Schlafwandeln oder aufwachen

Auf die Bundesregierung prasseln allerlei gute Ratschläge ein. Das Hickhack müsse nun endlich ein Ende haben, wünscht sich der Verband der chemischen Industrie. Die Koalition sollte ihrem Anspruch gerecht werden und Fortschritt wagen, sagt der Maschinenverband. Die Regierung schlafwandle durch die Krise, sagt der Arbeitgeberpräsident. Die Ampel brauche mehr inneren Zusammenhalt, um das Land zusammen zu halten, sagt der Chef der IG-Metall.

Deutschland ist unter anderen das Land der Industrieverbände, Gewerkschaften und anderer Lobby-Organisationen. Sie verfolgen ihre eigenen Interessen und stellen Forderungen an den Kanzler, den Finanzminister oder den Wirtschaftsminister; das ist in Ordnung so. Aber es fällt auf, dass ihr Einlassungen derzeit mit der Besorgnis gespickt sind, dass die Regierung mit sich selber beschäftigt bleibt und damit die Demokratie, wie wir sie kennen, ins Wackeln kommen könnte.

Die Ratschläge zielen auf die Klausur der Bundesregierung morgen und übermorgen in Meseberg. Es sagt uns ja auch schon der gesunde Menschenverstand, dass die selbstvergessene Selbstbeschäftigung der drei Teile, aus denen die Regierung besteht, ins Nirwana führt. An empirischen Belegen dafür, dass auch die FDP von der Opposition in der Regierung keinen Vorteil zieht, fehlt es nicht. Ebensowenig mangelt es an Erfahrung, dass Olaf Scholz durch Schweigen, Zurückhaltung und Runterspielen der Probleme nicht an Popularität gewinnt. Und die Grünen merken jetzt, dass der Boykott der Familienministerin sie noch mehr herunterzieht, was denn sonst.

Was Verbände und Gewerkschaften in diesen Tagen hören lassen, ist der Appell, bloß nicht weiter zu machen wie bisher. Recht haben sie und vermutlich denkt eine größere Mehrheit in Deutschland genau so: Hört auf mit  Zeder und Mordio, regiert ernsthaft und kümmert euch um die Probleme dieses Landes, um die Inflation, um die Digitalisierung, um Strom und Energie, um die Bundeswehr, um den Mittelstand, ums Klima etc. Ist genug zu tun, also packt es an.

Im Grunde bietet sich der Koalition die vorerst letzte Chance, für geordnete Verhältnisse in der Regierung und geschmeidige Abläufe zwischen den Ministerien zu sorgen. Am 8. Oktober wählen Hessen und Bayern. Im bayerischen Landtag sind SPD und Grüne marginale Fraktionen. Dort ist die Frage, ob der Irrläufer Hubert Aiwanger für seine Ausfälle auch noch belohnt wird und wo die AfD landet. Freie Wähler und AfD stellten bei der letzten Wahl insgesamt 49 Abgeordnete. Sollten beide Parteien zunehmen, wonach es momentan aussieht, hätte es die CSU schwer, 40 Prozent zu erreichen.

In Hessen regieren CDU und Grüne gemeinsam. Fallen die Grünen, was zu erwarten ist, wegen der Großwetterlage zurück, gibt es mit ihnen keine Mehrheit mehr und das schwarz-grüne Experiment scheitert – mit Auswirkungen auf die Bundesregierung, sofern sie sich in Meseberg nicht dauerhaft zusammenreißt.

In Wahrheit baut sich ein Drama auf. Gelingt es der Regierung nicht, Frieden zu stiften, und gelingt es dem Bundeskanzler nicht, von leise auf laut umzuschalten – kurzum: Gelingt es Olaf Scholz nicht, den Schalter umzulegen, fliegt ihm der Laden bald um die Ohren. Denn der IG-Metall-Chef hat ja recht. Der Mangel an innerem Zusammenhalt verhindert es, dass die Regierung das Land stabilisiert.

