Ich mag Bücher über Sport. Als ich mich in Basketball vertiefte, las ich, was mir in die Hände fiel. Charles Barkley fand (oder ließ Michael Wilbon, den wunderbaren Reporter der „Washington Post“, finden) einen hinreißenden Titel für seine Biographie, den ich mindestens einmal wöchentlich zitiere: „I may be wrong, but I doubt it“. Ist das nicht herrlich? Also, theoretisch mag es möglich sein, dass ich mich irre, aber daran zweifle ich. Schönste Selbstgefälligkeit, getaucht in Selbstironie. Oder Barkley alias Kant: A priori habe ich recht und nur aus Gründen der Vernunft führe ich den Zweifel an. Oder Barkley alias Peter Szondi: Jener Zweifel, der der Vernunft innewohnt, ist deren Ausdruck.
Das beste Buch, das ich je über Basketball gelesen habe, schrieb David Halberstam, ein wunderbarer Autor. „Playing for Keeps“ heißt es und dreht sich um den Dreiklang Michael Jordan/Nike/ESPN, aus dem das Milliardenunternehmen NBA erwuchs.
Es gibt Bücher über Baseball (auch von David Halberstam) und Football („Friday Night Lights“ von Buzzi Bissinger). Und es gibt ein brillantes Stück über die Bedeutung des Tennis für ein Leben, das David Foster Wallace über Roger Federer schrieb.
Mittlerweile gibt es noch ein anderes bemerkenswertes Buch, das sogar eine Tennisspielerin über ihr Leben geschrieben hat. ohne Ghostwriter- Andrea Petković nennt es „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“. Viel hat sie gelesen, die Bücher haben sie gerettet in ihrer Einsamkeit auf der Tour in Hotelzimmern, in der Angst vor dem nächsten Spiel, in der Trauer über ein verlorenes Spiel oder in der Verlorenheit dieser Existenz, wenn der Sinn und Zweck dessen, was sie Tag für Tag tut, ihr entgleitet.
Nicht nur gelesen hat sie Dostojevski und Philip Roth und Wallace und David Sedaris und all die anderen Autoren, sie halfen ihr dabei, eine Stimme zu finden, in der sie ausdrücken kann, was ihr widerfahren ist, was sie erlitten hat, diese Routine aus tausenden Übungsstunden für einen kurzen Moment des Glücks im Triumph, der rasch verglüht wie eine Sternschnuppe. Darin liegt Tragik des Einwandererkindes aus Serbien, das unbedingt dazu gehören will und dafür Disziplin, Härte und Selbstverleugnung aufbringt, und dem der dauerhafte Genuss des Erfolgs nicht beschieden ist.
Aber lest selber. Es lohnt sich wirklich. Sport ist immer auch das Drama des Sportlers, wenn nicht seine Tragödie.
Zur Einstimmung hier noch einmal der Aufsatz von David Foster Wallace, der bis zu seinem 14. Lebensjahr intensiv Tennis spielte, bis er einsehen musste, dass es zu Großem nicht reichte. Übrigens erzählt Federer von seinem Treffen mit Wallace, der habe ihn nur angeschaut und keine einige Frage gestellt. Aus der Beobachtung entstanden seine Betrachtungen. Sie erschienen im „Spiegel“ am 6. November 2006. Die Überschrift lautete: Poesie in Bewegung
Fast jeder Tennisfan, der die großen Herrenturniere vor dem Fernseher verfolgt, hat in den vergangenen Jahren das erlebt, was man einen Federer-Moment nennen könnte. Das sind die Momente, in denen man dem jungen Schweizer mit offenem Mund und weitaufgerissenen Augen zusieht und dabei Laute ausstößt, dass die Frau aus dem Nachbarzimmer kommt, um zu schauen, ob sie den Notarzt rufen soll.
Noch intensiver sind diese Momente, wenn man selbst Tennis gespielt hat und weiß, dass das gerade Gesehene im Grunde unmöglich ist.
