Ich habe gerade wieder einen Roman von John Grisham gelesen: „Das Manuskript“. Wieder ist es eine spannende Geschichte wie ein Pfeil. Wieder der Verzicht auf jede Metaebene. Wieder dieser Sog von der ersten Seite an. Ich beginne zu lesen und höre nicht mehr auf. Ich fange morgens an und lese die letzte Seite nachts. Ich kann nicht anders.
Anfangs habe ich Grisham gelesen, damit ich das amerikanische Rechtssystem besser verstehe. Durch ihn habe ich es besser verstanden. Seither lese ich seine Bücher, weil er sagt, er rechne jederzeit mit dem Ende seines Erfolgs. Und ich lese sie, weil ich fasziniert davon bin, dass er für seine Geschichten jeweils eine eigene Sprache findet. Das beste Buch ist für mich „Das Bekenntnis“, 2019 geschrieben.
Es gibt noch einen anderen Grund, ihn immer wieder zu lesen. Dieser Mann ist immun gegen Eitelkeit. Ich habe ihn im Oktober 2010 in München interviewt und konnte nicht fassen, wie wenig beeindruckt er von seinen irrwitzigen Verkaufszahlen weltweit ist (rund 350 Millionen). Aber lesen Sie selber. Die Überschrift lautete damals: „Wo ist der Held?“ Barack Obama war Präsident und natürlich ging es auch um ihn, aber im Mittelpunkt des „Spiegel“-Gesprächs stand der Autor John Grisham und seine Geschichte.
SPIEGEL: Mr. Grisham, bisher haben Sie nur Thriller veröffentlicht. Jetzt haben Sie »Das Gesetz« geschrieben, ein Buch mit sieben Kurzgeschichten. Die Menschen, die Sie dort beschreiben, sind törichte, vernagelte Figuren, die nichts auf die Reihe bekommen. Warum verzichten Sie diesmal auf Ihre üblichen Helden?
Grisham: Als ich mit diesen Geschichten anfing, manche beschäftigen mich seit 20 Jahren, da glaubte ich noch, jede sei gut für einen Roman. Dann habe ich daran herumgebastelt und herumgespielt, wobei mir klar wurde, dass die Stoffe nicht reichen für einen langen Roman. Es hat sich so entwickelt.
SPIEGEL: Ihre bisherigen Bücher handeln vom Kampf zwischen Helden und Schurken, wobei das Gute siegt – das ist der ewige amerikanische Traum. Fällt es Ihnen heute schwerer als vor 20 Jahren, Helden zu konstruieren?
Grisham: Wir Amerikaner glauben noch immer, dass jedem, der arbeiten will und Opfer bringt, das Glück winkt, so dass er Großes leisten kann. Es gibt immer noch genug Helden im Kampf um Recht und Gerechtigkeit, die kleine Leute vertreten, denen BP auf die Füße getreten ist oder denen fälschlich Verbrechen zur Last gelegt werden, die ins Gefängnis kommen oder zum Tod verurteilt werden. Noch gibt es genügend Anwälte in den Schützengräben, die sich für Gerechtigkeit einsetzen. Daran glaube ich nach wie vor. Natürlich gibt es auch Anwälte, die ich nicht mag, weil es ihnen ums Geld geht und sonst um nichts: die BP verteidigen und andere Großkonzerne. Noch immer lassen sich wunderbare Geschichten über diesen Kampf erzählen, obwohl ich einräumen muss, bei meinem neuen Roman »The Confession«, der in dieser Woche in den USA und Großbritannien herausgekommen ist, habe ich mich beim Schreiben gefragt: Wer ist der Held? Wo ist unser Held?
SPIEGEL: Sie erzählen in diesem Roman die Geschichte eines Footballspielers, der zu Unrecht zum Tod verurteilt wird wegen eines Mordes an einer Cheerleaderin. Sind Sie heute noch genauso zuversichtlich wie vor 25 Jahren, als Sie mit dem Schreiben anfingen, dass Amerika auf gutem Wege ist?
