf er­zäh­len, ob­wohl ich ein­räu­men muss, bei mei­nem neu­en Ro­man »The Con­fes­si­on«, der in die­ser Wo­che in den USA und Groß­bri­tan­ni­en her­aus­ge­kom­men ist, habe ich mich beim Schrei­ben ge­fragt: Wer ist der Held? Wo ist un­ser Held?

 SPIEGEL: Sie er­zäh­len in die­sem Ro­man die Ge­schich­te ei­nes Foot­ball­spie­lers, der zu Un­recht zum Tod ver­ur­teilt wird we­gen ei­nes Mor­des an ei­ner Cheer­lea­de­rin. Sind Sie heu­te noch ge­nau­so zu­ver­sicht­lich wie vor 25 Jah­ren, als Sie mit dem Schrei­ben an­fin­gen, dass Ame­ri­ka auf gu­tem Wege ist?

Gris­ham: Das ist wirk­lich schwer zu sa­gen. Als Oba­ma vor zwei Jah­ren die Wahl ge­wann, hat das gro­ßen Op­ti­mis­mus aus­ge­löst – wir konn­ten gar nicht glau­ben, dass wir je­man­den wie Oba­ma zum Prä­si­den­ten ge­macht hat­ten. Sei­ne In­au­gu­ra­ti­on war ein stol­zer Mo­ment. Das ist nicht lan­ge her. Aber die Po­li­tik in Wa­shing­ton, der Kon­gress, ist so schlimm, wie sie im­mer schon war. Die Wirt­schaft er­holt sich nicht. Aus die­sen bei­den Krie­gen kom­men wir nicht her­aus. Den ame­ri­ka­ni­schen Traum gibt es schon noch, aber es ist schwie­rig, Leu­te da­von zu über­zeu­gen, die ihr Haus und den Job ver­lo­ren ha­ben.

SPIEGEL: Sind Sie von Oba­ma ent­täuscht?

Gris­ham: Nein, ich bin im­mer noch sein An­hän­ger. Ich glau­be, er wird wie­der­ge­wählt wer­den, und hof­fent­lich kann er dann in sei­ner zwei­ten Amts­zeit tun, was er tun will, und für Fort­schritt sor­gen, für Chan­ge. Heu­te hat Oba­ma je­den Tag eine neue Kri­se: BP, die Mo­schee in New York, den ver­rück­ten Pas­tor, der den Ko­ran ver­bren­nen woll­te. Sie ma­chen Oba­ma für die Mo­schee, für BP ver­ant­wort­lich – so ist die Po­li­tik nun ein­mal.

SPIEGEL: In Ih­ren Sto­rys wim­melt es von Men­schen, die Ver­schwö­rungs­theo­ri­en und Ge­rüch­te lie­ben. Al­les po­ten­ti­el­le An­hän­ger der fun­da­men­ta­lis­ti­schen Tea Par­ty.

Gris­ham: Ja, sie den­ken ganz ähn­lich. Im länd­li­chen Sü­den sind die Wei­ßen ex­trem kon­ser­va­tiv. In die­ser Kul­tur, in die­ser Um­ge­bung bin ich auf­ge­wach­sen. Jetzt fällt es mir schwer, dort zu sein, weil die Po­li­tik so sehr spal­tet.

SPIEGEL: Selbst ge­mä­ßig­te Re­pu­bli­ka­ner sind ver­blüfft über die Wut der Tea Par­ty auf den Prä­si­den­ten. Ist Ras­sis­mus der Kern die­ser Gras­wur­zel­be­we­gung?

Gris­ham: Ich ver­ste­he die Frus­tra­ti­on über die Re­gie­rung, aber das ist nichts Neu­es. Die Re­gie­rung ist schon seit Jah­ren zu groß und zu teu­er. Ras­sis­mus ist si­cher ein wich­ti­ger Fak­tor, denn die­se Leu­te möch­ten nicht, dass Oba­ma Er­folg hat.

SPIEGEL: Sie ak­zep­tie­ren nicht, dass er im Wei­ßen Haus sitzt.

Gris­ham: 25 Pro­zent die­ser Leu­te glau­ben, dass er nicht in den USA ge­bo­ren wur­de oder Mus­lim ist. Wie ar­gu­men­tiert man mit sol­chen Leu­ten? Dar­un­ter sind vie­le Fa­na­ti­ker. Ich ver­ste­he ihre Frus­tra­ti­on über Wa­shing­ton, der Se­nat ist so dys­funk­tio­nal wie kein an­de­res ge­wähl­tes po­li­ti­sches Gre­mi­um in die­sem Land. Sie ver­ab­schie­den nichts, sie re­den nicht mit­ein­an­der. Der Gra­ben zwi­schen bei­den Par­tei­en ist so tief, da herrscht Krieg.

SPIEGEL: Und was stört Sie am meis­ten an der Tea Par­ty?