Vierter Satz, Finale der U. S. Open 2005, Roger Federer schlägt auf gegen Andre Agassi. Zuerst ist es das typische Hin und Her des modernen Power-Grundlinienspiels, Federer und Agassi hetzen einander von einer Seite zur anderen, bis schließlich Agassi einen Ball gegen die Laufrichtung Federers schmettern kann, eigentlich ein tödlicher Ball. Federer ist noch im linken Feld, fast schon an der Mittellinie, doch er schaltet irgendwie auf Umkehrschub, macht drei, vier unglaublich schnelle Schritte zurück und schlägt, das ganze Gewicht nach hinten verlagernd, aus der linken Ecke eine Vorhand, der Ball passiert Agassi, Federer tänzelt noch, während der Ball aufspringt. Entsetztes Schweigen bei den New Yorker Zuschauern, bevor die Menge explodiert. John McEnroe, der das Spiel im Fernsehen kommentiert, sagt (mehr oder weniger zu sich, so klingt es jedenfalls): „Wie kann man aus dieser Position einen solchen Ball schlagen?“
Es war unmöglich. Es war wie eine Szene aus dem Film „Matrix“, in der die Grenzen der Schwerkraft nicht mehr gelten. Ich weiß nicht, welche Geräusche ich gemacht habe, aber meine Frau sagt, überall auf der Couch habe Popcorn gelegen, und ich hätte mit weit aufgerissenen Augen vor dem Bildschirm gekniet.
Das jedenfalls war so ein Federer-Moment, obwohl ich ihn nur im Fernsehen erlebt habe und obwohl natürlich Tennis im Fernsehen sich zu real erlebtem Tennis verhält wie ein Pornofilm zu real erlebter Liebe.
Roger Federer ist gegenwärtig der beste Tennisspieler der Welt, vielleicht der beste aller Zeiten. Seine Herkunft, sein Elternhaus in Basel, sein enges Verhältnis zu seinem Trainer, der 2002 bei einem Unfall tödlich verunglückte, seine 44 Turniersiege, seine 9 Grand Slams, die Rolle seiner Freundin, die mit ihm auf Reisen geht (selten im Herrentennis) und sich um seine Vermarktung kümmert (einmalig im Herrentennis), seine psychische Stärke, seine Fairness, seine Großzügigkeit – all das ist bekannt und kann mit einem Mausklick im Internet abgerufen werden.
Und doch: Sieht man Roger Federer live spielen, ist das so etwas wie eine „religiöse Erfahrung“. Das klingt wie eine Übertreibung, aber sie trifft den Kern der Sache.
Im Leistungssport geht es nicht um Schönheit, aber der Spitzensport ist ein Ort, an dem sich menschliche Schönheit zeigt. Diese Schönheit, um die es hier geht, ist von besonderer Art; man könnte sie als kinetische Schönheit bezeichnen, als eine Schönheit der Bewegung. Ihre Anziehungskraft ist universell, und sie hat nichts mit Sex zu tun, nichts mit kulturellen Normen, sondern mit den anscheinend grenzenlosen Möglichkeiten eines menschlichen Körpers.
Im Männersport redet natürlich niemand von Schönheit oder Anmut der Körper. Männer reden vielleicht von ihrer „Liebe“ zum Sport, aber diese Liebe hat immer etwas Kriegerisches: Angriff, Gegenangriff, Rang und Status, Zahlenvergleiche, technische Analysen, regionale oder nationale Leidenschaften, Uniformen, Massenjubel, Fahnen, Kriegsbemalung, Drohgebärden und so weiter. Die meisten von uns fühlen sich in der Sprache des Krieges sicherer als in der Sprache der Liebe.
Die Schönheit eines Spitzenathleten lässt sich unmöglich direkt beschreiben. Federers Vorhand beispielsweise erinnert mich an einen Peitschenhieb. Sein Slice mit der einhändigen Rückhand ist derart angeschnitten, dass der Ball in der Luft Figuren beschreibt und auf dem Gras höchstens bis auf Knöchelhöhe aufspringt. Sein Aufschlag ist so schnell und genau und variantenreich, wie das kein anderer Spieler schafft. Federers Antizipation und sein Gespür für den Platz sind legendär, seine Beinarbeit ist unerreicht – als Kind war er ein sehr guter Fußballer.
All das stimmt, und doch erklärt es im Grunde nichts und vermittelt auch nicht, was es heißt, die Schönheit und die Genialität von Federers Spiel mit eigenen Augen zu sehen. Man muss sich Federers ästhetischen Qualitäten anders nähern, durch Umschreibungen zum Beispiel, oder so wie der Theologe Thomas von Aquin sich seinem Gegenstand näherte – indem er definierte, was Gott nicht ist.
Zum Beispiel ist Federers Schönheit nicht fernsehtauglich, jedenfalls nicht ganz. Tennis im Fernsehen hat Vorteile, aber die Wiederholungen in Zeitlupe und die Nahaufnahmen schaffen nur eine Illusion von Nähe, während sich der Zuschauer in Wahrheit gar keine Vorstellung davon machen kann, wie viel bei der Übertragung verlorengeht.