Die Selbstblockade zeigt Wirkung, das sollten Christian Lindner und Olaf Scholz wissen und auf Abhilfe in Meseberg sinnen. Eigentlich ist die Urlaubszeit fürs Nachdenken gut, zumal dann, wenn das chronische Schlafdefizit ausgeglichen wird. Darauf haben manche, auch ich, ihre Hoffnungen gesetzt, aber nicht mit Lisa Paus gerechnet. Konnte sie sich nicht still mit dem Finanzminister einigen? Und ist es nicht absurd, dass sie für ihr Verhalten auch noch intern Beifall bekommt?

Auf das Echo kommt es an, auf die Außenwirkung, auf den Vertrauensverlust in die Regierung im Besonderen und die Demokratie im Allgemeinen. Und die Problemzone liegt nicht nur in Ostdeutschland. Man muss nicht jede windige Umfrage todernst nehmen, aber die Trends zeigen bestimmt nicht nach oben, sondern nach unten.

Schlechtes Regieren schwächt alle drei Parteien. Schlechtes Regieren stärkt die AfD. Schlechtes Regieren nagt an der Demokratie. Besseres Regieren führt zur Stärkung von Parteien und Demokratie, so einfach ist das. Ausreden sind nicht mehr zulässig und Weiter-so ist wie schlafwandeln in noch größere Krisen.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Verbieten? Brandmauern?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die AfD zu bekämpfen. Man kann juristisch gegen sie vorgehen, man kann sie dem Verfassungsschutz überlassen, man kann rhetorisch mit ihr umgehen oder mit dem Selbstbewusstsein einer seit vielen Jahrzehnten etablierten Demokratie.

Juristisch: Der „Spiegel“ plädiert in einem Leitartikel für ein Verbot und zwar auf Landesebene, genauer gesagt im Osten. Das ist ein schlauer Schachzug, denn die Gesamtpartei vom Bundesverfassungsgericht sanktionieren zu lassen, wäre ungleich schwieriger. Leichter könnte der thüringische Landesverband rund um Björn Höcke und seinen Trupp verboten werden, zumal man Höcke laut Gerichtsbeschluss einen Faschisten nennen darf.

Die Frage ist natürlich, ob dieser juristische Partikularismus eine politische Auseinandersetzung ersetzen könnte. Nach aller Erfahrung doch wohl eher nicht, zumal die Repräsentanten der AfD ihren Extremismus geschickter handhaben und eben zum Beispiel nur noch selten von einem Austritt aus der Europäischen Union fantasieren. Und mehr Distanz zur USA und weniger Distanz zu Russland fordert auch Sarah Wagenknecht, der eine linke AfD vorschwebt.

Verfassungsschutz: Wer sich auch immer mit der AfD befasst, findet in Michael Haldenwang einen Chronisten der rasanten Entwicklung der Rechten. „Wir sehen eine erhebliche Anzahl von Protagonisten in dieser Partei, die immer wieder Hass und Hetze verbreiten gegen Minderheiten aller Art hier in Deutschland«, sagte er nach dem Europa-Parteitag der AfD. Für ein Teil- oder Gesamtverbot der AfD müsste der Bundesverfassungsschutz, dem Haldenwang vorsteht, die Grundlage liefern. Er erweckt den Eindruck, dass er sich es zutraut. Damit ist er zur Hassfigur der AfD aufgestiegen.

Rhetorik: Haldenwangs Öffentlichkeitsarbeit in allen Ehren, aber eigentlich sollte jemand in seiner Funktion mehr Zurückhaltung üben. Statt dessen füllt er eine Lücke, die Politiker aller Parteien entstehen ließen. Denn die Auseinandersetzung mit der AfD obliegt dem Bundeskanzler oder Vorsitzenden wie Christian Lindner und Friedrich Merz. Merz hat in Verkennung der Prioritäten die Grünen als Hauptgegner identifiziert.