Grisham: Das ist wirklich schwer zu sagen. Als Obama vor zwei Jahren die Wahl gewann, hat das großen Optimismus ausgelöst – wir konnten gar nicht glauben, dass wir jemanden wie Obama zum Präsidenten gemacht hatten. Seine Inauguration war ein stolzer Moment. Das ist nicht lange her. Aber die Politik in Washington, der Kongress, ist so schlimm, wie sie immer schon war. Die Wirtschaft erholt sich nicht. Aus diesen beiden Kriegen kommen wir nicht heraus. Den amerikanischen Traum gibt es schon noch, aber es ist schwierig, Leute davon zu überzeugen, die ihr Haus und den Job verloren haben.
SPIEGEL: Sind Sie von Obama enttäuscht?
Grisham: Nein, ich bin immer noch sein Anhänger. Ich glaube, er wird wiedergewählt werden, und hoffentlich kann er dann in seiner zweiten Amtszeit tun, was er tun will, und für Fortschritt sorgen, für Change. Heute hat Obama jeden Tag eine neue Krise: BP, die Moschee in New York, den verrückten Pastor, der den Koran verbrennen wollte. Sie machen Obama für die Moschee, für BP verantwortlich – so ist die Politik nun einmal.
SPIEGEL: In Ihren Storys wimmelt es von Menschen, die Verschwörungstheorien und Gerüchte lieben. Alles potentielle Anhänger der fundamentalistischen Tea Party.
Grisham: Ja, sie denken ganz ähnlich. Im ländlichen Süden sind die Weißen extrem konservativ. In dieser Kultur, in dieser Umgebung bin ich aufgewachsen. Jetzt fällt es mir schwer, dort zu sein, weil die Politik so sehr spaltet.
SPIEGEL: Selbst gemäßigte Republikaner sind verblüfft über die Wut der Tea Party auf den Präsidenten. Ist Rassismus der Kern dieser Graswurzelbewegung?
Grisham: Ich verstehe die Frustration über die Regierung, aber das ist nichts Neues. Die Regierung ist schon seit Jahren zu groß und zu teuer. Rassismus ist sicher ein wichtiger Faktor, denn diese Leute möchten nicht, dass Obama Erfolg hat.
SPIEGEL: Sie akzeptieren nicht, dass er im Weißen Haus sitzt.
Grisham: 25 Prozent dieser Leute glauben, dass er nicht in den USA geboren wurde oder Muslim ist. Wie argumentiert man mit solchen Leuten? Darunter sind viele Fanatiker. Ich verstehe ihre Frustration über Washington, der Senat ist so dysfunktional wie kein anderes gewähltes politisches Gremium in diesem Land. Sie verabschieden nichts, sie reden nicht miteinander. Der Graben zwischen beiden Parteien ist so tief, da herrscht Krieg.
SPIEGEL: Und was stört Sie am meisten an der Tea Party?
Grisham: Ich verstehe nicht, wo diese Leute vor zwei Jahren waren. Sie sind dieselben Leute, die Bush zweimal gewählt haben, und dennoch behaupten sie, sie seien eingefleischte Konservative, denen das Haushaltsdefizit missfällt. Niemand hat tiefere Löcher gerissen als Bush, aber diese Leute gingen damals keineswegs auf die Straße.
SPIEGEL: Bush war ihr Präsident.
Grisham: Ja.
SPIEGEL: Und nun ist Obama der Präsident.
Grisham: Genau. Und so ist eine äußerst rechtslastige konservative Bewegung mit einem Schuss Rassismus entstanden.
SPIEGEL: Vor zwei Jahren gab es in den USA für einen kurzen Moment die Hoffnung auf ein Ende der politischen Grabenkriege. Es ist noch schlimmer geworden. Welchen Anteil hat Obama?