Reales Tennis ist dreidimensional, das TV-Bild aber nur zweidimensional. Verloren geht die tatsächliche Länge des Spielfelds (knapp 24 Meter zwischen den Grundlinien) und die Geschwindigkeit, mit der der Ball diese Entfernung zurücklegt – auf dem Bildschirm wird das nicht fassbar, auf dem Platz erfüllt es den Beobachter mit ehrfürchtigem Staunen. Gehen Sie mal zu einem Profiturnier, wo Sie nur ein paar Meter neben der Seitenlinie sitzen, und erleben Sie, wie hart die Profis den Ball schlagen und wie wenig Zeit ihnen bleibt, ihn zu erwischen, wie schnell sie sich bewegen und schlagen und sich wieder neu orientieren. Und niemand ist schneller und scheinbar müheloser als Roger Federer.
Was im Fernsehen interessanterweise deutlich wird, ist Federers Intelligenz. Federer besitzt wie kein anderer die Fähigkeit, den richtigen Winkel für einen Schlag zu erkennen, und im Fernsehen kann man diese Art von „Federer-Momenten“ ideal nachvollziehen. Schwerer nachzuvollziehen ist jedoch, dass diese spektakulär geschlagenen Winner nicht aus dem Nichts kommen – sie sind meist über mehrere Spielzüge angelegt und hängen nicht nur davon ab, wie Federer die Bewegungen des Gegners bestimmt, sondern auch von Tempo und Platzierung des entscheidenden Schlags. Und wer begreifen will, warum Federer andere Weltklasseathleten derart mühelos kontrolliert, braucht wiederum sehr viel mehr technisches Wissen über das moderne Power-Grundlinienspiel, als es das Fernsehen vermitteln kann.
Seit fast zwei Jahrzehnten wird offiziell erklärt, dass sich das professionelle Tennis von einem Spiel, das von Tempo und Finesse geprägt war, in ein körperbetontes, fast brutales Spiel verwandelt hat. Die Profis von heute sind messbar größer, stärker und fitter, und die modernen Hightech-Schläger geben ihnen die Möglichkeit, mit mehr Tempo und Spin zu spielen. Die Frage ist, wieso ausgerechnet jemand von Federers Eleganz das Herrentennis dominiert.
Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Eine davon hat mit Metaphysik zu tun, und wahrscheinlich kommt sie der Wahrheit am nächsten. Die anderen sind eher technischer Natur und lassen sich besser in Worte fassen.
Die metaphysische Erklärung ist die, dass Federer einer jener seltenen Athleten ist, für die bestimmte physikalische Gesetze nicht zu gelten scheinen. Ähnlich liegen die Dinge bei dem Basketballer Michael Jordan, der nicht nur unglaublich hoch springen, sondern sich auch etwas länger in der Luft halten konnte, als es die Schwerkraft eigentlich erlaubt. Oder bei Muhammad Ali, der wirklich über den Boden zu fliegen schien.
Seit 1960 gibt es wahrscheinlich ein halbes Dutzend solcher Beispiele. Federer gehört ebenfalls in diese Kategorie – man könnte diese Sportler als Genies oder Mutanten oder übernatürliche Wesen bezeichnen. Federer wirkt nie gehetzt, verliert nie die Balance. Seine Bewegungen sind eher harmonisch als athletisch. Genau wie Ali, Jordan oder Maradona, wirkt er realer und zugleich irrealer als seine Gegner. Federer in Weiß auf dem Wimbledon-Rasen ist wie ein Wesen aus Fleisch und Licht.
Nach dem Halbfinale von Wimbledon in diesem Sommer zwischen Federer und dem Schweden Jonas Björkman, bei dem Federer den Schweden nicht nur einfach besiegt, sondern vernichtend geschlagen hatte, sagte Björkman auf der anschließenden Pressekonferenz, dass er sich gefreut habe, dem Schweizer vom besten Platz des Hauses aus zusehen zu dürfen. Vor der Pressekonferenz hatten die beiden Freunde miteinander gescherzt und geplaudert, Björkman sprach davon, wie unnatürlich groß der Ball auf dem Platz gewirkt habe, was Federer bestätigte: so groß wie eine Bowlingkugel oder ein Basketball.
Federer wollte seinem Freund gegenüber höflich sein, aber seine Bemerkung verrät auch, was Tennis für Federer wirklich ist. Wenn jemand übernatürliche Reflexe, Koordination und Schnelligkeit hat, wird er auf dem Platz nicht das Gefühl haben, sehr schnell oder reaktionsstark zu sein, sondern eher den Eindruck haben, dass der Tennisball sehr groß ist und sich langsam bewegt, was wiederum auch bedeutet, dass man mehr Zeit hat, den Ball zu treffen. Für den staunenden Zuschauer mag das alles sehr schnell aussehen und überaus geschickt, ein Spieler wie Federer aber wird dies selbst nicht empfinden.