Gris­ham: Ich ver­ste­he nicht, wo die­se Leu­te vor zwei Jah­ren wa­ren. Sie sind die­sel­ben Leu­te, die Bush zwei­mal ge­wählt ha­ben, und den­noch be­haup­ten sie, sie sei­en ein­ge­fleisch­te Kon­ser­va­ti­ve, de­nen das Haus­halts­de­fi­zit miss­fällt. Nie­mand hat tie­fe­re Lö­cher ge­ris­sen als Bush, aber die­se Leu­te gin­gen da­mals kei­nes­wegs auf die Stra­ße.

SPIEGEL: Bush war ihr Prä­si­dent.

Gris­ham: Ja.

SPIEGEL: Und nun ist Oba­ma der Prä­si­dent.

Gris­ham: Ge­nau. Und so ist eine äu­ßerst rechts­las­ti­ge kon­ser­va­ti­ve Be­we­gung mit ei­nem Schuss Ras­sis­mus ent­stan­den.

SPIEGEL: Vor zwei Jah­ren gab es in den USA für ei­nen kur­zen Mo­ment die Hoff­nung auf ein Ende der po­li­ti­schen Gra­ben­krie­ge. Es ist noch schlim­mer ge­wor­den. Wel­chen An­teil hat Oba­ma?

Gris­ham: Mei­ner Mei­nung nach hät­te sich Oba­ma im ers­ten Jahr bes­ser auf die Wirt­schaft kon­zen­trie­ren sol­len, an­statt mit ei­ner Re­form des Ge­sund­heits­we­sens zu kom­men, die vie­le Men­schen in sei­ner ei­ge­nen Par­tei nicht wol­len und die noch viel teu­rer aus­fal­len wird als ver­mu­tet, ob­wohl die Kos­ten schon heu­te as­tro­no­misch sind. Gleich­zei­tig wird die Ent­wick­lung der Staats­schul­den in den nächs­ten 15 bis 20 Jah­ren zum Rie­sen­pro­blem. Das kön­nen wir mit un­se­rer heu­ti­gen Steu­er­struk­tur nicht be­zah­len, und das rief die Tea Par­ty ins Le­ben.

SPIEGEL: Oba­ma hat sie er­weckt?

Gris­ham: Die De­mo­kra­ten wa­ren es. Sie sind nicht die wirt­schaft­li­chen Pro­ble­me an­ge­gan­gen und ha­ben an­fangs nicht die Aus­ga­ben ein­ge­dämmt. Aber eins ist klar: ohne Oba­ma kei­ne Tea Par­ty.

SPIEGEL: Sie wa­ren in den acht­zi­ger Jah­ren eine Zeit­lang selbst Po­li­ti­ker, Sie sa­ßen für die De­mo­kra­ten im Lan­des­par­la­ment Ih­res Hei­mat­staats Mis­sis­sip­pi. War­um sind Sie in die Po­li­tik ge­gan­gen, und war­um ha­ben Sie sich zu­rück­ge­zo­gen?

Gris­ham: Ich war ein Idea­list. Als ich auf­wuchs, war Mis­sis­sip­pi ein ar­mer Bun­des­staat, und ich glaub­te, da lie­ße sich ei­ni­ges tun. Nach dem Jura-Ex­amen wur­de ich An­walt in mei­ner Hei­mat­stadt Sout­ha­ven und be­warb mich für das Lan­des­par­la­ment. Ich woll­te et­was für die Bil­dung tun. Als ich die Wirk­lich­keit der Po­li­tik ken­nen­lern­te und den Ge­setz­ge­bungs­pro­zess, war ich schnell ent­täuscht. Es war wirk­lich schwer, ir­gend­et­was hin­zu­be­kom­men, und das Da­sein als Po­li­ti­ker be­hag­te mir auch nicht. Ich war nicht da­für ge­macht. Ich zog mich im sel­ben Au­gen­blick zu­rück, als ich mit dem An­walts­be­ruf auf­hör­te, weil mei­ne Bü­cher plötz­lich er­folg­reich wur­den.

SPIEGEL: Ihr al­ler­ers­tes Buch »Die Jury« ha­ben Sie aus dem Kof­fer­raum Ih­res Au­tos ver­kauft und es an Su­per­märk­te, Bü­che­rei­en, Tank­stel­len aus­ge­lie­fert.

Gris­ham: Im Rück­blick klingt das lus­tig, aber da­mals war es furcht­bar. Ich hat­te schon ge­glaubt, »Die Jury« wür­de nie­mals ver­öf­fent­licht wer­den, vie­le Ver­la­ge lehn­ten ab. End­lich fan­den wir ei­nen klei­nen, brand­neu­en Ver­lag in New York, der das Buch auf den Markt brach­te, aber kein Geld für Wer­bung hat­te. Um den Ver­kauf an­zu­kur­beln, habe ich 1000 der 5000 Bü­cher ge­kauft. Ich fuhr zu 30, 35 Bü­che­rei­en in klei­nen Städ­ten. Ich rief vor­her an, sie schmis­sen eine Par­ty, die Da­men sorg­ten für Bow­le und Plätz­chen, und ich stif­te­te ih­nen ei­ni­ge Kar­tons Bü­cher. Die­se Leu­te hat­ten nie zu­vor in ih­rem Le­ben ei­nen Schrift­stel­ler ge­se­hen. Des­halb ha­ben wir wahr­schein­lich 900 Bü­cher ver­kauft.