Grisham: Meiner Meinung nach hätte sich Obama im ersten Jahr besser auf die Wirtschaft konzentrieren sollen, anstatt mit einer Reform des Gesundheitswesens zu kommen, die viele Menschen in seiner eigenen Partei nicht wollen und die noch viel teurer ausfallen wird als vermutet, obwohl die Kosten schon heute astronomisch sind. Gleichzeitig wird die Entwicklung der Staatsschulden in den nächsten 15 bis 20 Jahren zum Riesenproblem. Das können wir mit unserer heutigen Steuerstruktur nicht bezahlen, und das rief die Tea Party ins Leben.
SPIEGEL: Obama hat sie erweckt?
Grisham: Die Demokraten waren es. Sie sind nicht die wirtschaftlichen Probleme angegangen und haben anfangs nicht die Ausgaben eingedämmt. Aber eins ist klar: ohne Obama keine Tea Party.
SPIEGEL: Sie waren in den achtziger Jahren eine Zeitlang selbst Politiker, Sie saßen für die Demokraten im Landesparlament Ihres Heimatstaats Mississippi. Warum sind Sie in die Politik gegangen, und warum haben Sie sich zurückgezogen?
Grisham: Ich war ein Idealist. Als ich aufwuchs, war Mississippi ein armer Bundesstaat, und ich glaubte, da ließe sich einiges tun. Nach dem Jura-Examen wurde ich Anwalt in meiner Heimatstadt Southaven und bewarb mich für das Landesparlament. Ich wollte etwas für die Bildung tun. Als ich die Wirklichkeit der Politik kennenlernte und den Gesetzgebungsprozess, war ich schnell enttäuscht. Es war wirklich schwer, irgendetwas hinzubekommen, und das Dasein als Politiker behagte mir auch nicht. Ich war nicht dafür gemacht. Ich zog mich im selben Augenblick zurück, als ich mit dem Anwaltsberuf aufhörte, weil meine Bücher plötzlich erfolgreich wurden.
SPIEGEL: Ihr allererstes Buch »Die Jury« haben Sie aus dem Kofferraum Ihres Autos verkauft und es an Supermärkte, Büchereien, Tankstellen ausgeliefert.
Grisham: Im Rückblick klingt das lustig, aber damals war es furchtbar. Ich hatte schon geglaubt, »Die Jury« würde niemals veröffentlicht werden, viele Verlage lehnten ab. Endlich fanden wir einen kleinen, brandneuen Verlag in New York, der das Buch auf den Markt brachte, aber kein Geld für Werbung hatte. Um den Verkauf anzukurbeln, habe ich 1000 der 5000 Bücher gekauft. Ich fuhr zu 30, 35 Büchereien in kleinen Städten. Ich rief vorher an, sie schmissen eine Party, die Damen sorgten für Bowle und Plätzchen, und ich stiftete ihnen einige Kartons Bücher. Diese Leute hatten nie zuvor in ihrem Leben einen Schriftsteller gesehen. Deshalb haben wir wahrscheinlich 900 Bücher verkauft.
SPIEGEL: Warum haben Sie eigentlich damals nicht aufgegeben? Sie waren Anwalt, hatten eine junge Familie, ein leidliches Auskommen.
Grisham: Zu diesem Zeitpunkt hatte ich »Die Firma«, mein zweites Buch, zur Hälfte fertig, ich wollte es zu Ende schreiben und es noch einmal versuchen. Schreiben sollte nicht mein heimliches Hobby werden. Meine Haltung war: Entweder es klappt jetzt, oder ich höre auf. »Die Jury« und »Die Firma« habe ich innerhalb von fünf Jahren geschrieben, oft um 5.30 Uhr morgens in meiner Kanzlei vor der Arbeit. Wahrscheinlich habe ich deswegen heute Schlafstörungen.
SPIEGEL: Dann passierte es: Hollywood kaufte die Rechte an der »Firma«.
Grisham: Nicht gleich. Im Herbst 1989 war ich fertig damit, schickte es an meinen Agenten in New York. Er mochte es. Er zeigte es einigen Verlegern, keiner biss an. Er verlangte von mir, dass ich Änderungen vornehmen sollte, was ich aber nicht wollte.