Schnelligkeit ist nur ein Teil des Geheimnisses. Tennis wird oft als Spiel bezeichnet, in dem es um Zentimeter geht. Aus Sicht eines Spielers ist es ein Spiel, in dem es um Mikrometer geht. Jede noch so geringfügig veränderte Schlägerhaltung im Moment des Auftreffens hat große Auswirkungen auf die Flugbahn des Balls.
Stellen Sie sich vor, Sie stehen knapp hinter der Grundlinie. Der Gegner schlägt den Ball auf Ihre Vorhand. Sie bringen sich in die entsprechende Position und holen mit der Vorhand aus. Der heranfliegende Ball ist nun kurz vor Ihrer Hüfte, rund 15 Zentimeter vom Treffpunkt entfernt. Sie haben nun viele Möglichkeiten: Durch leichtes Kippen des Schlägers um ein paar Grad nach vorn oder hinten produzieren Sie einen Topspin beziehungsweise einen Slice. Ein senkrecht gehaltener Schläger produziert eine flache Flugbahn ohne Drall. Wenn Sie den Schläger etwas nach links oder rechts ziehen und den Ball vielleicht eine Tausendstelsekunde früher oder später schlagen, produzieren Sie einen cross beziehungsweise longline geschlagenen Return. Außerdem beeinflussen kleine Nuancen bei der Schlägerhaltung, wie hoch der Ball über das Netz fliegt. Dies und die Härte Ihres Returns wirken sich darauf aus, wie tief oder flach der Ball in der gegnerischen Spielfeldhälfte landet, wie hoch er abspringt. Das alles ist wichtig, aber genauso wichtig ist es auch, wie nahe Sie den Ball an sich heranlassen, wie Sie den Schläger halten, wie tief Sie die Knie beugen, wie weit Sie Ihr Gewicht nach vorn verlagern und ob Sie imstande sind, die Flugbahn des von Ihnen geschlagenen Balls zu verfolgen und gleichzeitig zu beobachten, wie Ihr Gegner reagiert. Außerdem müssen Sie bedenken, dass Sie nicht ein statisches Objekt in Bewegung setzen, sondern die Flugbahn eines Balls umkehren, der auf Sie zugeflogen kommt – im Profitennis wohlgemerkt mit einer Geschwindigkeit, bei der keine Zeit mehr zum Nachdenken bleibt. Der Aufschlag des kroatischen Spielers Mario Ancic beispielsweise erreicht ein Tempo von etwa 210 Stundenkilometern. Da die Entfernung zwischen Ancic‘ Grundlinie und Ihnen etwa 24 Meter beträgt, bedeutet das, dass der Ball in 0,4 Sekunden bei Ihnen ist. Das reicht nicht einmal für einen doppelten Lidschlag.
Im Profitennis geht es also um Bewegungsabläufe, die so schnell sind, dass dem Spieler bewusste Entscheidungen nicht mehr möglich sind. Wir befinden uns hier im Bereich von Reflexen, von unbewusst ablaufenden physischen Reaktionen. Und doch hängt ein erfolgreicher Aufschlagreturn von vielen Entscheidungen und physikalischen Feinabstimmungen ab, die weitaus komplexer und gezielter sind, als es ein Blinzeln oder ein erschrockenes Zusammenzucken erfordern.
Ein erfolgreicher Aufschlagreturn verlangt kinästhetisches Gespür, das heißt: die Fähigkeit, den Körper und dessen künstliche Verlängerung durch komplexe, blitzschnelle Reaktionen zu steuern. Also: Gespür, Antizipation, Ballgefühl, Auge-Hand-Koordination, Bewegungsfluss, Reflexe und dergleichen mehr. Für talentierte Jugendspieler geht es im Training vor allem darum, ihre kinästhetische Wahrnehmung zu verfeinern. Trainiert werden sowohl Muskeln als auch Nervenbahnen. Wer täglich Tausende Bälle schlägt, entwickelt die Fähigkeit, durch Gespür und Ahnung etwas zu bewältigen, was mit bewusstem Denken nicht möglich ist.
Weil das nur mit viel Zeit und Disziplin erreicht werden kann, fangen Top-Tennisspieler meist schon früh an. Federer hat mit 16 die Schule verlassen und gewann bald den Juniorentitel in Wimbledon. Dafür aber braucht es mehr als nur Zeit und Training – eben Talent. Federers Herrschaft ließe sich also damit erklären, dass er kinästhetisch etwas begabter ist als seine Konkurrenten. Nur ein kleines bisschen begabter, denn jeder unter den Top 100 ist hinreichend begabt, aber wie gesagt, beim Tennis geht es um Mikrometer.