SPIEGEL: War­um ha­ben Sie ei­gent­lich da­mals nicht auf­ge­ge­ben? Sie wa­ren An­walt, hat­ten eine jun­ge Fa­mi­lie, ein leid­li­ches Aus­kom­men.

Gris­ham: Zu die­sem Zeit­punkt hat­te ich »Die Fir­ma«, mein zwei­tes Buch, zur Hälf­te fer­tig, ich woll­te es zu Ende schrei­ben und es noch ein­mal ver­su­chen. Schrei­ben soll­te nicht mein heim­li­ches Hob­by wer­den. Mei­ne Hal­tung war: Ent­we­der es klappt jetzt, oder ich höre auf. »Die Jury« und »Die Fir­ma« habe ich in­ner­halb von fünf Jah­ren ge­schrie­ben, oft um 5.30 Uhr mor­gens in mei­ner Kanz­lei vor der Ar­beit. Wahr­schein­lich habe ich des­we­gen heu­te Schlaf­stö­run­gen.

SPIEGEL: Dann pas­sier­te es: Hol­ly­wood kauf­te die Rech­te an der »Fir­ma«.

Gris­ham: Nicht gleich. Im Herbst 1989 war ich fer­tig da­mit, schick­te es an mei­nen Agen­ten in New York. Er moch­te es. Er zeig­te es ei­ni­gen Ver­le­gern, kei­ner biss an. Er ver­lang­te von mir, dass ich Ände­run­gen vor­neh­men soll­te, was ich aber nicht woll­te.

SPIEGEL: Und Sie wa­ren auf dem Weg in die Ver­zweif­lung?

Gris­ham: Ich war noch nicht ver­zwei­felt, weil ich ge­ra­de ei­nen sat­ten Fall ge­won­nen hat­te. Ich hat­te Geld in der Ta­sche, was sel­ten vor­kam. Und dann tauch­te ein Ex­em­plar des Buchs in Hol­ly­wood auf. Hol­ly­wood kauf­te die Rech­te, und jetzt wach­ten die Ver­le­ger in New York auf und kauf­ten es, und da­nach wur­de es ver­rückt. Seit­her hat es nicht mehr auf­ge­hört, ver­rückt zu sein.

SPIEGEL: Mitt­ler­wei­le ha­ben Sie fast 300 Mil­lio­nen Bü­cher auf der gan­zen Welt ver­kauft, und die Le­ser be­zie­hen ihr Ame­ri­ka-Bild auch aus Ih­ren Thril­lern. Was macht das mit Ih­nen?

Gris­ham: Ich ma­che mir kei­nen Kopf, was die Le­ser über die Fi­gu­ren und de­ren Hand­lun­gen in mei­nem neu­en Buch den­ken könn­ten. Wenn ich ein Buch schrei­be, will ich un­ter­hal­ten. Die Le­ser sol­len es schnell le­sen, sehr schnell, Sei­te für Sei­te. Ja, schon wahr, ge­le­gent­lich schrei­be ich ein Buch über ein be­stimm­tes Pro­blem: To­des­stra­fe, Kor­rup­ti­on bei Wah­len, Ver­si­che­rungs­schwin­del, Zi­ga­ret­ten­in­dus­trie, Ob­dach­lo­sig­keit. Ich neh­me ein Pro­blem und webe ei­nen Ro­man dar­um. Der Ro­man, den ich ge­ra­de ab­ge­schlos­sen habe, ist so trau­rig, dass ich vor ei­nem Mo­nat ge­sagt habe: Oh ja, mein nächs­tes Buch wird leicht und lau­nig aus­fal­len, ohne erns­te Bot­schaft. Auf die­se Wei­se sprin­ge ich hin und her in mei­nen Bü­chern.

SPIEGEL: Aber ein Gris­ham-Ro­man, der kein Me­ga­sel­ler ist, wäre eine Ka­ta­stro­phe.

Gris­ham: Noch ha­ben wir kein Buch auf den Markt ge­bracht, das ein Flop ge­we­sen wäre. Aber es wird pas­sie­ren, das lässt sich gar nicht ver­mei­den. Und ich weiß heu­te nicht, wie ich dar­auf re­agie­ren wer­de. Wahr­schein­lich schrei­be ich dann schnell ein an­de­res Buch.

SPIEGEL: Wel­che Bü­cher le­sen Sie denn?

Gris­ham: Ich habe den neu­en John le Car­ré ge­le­sen, den neu­en Scott Turow, ich habe »Frei­heit« von Jo­na­than Fran­zen an­ge­fan­gen, nachts zehn Sei­ten ge­le­sen und muss noch ein­mal an­fan­gen. Es ist ein gro­ßes, schwe­res Buch, das dem Le­ser ei­ni­ges ab­ver­langt, was gut ist. Und ich lie­be Mark Twain.