SPIEGEL: Und Sie waren auf dem Weg in die Verzweiflung?
Grisham: Ich war noch nicht verzweifelt, weil ich gerade einen satten Fall gewonnen hatte. Ich hatte Geld in der Tasche, was selten vorkam. Und dann tauchte ein Exemplar des Buchs in Hollywood auf. Hollywood kaufte die Rechte, und jetzt wachten die Verleger in New York auf und kauften es, und danach wurde es verrückt. Seither hat es nicht mehr aufgehört, verrückt zu sein.
SPIEGEL: Mittlerweile haben Sie fast 300 Millionen Bücher auf der ganzen Welt verkauft, und die Leser beziehen ihr Amerika-Bild auch aus Ihren Thrillern. Was macht das mit Ihnen?
Grisham: Ich mache mir keinen Kopf, was die Leser über die Figuren und deren Handlungen in meinem neuen Buch denken könnten. Wenn ich ein Buch schreibe, will ich unterhalten. Die Leser sollen es schnell lesen, sehr schnell, Seite für Seite. Ja, schon wahr, gelegentlich schreibe ich ein Buch über ein bestimmtes Problem: Todesstrafe, Korruption bei Wahlen, Versicherungsschwindel, Zigarettenindustrie, Obdachlosigkeit. Ich nehme ein Problem und webe einen Roman darum. Der Roman, den ich gerade abgeschlossen habe, ist so traurig, dass ich vor einem Monat gesagt habe: Oh ja, mein nächstes Buch wird leicht und launig ausfallen, ohne ernste Botschaft. Auf diese Weise springe ich hin und her in meinen Büchern.
SPIEGEL: Aber ein Grisham-Roman, der kein Megaseller ist, wäre eine Katastrophe.
Grisham: Noch haben wir kein Buch auf den Markt gebracht, das ein Flop gewesen wäre. Aber es wird passieren, das lässt sich gar nicht vermeiden. Und ich weiß heute nicht, wie ich darauf reagieren werde. Wahrscheinlich schreibe ich dann schnell ein anderes Buch.
SPIEGEL: Welche Bücher lesen Sie denn?
Grisham: Ich habe den neuen John le Carré gelesen, den neuen Scott Turow, ich habe »Freiheit« von Jonathan Franzen angefangen, nachts zehn Seiten gelesen und muss noch einmal anfangen. Es ist ein großes, schweres Buch, das dem Leser einiges abverlangt, was gut ist. Und ich liebe Mark Twain.
SPIEGEL: Jonathan Franzens Ehrgeiz ist es, den amerikanischen Gegenwartsroman zu schreiben. Ihr Ehrgeiz ist es, gute Geschichten zu schreiben, und damit verkaufen Sie vermutlich mehr Bücher als Franzen, Philip Roth oder John Updike zusammen.
Grisham: All das sind großartige Autoren. Ich weiß, was ich kann. Ich kenne meinen Platz in der Literatur und bin sehr zufrieden damit. Ich weiß, dass eine Menge Leser mein neues Buch lesen werden. Ist es gut, haben sie Spaß daran, reden sie auch darüber, und das ist gut für den Verkauf. Ist es nicht gut, reden sie darüber, und das ist womöglich schlecht für den Verkauf. Ich gehöre nicht ins literarische Establishment, ich will es auch nicht.
SPIEGEL: Warum eigentlich nicht?
Grisham: Meine Frau und ich sagen uns immer, dass wir großes Glück haben. Solchen Erfolg gibt es selten, und er wird nicht ewig anhalten. Eines Tages werden wir zurückschauen und uns sagen, dass es ein Höllenritt war und Spaß gemacht hat. Aber wir führen ein normales Leben, wir ziehen normale Kinder auf, wir nehmen den Ruhm nicht ernst. Wir haben einen kleinen Freundeskreis, und wenn wir uns treffen, reden wir nicht über Bücher und Filme und ähnliche Themen.
SPIEGEL: Mr. Grisham, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.