Diese Erklärung ist plausibel, aber unvollständig. 1980 wäre sie vermutlich vollständig gewesen. Doch im Jahr 2006 stellt sich die Frage, warum es noch immer auf diese Sorte Talent ankommt. Roger Federer dominiert das größte, stärkste, fitteste, besttrainierte Feld im Profi-Herrentennis aller Zeiten, in dem Schläger verwendet werden, von denen es heißt, sie würden die kinästhetischen Talente der Spieler überflüssig machen – so als wollten sie während eines Metallica-Konzerts Mozart pfeifen.
Tatsächlich ist es so, dass die modernen Graphitschläger um einiges leichter und größer sind als die alten Holzschläger. Bei einem modernen Schläger muss man den Ball nicht exakt in der geometrischen Mitte der Bespannungsfläche treffen, um ein hohes Tempo zu produzieren, oder genau den richtigen Punkt, um ihn mit Topspin zu schlagen. Diese Schläger ermöglichen wesentlich schnellere und härtere Grundlinienschläge als noch vor 20 Jahren. Im Vergleich zum altmodischen Serve-and-Volley oder zu den ermüdenden Grundlinienduellen von früher ist das moderne Hochgeschwindigkeits-Grundlinienspiel nicht langweilig, aber es ist relativ statisch und begrenzt. Es ist aber nicht, wie Tennisgurus seit Jahren befürchten, der Endpunkt des Tennissports. Und genau das beweist Roger Federer.
Wimbledon Finale, 9. Juli 2006, zweiter Satz des Finales. Federers Gegner ist der Spanier Rafael Nadal, der sehr jung ist und einen mächtigen Bizeps besitzt, ein geradezu prototypischer Spieler des modernen Power-Tennis. Nadal führt 2:1 und schlägt auf. Federer hat den ersten Satz zu null gewonnen, doch dann ließ er ein wenig nach, wie das manchmal bei ihm vorkommt, und rasch liegt er ein Break zurück. Nadal ist deswegen ein so unangenehmer Gegner, weil er schneller ist als die anderen, weil er all die Bälle erreicht, die sie nicht erreichen. Im Verlauf dieses Ballwechsels schlägt Federer mehrmals hintereinander mit einem Slice auf die beidhändige Rückhand Nadals, der wie hypnotisiert wirkt und zwischen den Ballwechseln nicht mehr in die Mitte der Grundlinie zurückläuft. Federer schlägt nun eine extrem harte Rückhand mit tiefem Topspin in Nadals Vorhandecke, Nadal erwischt den Ball und schlägt ihn cross, Federer antwortet mit einer noch härteren cross geschlagenen Rückhand bis zur Grundlinie, Nadal schlägt den Ball wieder in Federers Rückhandecke und läuft schon zur Mitte zurück, während Federer nun eine völlig andere Rückhand schlägt, cross, aber sehr viel kürzer und in einem steileren Winkel, den niemand erwarten würde, und mit so viel Topspin, dass der Ball knapp vor der Seitenlinie landet und hart wegspringt, unerreichbar für Nadal. Ein spektakulärer Schlag, ein Federer-Moment.
Wer diese Szene live verfolgt hat, konnte auch sehen, dass Federer den entscheidenden Schlag mit vier oder fünf Schlägen vorbereitet hat. Alles, was nach dem ersten longline Slice kam, sollte Nadal einlullen und seinen Rhythmus stören, ihn aus der Balance bringen und schließlich diesen letzten, unglaublichen Ball ermöglichen.
Federer ist ein erstklassiger, kraftvoller Power-Grundlinienspieler, aber noch viel mehr. Da ist seine Intelligenz, seine Antizipation, sein Gefühl für den Platz, sein Talent, den Gegner zu lesen und zu dominieren, Drall und Tempo zu kombinieren, zu täuschen, taktische Voraussicht und kinästhetische Fähigkeiten einzusetzen statt nur schieres Tempo. Federers Spiel zeigt die Grenzen – und die Möglichkeiten des Herrentennis von heute.
All das mag vielleicht etwas überzogen klingen und allzu bewundernd, doch wir sollten wissen, dass im Fall Roger Federer nichts überzogen klingen kann. Er zeigt, dass Geschwindigkeit und Härte nur das Skelett des modernen Herrentennis sind, aber nicht das Fleisch. Federer hat das Herrentennis neu erfunden, er verkörpert es, buchstäblich und im übertragenen Sinne.