SPIEGEL: Jo­na­than Fran­zens Ehr­geiz ist es, den ame­ri­ka­ni­schen Ge­gen­warts­ro­man zu schrei­ben. Ihr Ehr­geiz ist es, gute Ge­schich­ten zu schrei­ben, und da­mit ver­kau­fen Sie ver­mut­lich mehr Bü­cher als Fran­zen, Phi­lip Roth oder John Up­di­ke zu­sam­men.

Gris­ham: All das sind groß­ar­ti­ge Au­to­ren. Ich weiß, was ich kann. Ich ken­ne mei­nen Platz in der Li­te­ra­tur und bin sehr zu­frie­den da­mit. Ich weiß, dass eine Men­ge Le­ser mein neu­es Buch le­sen wer­den. Ist es gut, ha­ben sie Spaß dar­an, re­den sie auch dar­über, und das ist gut für den Ver­kauf. Ist es nicht gut, re­den sie dar­über, und das ist wo­mög­lich schlecht für den Ver­kauf. Ich ge­hö­re nicht ins li­te­ra­ri­sche Es­ta­blish­ment, ich will es auch nicht.

SPIEGEL: War­um ei­gent­lich nicht?

Gris­ham: Mei­ne Frau und ich sa­gen uns im­mer, dass wir gro­ßes Glück ha­ben. Sol­chen Er­folg gibt es sel­ten, und er wird nicht ewig an­hal­ten. Ei­nes Ta­ges wer­den wir zu­rück­schau­en und uns sa­gen, dass es ein Höl­len­ritt war und Spaß ge­macht hat. Aber wir füh­ren ein nor­ma­les Le­ben, wir zie­hen nor­ma­le Kin­der auf, wir neh­men den Ruhm nicht ernst. Wir ha­ben ei­nen klei­nen Freun­des­kreis, und wenn wir uns tref­fen, re­den wir nicht über Bü­cher und Fil­me und ähn­li­che The­men.

SPIEGEL: Mr. Gris­ham, wir dan­ken Ih­nen für die­ses Ge­spräch.

Was zum Lesen: Was Tennis bedeutet

Ich mag Bücher über Sport. Als ich mich in Basketball vertiefte, las ich, was mir in die Hände fiel. Charles Barkley fand (oder ließ Michael Wilbon, den wunderbaren Reporter der „Washington Post“, finden) einen hinreißenden Titel für seine Biographie, den ich mindestens einmal wöchentlich zitiere: „I may be wrong, but I doubt it“. Ist das nicht herrlich? Also, theoretisch mag es möglich sein, dass ich mich irre, aber daran zweifle ich. Schönste Selbstgefälligkeit, getaucht in Selbstironie. Oder Barkley alias Kant: A priori habe ich recht und nur aus Gründen der Vernunft führe ich den Zweifel an. Oder Barkley alias Peter Szondi: Jener Zweifel, der der Vernunft innewohnt, ist deren Ausdruck.

Das beste Buch, das ich je über Basketball gelesen habe, schrieb David Halberstam, ein wunderbarer Autor. „Playing for Keeps“ heißt es und dreht sich um den Dreiklang Michael Jordan/Nike/ESPN, aus dem das Milliardenunternehmen NBA erwuchs.

Es gibt Bücher über Baseball (auch von David Halberstam) und Football („Friday Night Lights“ von Buzzi Bissinger). Und es gibt ein brillantes Stück über die Bedeutung des Tennis für ein Leben, das David Foster Wallace über Roger Federer schrieb.

Mittlerweile gibt es noch ein anderes bemerkenswertes Buch, das sogar eine Tennisspielerin über ihr Leben geschrieben hat. ohne Ghostwriter- Andrea Petković nennt es „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“. Viel hat sie gelesen, die Bücher haben sie gerettet in ihrer Einsamkeit auf der Tour in Hotelzimmern, in der Angst vor dem nächsten Spiel, in der Trauer über ein verlorenes Spiel oder in der Verlorenheit dieser Existenz, wenn der Sinn und Zweck dessen, was sie Tag für Tag tut, ihr entgleitet.

Nicht nur gelesen hat sie Dostojevski und Philip Roth und Wallace und David Sedaris und all die anderen Autoren, sie halfen ihr dabei, eine Stimme zu finden, in der sie ausdrücken kann, was ihr widerfahren ist, was sie erlitten hat, diese Routine aus tausenden Übungsstunden für einen kurzen Moment des Glücks im Triumph, der rasch verglüht wie eine Sternschnuppe. Darin liegt Tragik des Einwandererkindes aus Serbien, das unbedingt dazu gehören will und dafür Disziplin, Härte und Selbstverleugnung aufbringt, und dem der dauerhafte Genuss des Erfolgs nicht beschieden ist.

Aber lest selber. Es lohnt sich wirklich. Sport ist immer auch das Drama des Sportlers, wenn nicht seine Tragödie.