Ja, das Heizungsgesetz ist ein Herzensanliegen von Robert Habeck und war in sonderbarer Ignoranz für die Außenwirkung formuliert worden. Kritik daran ist berechtigt. Aber etliche Gründerfiguren wie Alexander Gauland sind nicht zufällig der CDU entsprungen und die AfD ist in Konkurrenz zu ihr gegründet worden. Dazu ist sie in Sachsen, Sachsen-Anhalt der Thüringen zu fester Größe aufgestiegen – in Ländern, in denen die CDU nach der Wende als Volkspartei Triumphe gefeiert hatte. Die AfD ist ihr Hauptgegner.Auf diesem historischen Hintergrund genügt es bestimmt nicht, Brandmauern gegen die AfD zu errichten. Außerdem ist es ziemlich dämlich, wenn ein Parteivorsitzender der CDU Mauern aufbauen möchte. Diese markige Rhetorik kommt in Ostdeutschland nicht besonders gut an. Gestern war es 62 Jahre her, dass eine Mauer das eine kleine Deutschland vom anderen großen Deutschland getrennt hatte. Hat kein Berater seinen Meister auf diese Symbolik hingewiesen?

Selbstbewusstsein: Es ist überfällig, dass Vertreter aller Parteien in die Länder ausschwärmen, in denen in einem Jahr Wahlen anstehen. Zu ihnen zählen auch besserwisserische Landesfürsten wie Wüst/Günther/Söder. Sie sollten zuhören und richtigstellen. Sie sollten sich sagen lassen, warum CDU/FDP/Grüne/Linke hier dramatisch an Vertrauen verloren haben, und könnten für ihre Lösungen der Probleme werben, im Kleinen wie im Großen.

Sie haben ja gemerkt, dass sie zusammen an Autorität und Überzeugungskraft verlieren. Das gilt für die drei Fraktionen in der Bundesregierung wie für die CDU in der Opposition und die an ihrer Bedeutungslosigkeit arbeitende Linke. In Berlin haben alle Parteien zuletzt selbstvergessen operiert, als gäbe es keine Außenwelt. Diese Phase sollte vorüber sein. Besser wär’s.

Es hängt entscheidend davon ab, in welchem Gemütszustand die AfD bekämpft wird. Empörung darüber, dass es sie gibt, hilft nicht weiter. Juristische Konfrontation ist ein letztes Mittel. Aber zuerst und zuletzt kommt es auf die politische Auseinandersetzung an. Und das Selbstbewusstsein der Demokraten schadet bestimmt nicht, vor allem dann, wenn es mit einer gewissen Demut durchmischt ist.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Bloss nicht weiter so

Derzeit ist es unerheblich, ob Friedrich Merz der richtige Kanzlerkandidat wäre oder nicht. Die bloße Tatsache, dass sich die CDU heute schon darüber Gedanken macht, was in zwei Jahren sein wird, ist ein Beleg für mangelndes Problembewusstsein. Der Zeithorizont, auf den es ankommt, umfasst ein Jahr. Dann wählen drei ostdeutsche Bundesländer und wie die CDU in sie hineingeht, entscheidet darüber, wie sie herauskommt. Davon hängen ihre weiteren Möglichkeiten ab.

Von Friedrich Merz kann die CDU schon länger wissen, dass er zum Dampfplaudern neigt. Er ist eben ein von sich selbst ungemein eingenommener Einzelgänger, der meint, die Worte, die aus ihm heraus purzeln, seien allesamt Goldstücke. Zu undiszipliniert ist er, um die richtigen Botschaften dauerhaft zu senden und innerparteilich abzustimmen. Und, was noch stärker ins Gewicht fällt, er setzt die falschen Akzente. Die Grünen als Hauptgegner: so ein Quatsch. Diese Fehleinschätzung kommt zustande, weil Merz Berlin für den Nabel der Welt hält und Ostdeutschland vergisst.

