Mein Vater

Heute wäre mein Vater 101 Jahre alt geworden. Er starb mit 88 einen friedlichen Tod, sofern man bedenkt, was ihm erspart geblieben ist: Demenz, Verlust seiner selbst, Qual, noch mehr Leiden, als ihm ohnedies beschert gewesen war. Er sah nicht mehr viel, hörte schlecht, war aber bis zuletzt bei Sinnen, was mich im Nachhinein noch mehr freut.

Das letzte Bild von ihm, das ich für immer im Kopf behalten werde, sah so aus: Mein Vater saß an seinem Schreibtisch im Wohnzimmer unseres Hauses, die Lupe in der Hand, Briefmarken vor sich. Antonia, seine 7-jährige Enkelin, kam neugierig näher, setzte sich auf seinen Schoß, genauer gesagt: auf seine Prothesen, und er zeigte ihr seine Briefmarken und versprach ihr, dass er ihr ein Album zusammenstecken werde.

Eine halbe Stunde sitzen die beiden einträchtig am Schreibtisch, Großvater und Enkelin, vertieft in die Briefmarkensammlung, und kein einziges Mal muss er in dieser Zeit husten. Das Karzinom in seiner Lunge hat ein Einsehen und lässt ihn in Ruhe. Sechs Wochen später setzt er sich in seinem Bett auf, nimmt ein Glas mit Wasser in die Hand, will trinken, kippt nach hinten und ist tot.

Je länger er tot ist, desto öfter und stärker denke ich an ihn. Eltern sind eine Brandmauer und sobald sie tot sind, wissen die Kinder, dass sie die nächsten sein werden, die sterben müssen, sofern die Biologie und nicht das Schicksal waltet. Je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass ich ihm ähnlich bin, im Bestreben fair und gerecht den Kindern und Enkeln gegenüber zu sein. Am liebsten habe ich wie er alle um mich und dann schaue ich mich zufrieden um, ohne dass ich, genauso wenig wie er, im Mittelpunkt stehen muss.

Mehr denn je frage ich mich, wie er mit dem Leben zurecht kam. Ohne Klage, zu der er jeden Grund gehabt hätte. Ohne Auflehnen gegen das Schicksal, das es nicht gut mit ihm meinte. Mit seiner Stoik, Kraft und Disziplin brachte er es im Laufe der Zeit zu einigem: zwei Söhne, einigermaßen gut geraten; 11 Enkel, einigermaßen gut geraten; ein Haus gebaut, die Welt bereist, so gut wie immer seine Wünsche so angelegt, dass sie sich erreichen ließen.

Sein Lebensgefühl interessiert mich heute mehr denn je. Der Grund seines Gemütes. Die Tiefe, die er war. Ein Bauernsohn aus dem Frankenwald. Mit 19 in den Krieg gezwungen. Mit 22 ein Krüppel oder freundlicher gesagt: kriegsversehrt, die Beine verloren – als hätte er sie verloren, irgendwo stehen lassen wie einen Mantel oder einen Hut. Angeschossen und Wundbrand. Nicht im Schnee bei Charkow liegen gelassen, sondern zurückgeschleppt von anderen, die er kaum kannte.. Mehr als zwei Jahre lang im Lazarett. Eine junge Frau kennengelernt, meine Mutter, die nach seinem Tod sagte, er hätte ihr damals so unendlich leid getan. Durchs Leben gekämpft, bis es leichter wurde, viele Jahre später.

In „Wolfszeit“, dem eindrucksvollen Buch von Harald Jähner, habe ich ein Gedicht gefunden, von dem ich mir denke, dass es sein Gemüt treffend beschreibt. Erich Fried schrieb es im Jahr 1945. Nie hat mein Vater lamentiert, nie geklagt. Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht:

Wir sind am Tod vorüber marschiert / und haben ihn hinten gelassen / weil auch der Tod den Atem verliert / in den stürzenden Gassen. / Wir ziehen auf Krücken bei euch ein / ist nichts mehr, was uns droht… / so lasst uns heute lustig sein / denn gestern waren wir tot.

Müde ist der Tod geworden, deshalb hat er Männer wie meinen Vater ausgelassen. Ein blinder Zufall verschonte ihn, während andere vor ihm, hinter ihm, neben ihm und über ihm krepierten. Krepieren ist kein schönes Wort, gibt aber wieder, worum es geht: Um diesen grauenhaft blinden Zufall, der Leben nach Belieben nimmt oder nicht. Die einen kommen nicht davon, die anderen schon. Denen, die davon kommen, bleibt das schlechte Gewissen, dass sie davon gekommen sind. Bleibt die Schuld.

Mein Vater ist nicht auf Krücken eingezogen, sondern auf Prothesen. Er hatte noch seine Kniee, denn amputiert wurden beide Beine 10 cm unterhalb. Er konnte einziehen, immerhin, was so vielen anderen verwehrt war. Ihm wäre es als Blasphemie erschienen, hätte er sich darüber beschwert, dass er kriegsversehrt war, während so viele andere vom Krieg verschlungen worden waren, als der Tod noch Atem besaß.

Vielleicht ist es aber auch so: Beschäftigung mit seinem Schicksal hätte ihn gelähmt. Deshalb schaute er nach vorne und nicht zurück. Freiwillig war er nicht in den Krieg gezogen. Nicht einmal ein Nazi war er gewesen. Aufs Verdrängen hatte er einen Anspruch. Verdrängen war sein Recht. Und wir, seine Söhne, müssen ihm dankbar dafür sein, dass er weitermachte, als verstünde es sich von selber, anstatt zu klagen, zu lamentieren. Nichts davon verstand sich von selber. Bis wir das verstanden, vergingen viele Jahre.

Die Eule der Minerva fliegt erst in der Dämmerung. In der Dämmerung meines Lebens fühle ich mich meinem Vater näher als zu seiner Lebenszeit.