Zur Einstimmung hier noch einmal der Aufsatz von David Foster Wallace, der bis zu seinem 14. Lebensjahr intensiv Tennis spielte, bis er einsehen musste, dass es zu Großem nicht reichte. Übrigens erzählt Federer von seinem Treffen mit Wallace, der habe ihn nur angeschaut und keine einige Frage gestellt. Aus der Beobachtung entstanden seine Betrachtungen. Sie erschienen im „Spiegel“ am 6. November 2006. Die Überschrift lautete: Poesie in Bewegung

Fast jeder Tennisfan, der die großen Herrenturniere vor dem Fernseher verfolgt, hat in den vergangenen Jahren das erlebt, was man einen Federer-Moment nennen könnte. Das sind die Momente, in denen man dem jungen Schweizer mit offenem Mund und weitaufgerissenen Augen zusieht und dabei Laute ausstößt, dass die Frau aus dem Nachbarzimmer kommt, um zu schauen, ob sie den Notarzt rufen soll.

Noch intensiver sind diese Momente, wenn man selbst Tennis gespielt hat und weiß, dass das gerade Gesehene im Grunde unmöglich ist.

Vierter Satz, Finale der U. S. Open 2005, Roger Federer schlägt auf gegen Andre Agassi. Zuerst ist es das typische Hin und Her des modernen Power-Grundlinienspiels, Federer und Agassi hetzen einander von einer Seite zur anderen, bis schließlich Agassi einen Ball gegen die Laufrichtung Federers schmettern kann, eigentlich ein tödlicher Ball. Federer ist noch im linken Feld, fast schon an der Mittellinie, doch er schaltet irgendwie auf Umkehrschub, macht drei, vier unglaublich schnelle Schritte zurück und schlägt, das ganze Gewicht nach hinten verlagernd, aus der linken Ecke eine Vorhand, der Ball passiert Agassi, Federer tänzelt noch, während der Ball aufspringt. Entsetztes Schweigen bei den New Yorker Zuschauern, bevor die Menge explodiert. John McEnroe, der das Spiel im Fernsehen kommentiert, sagt (mehr oder weniger zu sich, so klingt es jedenfalls): „Wie kann man aus dieser Position einen solchen Ball schlagen?“

Es war unmöglich. Es war wie eine Szene aus dem Film „Matrix“, in der die Grenzen der Schwerkraft nicht mehr gelten. Ich weiß nicht, welche Geräusche ich gemacht habe, aber meine Frau sagt, überall auf der Couch habe Popcorn gelegen, und ich hätte mit weit aufgerissenen Augen vor dem Bildschirm gekniet.

Das jedenfalls war so ein Federer-Moment, obwohl ich ihn nur im Fernsehen erlebt habe und obwohl natürlich Tennis im Fernsehen sich zu real erlebtem Tennis verhält wie ein Pornofilm zu real erlebter Liebe.

Roger Federer ist gegenwärtig der beste Tennisspieler der Welt, vielleicht der beste aller Zeiten. Seine Herkunft, sein Elternhaus in Basel, sein enges Verhältnis zu seinem Trainer, der 2002 bei einem Unfall tödlich verunglückte, seine 44 Turniersiege, seine 9 Grand Slams, die Rolle seiner Freundin, die mit ihm auf Reisen geht (selten im Herrentennis) und sich um seine Vermarktung kümmert (einmalig im Herrentennis), seine psychische Stärke, seine Fairness, seine Großzügigkeit – all das ist bekannt und kann mit einem Mausklick im Internet abgerufen werden.

Und doch: Sieht man Roger Federer live spielen, ist das so etwas wie eine „religiöse Erfahrung“. Das klingt wie eine Übertreibung, aber sie trifft den Kern der Sache.

Im Leistungssport geht es nicht um Schönheit, aber der Spitzensport ist ein Ort, an dem sich menschliche Schönheit zeigt. Diese Schönheit, um die es hier geht, ist von besonderer Art; man könnte sie als kinetische Schönheit bezeichnen, als eine Schönheit der Bewegung. Ihre Anziehungskraft ist universell, und sie hat nichts mit Sex zu tun, nichts mit kulturellen Normen, sondern mit den anscheinend grenzenlosen Möglichkeiten eines menschlichen Körpers.

Im Männersport redet natürlich niemand von Schönheit oder Anmut der Körper. Männer reden vielleicht von ihrer „Liebe“ zum Sport, aber diese Liebe hat immer etwas Kriegerisches: Angriff, Gegenangriff, Rang und Status, Zahlenvergleiche, technische Analysen, regionale oder nationale Leidenschaften, Uniformen, Massenjubel, Fahnen, Kriegsbemalung, Drohgebärden und so weiter. Die meisten von uns fühlen sich in der Sprache des Krieges sicherer als in der Sprache der Liebe.

Die Schönheit eines Spitzenathleten lässt sich unmöglich direkt beschreiben. Federers Vorhand beispielsweise erinnert mich an einen Peitschenhieb. Sein Slice mit der einhändigen Rückhand ist derart angeschnitten, dass der Ball in der Luft Figuren beschreibt und auf dem Gras höchstens bis auf Knöchelhöhe aufspringt. Sein Aufschlag ist so schnell und genau und variantenreich, wie das kein anderer Spieler schafft. Federers Antizipation und sein Gespür für den Platz sind legendär, seine Beinarbeit ist unerreicht – als Kind war er ein sehr guter Fußballer.