Es ist schon wahr, dass der Unfrieden in der Bundesregierung wie ein Mühlstein ist, der FDP, SPD und Grünen am Halse hängt. Aber auch dem letzten Christdemokraten muss jetzt dämmern, dass seine Partei zwar von der Krise profitiert, aber die AfD eben noch mehr. Sie ist der Hauptgegner, wer denn sonst.

Die westliche CDU neigt noch immer dazu, den Osten für ein Phänomen zu halten, für ein Unikum, das pädagogisch im Frontalunterricht zur Besinnung gebracht werden muss. Die Merz-CDU denkt heute noch so, wie die Kohl-CDU damals über „die neuen Bundesländer“: Wie kriegen wir sie eingefangen?

Dass aber Wähler ihre Interessen im Blick haben, gilt hier wie dort. Auch, dass sie ihre eigene Mentalität haben, ist unschwer zu verstehen. Das Saarland hat eine andere Geschichte als Bayern und damit ein anderes kollektives Gemüt. In Ostdeutschland tanzten die heute 50- bis 60-jährigen vor mehr als 30 Jahren als junge Menschen auf der Mauer und waren völlig aus dem Häuschen, als sie die Grenze im Trabbi passieren durften. Die Zukunft schien golden zu sein. Sie konnten ja nicht ahnen, dass sie wenige Monate später zu den Arbeitslosen der neuen Zeit gehören würden. Dass ihre Betriebe saniert, privatisiert oder geschlossen würden. Dass sie im vereinten Deutschland weniger verdienen und ihre Eltern über viele Jahre geringere Rente beziehen würden.

Der zu Unrecht vergessene Gelehrte Karl Polanyi hat vor vielen Jahren das klügste Buch über die Transformation von Gesellschaften und das Aufkommen extremistischer Parteien geschrieben. Zweierlei ist daran interessant: Erstens ist die soziale Entwurzelung durch Arbeitslosigkeit ein Drama für jeden Arbeitslosen. Zu den Betrieben in der DDR gehörten oft Ferienheime, kulturelle Einrichtungen, Kitas etc. und vor allem das Recht auf Arbeit. Die wärmelose Reduktion auf das rein Ökonomische war für DDR-Bürger ein Schock. Es ist eben kein Wunder, wenn heute Demoskopen feststellen, dass etliche Menschen dieser versunkenen Zeit mit Wehmut gedenken.

Zweitens fand Polanyi heraus, dass diese Wunde weiterhin schwärt, auch wenn die Menschen nach gewisser Zeit wieder Arbeit finden. Das traumatische Erlebnis wirkt nach und beeinflusst das Denken, eben auch das Wählen der AfD. Wie viele Prozent dieser Wähler aus Überzeugung, wie viele aus Protest die Höckes etc. wählen, weiß wahrscheinlich niemand genau. Es ist auch müßig darüber zu spekulieren. Auf jeden Fall müsste es der Ehrgeiz der CDU, aber genauso der SPD und sogar der Grünen sein, den Block aufzubrechen, Wähler zurück zu gewinnen und die AfD zu schwächen. Nicht durch das große Palavern, sondern das emsige Tun. Mit dem Verständnis für die Biographie fängt es an, das stimmt. Nicht die DDR ist der Bezugsrahmen, sondern die 34 Jahre seit der Wiedervereinigung.  

Ginge es mit rechten Dingen zu, müssten sich die Planer der Landtagswahlen im nächsten Jahr schon heute zusammensetzen, anstatt jeweils alleine vor sich hinzu werkeln. Denn es hilft ja nichts, die Landesparteien in Sachsen, Thüringen und Brandenburg brauchen kraftvolle Unterstützung. Es genügt nicht, dass dann die üblichen Verdächtigen aus den Berliner Ministerien kurzfristig hereinschneien und im dunkelblauen Mercedes wieder davon rauschen. Wer Wähler zurückgewinnen will, muss mit vielen Abgesandten, die sich mit den Besonderheiten vertraut machen, das Feld beackern. Ausdauer und Geduld sind nötig. Und die Botschaft muss stimmen, was denn sonst: Wählt uns, wir haben verstanden, wir kümmern uns.