All das stimmt, und doch erklärt es im Grunde nichts und vermittelt auch nicht, was es heißt, die Schönheit und die Genialität von Federers Spiel mit eigenen Augen zu sehen. Man muss sich Federers ästhetischen Qualitäten anders nähern, durch Umschreibungen zum Beispiel, oder so wie der Theologe Thomas von Aquin sich seinem Gegenstand näherte – indem er definierte, was Gott nicht ist.

Zum Beispiel ist Federers Schönheit nicht fernsehtauglich, jedenfalls nicht ganz. Tennis im Fernsehen hat Vorteile, aber die Wiederholungen in Zeitlupe und die Nahaufnahmen schaffen nur eine Illusion von Nähe, während sich der Zuschauer in Wahrheit gar keine Vorstellung davon machen kann, wie viel bei der Übertragung verlorengeht.

Reales Tennis ist dreidimensional, das TV-Bild aber nur zweidimensional. Verloren geht die tatsächliche Länge des Spielfelds (knapp 24 Meter zwischen den Grundlinien) und die Geschwindigkeit, mit der der Ball diese Entfernung zurücklegt – auf dem Bildschirm wird das nicht fassbar, auf dem Platz erfüllt es den Beobachter mit ehrfürchtigem Staunen. Gehen Sie mal zu einem Profiturnier, wo Sie nur ein paar Meter neben der Seitenlinie sitzen, und erleben Sie, wie hart die Profis den Ball schlagen und wie wenig Zeit ihnen bleibt, ihn zu erwischen, wie schnell sie sich bewegen und schlagen und sich wieder neu orientieren. Und niemand ist schneller und scheinbar müheloser als Roger Federer.

Was im Fernsehen interessanterweise deutlich wird, ist Federers Intelligenz. Federer besitzt wie kein anderer die Fähigkeit, den richtigen Winkel für einen Schlag zu erkennen, und im Fernsehen kann man diese Art von „Federer-Momenten“ ideal nachvollziehen. Schwerer nachzuvollziehen ist jedoch, dass diese spektakulär geschlagenen Winner nicht aus dem Nichts kommen – sie sind meist über mehrere Spielzüge angelegt und hängen nicht nur davon ab, wie Federer die Bewegungen des Gegners bestimmt, sondern auch von Tempo und Platzierung des entscheidenden Schlags. Und wer begreifen will, warum Federer andere Weltklasseathleten derart mühelos kontrolliert, braucht wiederum sehr viel mehr technisches Wissen über das moderne Power-Grundlinienspiel, als es das Fernsehen vermitteln kann.

Seit fast zwei Jahrzehnten wird offiziell erklärt, dass sich das professionelle Tennis von einem Spiel, das von Tempo und Finesse geprägt war, in ein körperbetontes, fast brutales Spiel verwandelt hat. Die Profis von heute sind messbar größer, stärker und fitter, und die modernen Hightech-Schläger geben ihnen die Möglichkeit, mit mehr Tempo und Spin zu spielen. Die Frage ist, wieso ausgerechnet jemand von Federers Eleganz das Herrentennis dominiert.

Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Eine davon hat mit Metaphysik zu tun, und wahrscheinlich kommt sie der Wahrheit am nächsten. Die anderen sind eher technischer Natur und lassen sich besser in Worte fassen.

Die metaphysische Erklärung ist die, dass Federer einer jener seltenen Athleten ist, für die bestimmte physikalische Gesetze nicht zu gelten scheinen. Ähnlich liegen die Dinge bei dem Basketballer Michael Jordan, der nicht nur unglaublich hoch springen, sondern sich auch etwas länger in der Luft halten konnte, als es die Schwerkraft eigentlich erlaubt. Oder bei Muhammad Ali, der wirklich über den Boden zu fliegen schien.

Seit 1960 gibt es wahrscheinlich ein halbes Dutzend solcher Beispiele. Federer gehört ebenfalls in diese Kategorie – man könnte diese Sportler als Genies oder Mutanten oder übernatürliche Wesen bezeichnen. Federer wirkt nie gehetzt, verliert nie die Balance. Seine Bewegungen sind eher harmonisch als athletisch. Genau wie Ali, Jordan oder Maradona, wirkt er realer und zugleich irrealer als seine Gegner. Federer in Weiß auf dem Wimbledon-Rasen ist wie ein Wesen aus Fleisch und Licht.

Nach dem Halbfinale von Wimbledon in diesem Sommer zwischen Federer und dem Schweden Jonas Björkman, bei dem Federer den Schweden nicht nur einfach besiegt, sondern vernichtend geschlagen hatte, sagte Björkman auf der anschließenden Pressekonferenz, dass er sich gefreut habe, dem Schweizer vom besten Platz des Hauses aus zusehen zu dürfen. Vor der Pressekonferenz hatten die beiden Freunde miteinander gescherzt und geplaudert, Björkman sprach davon, wie unnatürlich groß der Ball auf dem Platz gewirkt habe, was Federer bestätigte: so groß wie eine Bowlingkugel oder ein Basketball.