Einer, der unablässig versucht, der West-CDU den Osten zu erklären, ist der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Sie sollte ihm zuhören, er hat etwas zu sagen, auch wenn nicht alles Gold ist. Im Interview mit der FAZ rät er zum Beispiel zu einem pragmatischen Umgang mit der AfD. Gemeint ist die kommunale Ebene, in der es um Sachliches geht, zum Beispiel um die Teilsanierung einer Straße oder den Bau einer Schule. Recht hat Kretschmer, wie ihm ein Praktiker bestätigt: „Wichtige Sachen werden im Präsidium des Kreistages besprochen oder im Büro des Landrats. Dort sind alle Fraktionen beteiligt, auch die AfD,“ sagte Gernot Schmidt, der SPD-Landrat in Märkisch-Oderland. 

Wahrscheinlich wird es demnächst nicht weniger pragmatisch im Landkreis Sonneberg mit dem AfD-Landrat Robert Sesselmann zugehen. Ganz unten, wo die Demokratie konkret ist, gelten eigene Gesetze, und das muss nicht schlecht sein. Deshalb hat Friedrich Merz mit seinem Plädoyer für Pragmatismus in den Kommunen ironischerweise recht. Er sagte das Richtige, aber er ist der Falsche, das Richtige zu sagen, weil er ja als Drachentöter gestartet war; daran erinnern ihn nun Parteifreunde, die es nicht unbedingt gut mit ihm meinen. Die rasante Kritik an Merz ist eben auch selbstgerecht, weil sie vom eigentlichen Problem ablenkt.

Es wäre wirklich vorteilhaft, wenn die Bundesregierung den Sommer dazu nutzt, ihren Hang zur Selbstzerstörung einzustellen, und die CDU sich darauf besinnt, den Hauptgegner neu zu bestimmen. Was passiert, wenn sie weiter machen wie bisher, ist ja bekannt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

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Er hat es geschafft. Das Sterben

Wenn ein Schriftsteller stirbt, stirbt seine Stimme, seine Sprache mit ihm und die Welt wird ärmer. Wenn ein Schriftsteller wie Martin Walser stirbt, dann steht die Welt für diejenigen für mehr als einen Augenblick still, die mit ihm und seinen Büchern und seiner Streitlust aufgewachsen sind. Seine Romanfiguren ziehen im Gedächtnis noch einmal vorüber wie liebenswerte Zeitgenossen, denen wir begegnet sind und die uns eine Wegstrecke begleitet haben. Sie sterben mit ihrem Autor und leben in uns weiter. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke.

Uralt ist er geworden, 96, und war nicht immer glücklich darüber. Zu seinem 90. Geburtstag fiel ihm ein, er sei nicht rechtzeitig gestorben. Wie so oft bei ihm wusste man nicht so recht, ob es Koketterie war oder Trauer, Spielerei oder Ernst. Die Beschäftigung mit dem Tod ließ ihn nicht los, was ja auch kein Wunder ist, denn wer so alt wird, dem bleibt nur noch diese letzte Veränderung. „Ich beneide jeden, der es geschafft hat. Das Sterben.“ So schrieb er in der „Zeit“, als Marcel Reich-Ranicki im Jahr 2013 starb.

Martin Walser hat sie alle überlebt und offenbar war es ihm keine Genugtuung. Er ist der letzte Vertreter seiner Generation, vor dem Krieg geboren, noch als Flakhelfer eingezogen und von der deutschen Schuld geprägt. Heinrich Böll war der Inbegriff des rheinischen Melancholikers; er starb vor 38 Jahren,1985. Günther Grass war das Junggenie und ein kreatives Kraftpaket mit Wurzeln in Danzig und im Kaschubischen; er starb vor acht Jahren, im Jahr 2015. 

Böll wie Grass bekamen den Literaturnobelpreis. Walser hätte ihn für sein gewaltiges Werk verdient gehabt. Als ihn Elfriede Jellnek überraschend im Jahr 2004 erhielt, beobachtete der „Spiegel“ seine Reaktion auf der Frankfurter Buchmesse: „Als Martin Walser das Gerücht hört, dass er den Nobelpreis für Literatur nicht gewonnen hat, erstarrt er für einen langen Augenblick. Sein Gesicht wird zu Marmor, glatt, reglos, undurchdringlich. Er schweigt, dann sieht es so aus, als richte er ein paar Worte an sich selbst. Er nickt.“ 

Was sollte er auch nach außen sagen? Sollte er sich beschweren? Die Ignoranz beklagen? Versteht sich ja von selber, dass sich jemand wie Walser fragte: Warum die, warum nicht ich? Dann auch noch Peter Handke 2019. War das gerecht? Natürlich nicht, aber die Reihe der Unberücksichtigten ist nun mal länger als die Reihe der Preisträger. Kein Trost, nur eine Tatsache.

Nicht dass Martin Walser eine dicke Haut gehabt hätte, im Gegenteil. Nicht nur war er beneidenswert sprachmächtig, er suchte auch den Streit, den Konflikt, den Zweikampf, er lebte auf darin. Als der Großkritiker Marcel Reich-Ranicki, auch ein Könner des Wortkrieges, von der Bewunderung der Walserschen Prosa in die Verächtlichmachung überging, schlug der Schriftsteller zurück und gab sich keine Mühe mit literarischer Sublimierung in „Tod eines Kritikers“. Schlüsselromane gehören in die niedere Kunstgattung. Rache ist keine Kunstform.

Lang ist’s her. Man muss schon im fortgeschrittenen Alter sein, um sich an diese Fehden, die Lieben und Geliebten von Walser und seinen Freunden, die Vorkommnisse auf Sylt und die Widerspiegelung in Romanform zu erinnern. Eine andere Zeit, eine andere Welt. Dem Schriftsteller wird man eher gerecht, wenn ihm noch mal in sein Revier folgt, den Bodensee, die elterliche Wirtschaft in Wasserburg, in der er schon als 12-jähriger Gedichte schrieb. Diese Weltgegend gab ihm den Stoff für seine Epik. In Dankbarkeit lebt sie in seinen Büchern für immer fort.

Seine Romanfiguren sind ungemein mit sich selber beschäftigt. Sie scheitern am Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen den Wünschen und den Möglichkeiten. Sie sind nicht gar so sensibel wie die Helden oder Anti-Helden bei Heinrich Böll oder Siegfried Lenz. Bei Bert Brecht steht der erhellende Satz: Doch für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Damit ist Walsers Personal ganz hübsch eingefangen.

Als Zäsur im öffentlichen Leben des Martin Walser erwies sich seine Dankesrede für den Friedenspreis des Buchhandels im Jahr 1988 in der Paulskirche, dem Gral der deutschen Demokratie. Ehrlich gesagt, habe ich bis heute nicht verstanden, was uns Martin Walser eigentlich sagen wollte. Er redete wie erwartet über die deutsche Schuld, womit immer der Krieg und die Verbrechen und Auschwitz gemeint waren. Die Erinnerung daran war das Lebensthema seiner Generation. Wehe, er hätte sich darum gedrückt.

Dann aber tauchte sie in seinen Sätzen auf: die Moralkeule der deutschen Schuld. Stille in der Paulskirche. Ungläubiges Staunen. Walser will die Schuld los haben? Er distanziert sich von den Schuldgläubigen Ich habe mir den Auftritt so zurechtgelegt, dass Martin Walser wie in einem inneren Monolog darlegte, was ihm durchs Gemüt zog, eben die Schuld und die Verzweiflung darüber samt dem irrealen Wunsch, davon befreit zu sein.