Federer wollte seinem Freund gegenüber höflich sein, aber seine Bemerkung verrät auch, was Tennis für Federer wirklich ist. Wenn jemand übernatürliche Reflexe, Koordination und Schnelligkeit hat, wird er auf dem Platz nicht das Gefühl haben, sehr schnell oder reaktionsstark zu sein, sondern eher den Eindruck haben, dass der Tennisball sehr groß ist und sich langsam bewegt, was wiederum auch bedeutet, dass man mehr Zeit hat, den Ball zu treffen. Für den staunenden Zuschauer mag das alles sehr schnell aussehen und überaus geschickt, ein Spieler wie Federer aber wird dies selbst nicht empfinden.

Schnelligkeit ist nur ein Teil des Geheimnisses. Tennis wird oft als Spiel bezeichnet, in dem es um Zentimeter geht. Aus Sicht eines Spielers ist es ein Spiel, in dem es um Mikrometer geht. Jede noch so geringfügig veränderte Schlägerhaltung im Moment des Auftreffens hat große Auswirkungen auf die Flugbahn des Balls.

Stellen Sie sich vor, Sie stehen knapp hinter der Grundlinie. Der Gegner schlägt den Ball auf Ihre Vorhand. Sie bringen sich in die entsprechende Position und holen mit der Vorhand aus. Der heranfliegende Ball ist nun kurz vor Ihrer Hüfte, rund 15 Zentimeter vom Treffpunkt entfernt. Sie haben nun viele Möglichkeiten: Durch leichtes Kippen des Schlägers um ein paar Grad nach vorn oder hinten produzieren Sie einen Topspin beziehungsweise einen Slice. Ein senkrecht gehaltener Schläger produziert eine flache Flugbahn ohne Drall. Wenn Sie den Schläger etwas nach links oder rechts ziehen und den Ball vielleicht eine Tausendstelsekunde früher oder später schlagen, produzieren Sie einen cross beziehungsweise longline geschlagenen Return. Außerdem beeinflussen kleine Nuancen bei der Schlägerhaltung, wie hoch der Ball über das Netz fliegt. Dies und die Härte Ihres Returns wirken sich darauf aus, wie tief oder flach der Ball in der gegnerischen Spielfeldhälfte landet, wie hoch er abspringt. Das alles ist wichtig, aber genauso wichtig ist es auch, wie nahe Sie den Ball an sich heranlassen, wie Sie den Schläger halten, wie tief Sie die Knie beugen, wie weit Sie Ihr Gewicht nach vorn verlagern und ob Sie imstande sind, die Flugbahn des von Ihnen geschlagenen Balls zu verfolgen und gleichzeitig zu beobachten, wie Ihr Gegner reagiert. Außerdem müssen Sie bedenken, dass Sie nicht ein statisches Objekt in Bewegung setzen, sondern die Flugbahn eines Balls umkehren, der auf Sie zugeflogen kommt – im Profitennis wohlgemerkt mit einer Geschwindigkeit, bei der keine Zeit mehr zum Nachdenken bleibt. Der Aufschlag des kroatischen Spielers Mario Ancic beispielsweise erreicht ein Tempo von etwa 210 Stundenkilometern. Da die Entfernung zwischen Ancic‘ Grundlinie und Ihnen etwa 24 Meter beträgt, bedeutet das, dass der Ball in 0,4 Sekunden bei Ihnen ist. Das reicht nicht einmal für einen doppelten Lidschlag.

Im Profitennis geht es also um Bewegungsabläufe, die so schnell sind, dass dem Spieler bewusste Entscheidungen nicht mehr möglich sind. Wir befinden uns hier im Bereich von Reflexen, von unbewusst ablaufenden physischen Reaktionen. Und doch hängt ein erfolgreicher Aufschlagreturn von vielen Entscheidungen und physikalischen Feinabstimmungen ab, die weitaus komplexer und gezielter sind, als es ein Blinzeln oder ein erschrockenes Zusammenzucken erfordern.

Ein erfolgreicher Aufschlagreturn verlangt kinästhetisches Gespür, das heißt: die Fähigkeit, den Körper und dessen künstliche Verlängerung durch komplexe, blitzschnelle Reaktionen zu steuern. Also: Gespür, Antizipation, Ballgefühl, Auge-Hand-Koordination, Bewegungsfluss, Reflexe und dergleichen mehr. Für talentierte Jugendspieler geht es im Training vor allem darum, ihre kinästhetische Wahrnehmung zu verfeinern. Trainiert werden sowohl Muskeln als auch Nervenbahnen. Wer täglich Tausende Bälle schlägt, entwickelt die Fähigkeit, durch Gespür und Ahnung etwas zu bewältigen, was mit bewusstem Denken nicht möglich ist.

Weil das nur mit viel Zeit und Disziplin erreicht werden kann, fangen Top-Tennisspieler meist schon früh an. Federer hat mit 16 die Schule verlassen und gewann bald den Juniorentitel in Wimbledon. Dafür aber braucht es mehr als nur Zeit und Training – eben Talent. Federers Herrschaft ließe sich also damit erklären, dass er kinästhetisch etwas begabter ist als seine Konkurrenten. Nur ein kleines bisschen begabter, denn jeder unter den Top 100 ist hinreichend begabt, aber wie gesagt, beim Tennis geht es um Mikrometer.

Diese Erklärung ist plausibel, aber unvollständig. 1980 wäre sie vermutlich vollständig gewesen. Doch im Jahr 2006 stellt sich die Frage, warum es noch immer auf diese Sorte Talent ankommt. Roger Federer dominiert das größte, stärkste, fitteste, besttrainierte Feld im Profi-Herrentennis aller Zeiten, in dem Schläger verwendet werden, von denen es heißt, sie würden die kinästhetischen Talente der Spieler überflüssig machen – so als wollten sie während eines Metallica-Konzerts Mozart pfeifen.

Tatsächlich ist es so, dass die modernen Graphitschläger um einiges leichter und größer sind als die alten Holzschläger. Bei einem modernen Schläger muss man den Ball nicht exakt in der geometrischen Mitte der Bespannungsfläche treffen, um ein hohes Tempo zu produzieren, oder genau den richtigen Punkt, um ihn mit Topspin zu schlagen. Diese Schläger ermöglichen wesentlich schnellere und härtere Grundlinienschläge als noch vor 20 Jahren. Im Vergleich zum altmodischen Serve-and-Volley oder zu den ermüdenden Grundlinienduellen von früher ist das moderne Hochgeschwindigkeits-Grundlinienspiel nicht langweilig, aber es ist relativ statisch und begrenzt. Es ist aber nicht, wie Tennisgurus seit Jahren befürchten, der Endpunkt des Tennissports. Und genau das beweist Roger Federer.

Wimbledon Finale, 9. Juli 2006, zweiter Satz des Finales. Federers Gegner ist der Spanier Rafael Nadal, der sehr jung ist und einen mächtigen Bizeps besitzt, ein geradezu prototypischer Spieler des modernen Power-Tennis. Nadal führt 2:1 und schlägt auf. Federer hat den ersten Satz zu null gewonnen, doch dann ließ er ein wenig nach, wie das manchmal bei ihm vorkommt, und rasch liegt er ein Break zurück. Nadal ist deswegen ein so unangenehmer Gegner, weil er schneller ist als die anderen, weil er all die Bälle erreicht, die sie nicht erreichen. Im Verlauf dieses Ballwechsels schlägt Federer mehrmals hintereinander mit einem Slice auf die beidhändige Rückhand Nadals, der wie hypnotisiert wirkt und zwischen den Ballwechseln nicht mehr in die Mitte der Grundlinie zurückläuft. Federer schlägt nun eine extrem harte Rückhand mit tiefem Topspin in Nadals Vorhandecke, Nadal erwischt den Ball und schlägt ihn cross, Federer antwortet mit einer noch härteren cross geschlagenen Rückhand bis zur Grundlinie, Nadal schlägt den Ball wieder in Federers Rückhandecke und läuft schon zur Mitte zurück, während Federer nun eine völlig andere Rückhand schlägt, cross, aber sehr viel kürzer und in einem steileren Winkel, den niemand erwarten würde, und mit so viel Topspin, dass der Ball knapp vor der Seitenlinie landet und hart wegspringt, unerreichbar für Nadal. Ein spektakulärer Schlag, ein Federer-Moment.

Wer diese Szene live verfolgt hat, konnte auch sehen, dass Federer den entscheidenden Schlag mit vier oder fünf Schlägen vorbereitet hat. Alles, was nach dem ersten longline Slice kam, sollte Nadal einlullen und seinen Rhythmus stören, ihn aus der Balance bringen und schließlich diesen letzten, unglaublichen Ball ermöglichen.

Federer ist ein erstklassiger, kraftvoller Power-Grundlinienspieler, aber noch viel mehr. Da ist seine Intelligenz, seine Antizipation, sein Gefühl für den Platz, sein Talent, den Gegner zu lesen und zu dominieren, Drall und Tempo zu kombinieren, zu täuschen, taktische Voraussicht und kinästhetische Fähigkeiten einzusetzen statt nur schieres Tempo. Federers Spiel zeigt die Grenzen – und die Möglichkeiten des Herrentennis von heute.

All das mag vielleicht etwas überzogen klingen und allzu bewundernd, doch wir sollten wissen, dass im Fall Roger Federer nichts überzogen klingen kann. Er zeigt, dass Geschwindigkeit und Härte nur das Skelett des modernen Herrentennis sind, aber nicht das Fleisch. Federer hat das Herrentennis neu erfunden, er verkörpert es, buchstäblich und im übertragenen Sinne.