Die Aufregung war ungeheuerlich. Die Moralkeule schlug alles nieder. Dagegen kam nichts an. Die Öffentlichkeit war damals solide linksliberal gestimmt und kündigte Martin Walser die Mitgliedschaft im feinen Klub. Wie immer schwang Heuchelei und die Lust am Missverständnis mit. War nicht dieser Walser auch einer von denen, die an der deutschen Teilung litten? Und hatte er nicht früher Sympathie für die DKP bekannt? Igitt.

Deutsche Schriftsteller wie Walser/Böll/Grass waren politische Menschen. Sie irrten sich, lagen daneben und hatten oft recht, was denn auch sonst. Die Zeiten änderten sich und sie sich mit ihnen, Walser mehr noch als die beiden anderen. Lebensgeschichtlich waren sie stark an die alte Bundesrepublik gebunden. Grass kritisierte die Wiedervereinigung giftig. Walser begrüßte sie wie sein alter Freund Rudolf Augstein, der „Spiegel“-Gründer und -Patriarch. Alte Freundschaften unter den hochmögenden Herren zerbrachen. So ist das, wenn die Geschichte bebt. 

Vergangen, verweht. Heute hat es Martin Walser geschafft. Das Sterben. Wir sind ärmer ohne ihn.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.

Mit der Stimme eines Engels

Für immer wird sie diese engelsgleiche Stimme bleiben, die ihren Schmerz über das Ende einer Liebe hinausschreit, eine schöne junge Frau, die ihn am liebsten zurück hätte, diesen unvergleichlichen Mann, der sie verlassen hat. „Nothing compares 2 you“ machte Sinead O’Connor schlagartig weltberühmt. Prince hatte den Song geschrieben und komponiert, aber verbunden bleibt er mit Sinead O’Connor, der schönen jungen Irin mit dem kurz geschnittenen Haar.

Wer so auf die Bühne der Welt katapultiert wird, 1990 war das, ist ein großes Versprechen auf mehr. Auf eigene Lieder. Auf Großes. Wenige Künstler können diese hochfahrende Erwartungen erfüllen und Sinead O’Connor vermochte es nicht. Es lag nicht an ihrer Stimme, ganz bestimmt nicht. Vielleicht traf sie einfach nicht auf den richtigen Produzenten, der den richtigen Texter gekannt hätte und auch den richtigen Komponisten. Wenig fügte sich in diesem Leben, das immer mehr aus den Fugen geriet.

In ihr war diese große Sehnsucht nach Stabilität im Leben durch Musik. In ihr muss aber vor allem dieser große Schmerz und eine große Wut gewesen sein. Sie erzählte von der bösartigen Mutter, die Schläge für die angemessene Erziehung hielt. Später erzählte sie von der Vergewaltigung im katholischen Internat; da war sie wohl 16 Jahre alt gewesen. Traumatische Erlebnisse, die sich offenbar nicht auflösen ließen. Der Hass auf die katholische Kirche loderte in ihr. In der berühmten amerikanischen Sendung „Saturday Night Life“ sollte sie im Jahr 1992 Bob Marleys klassischen Protestsong „War“ singen und zerriss mitten drin eine Fotografie des Papstes Johannes Paul II. Damit machte man sich damals keine Freunde, nirgendwo.

Der Zufall will es, dass gestern ein berühmter Kollege einen runden Geburtstag feierte. Mick Jagger, der Inbegriff des „Forever Young“, der ewige Derwisch auf der Bühne, rank und schlank wie je, der Hedonist mit den vielen Frauen und den vielen Kindern, wurde 80. Mit ihm verbinden sich Dutzende großartiger Texte und riesige ausverkaufte Arenen, solange er sich ohne Rollator bewegen kann. Gebildete Abendländer würden ihn einen Liebling der Götter nennen.

Sinead O’Connor war kein Liebling der Göttinnen. Viermal war sie verheiratet, bekam vier Kinder. Sie blieb nicht ewig jung. Ihr sah man an, was das exzessive Leben auf der Tour einem Menschen anhaben kann. Aus dem Kurzhaarschnitt entstand die Glatze. Sie sang selbst verfasste Lieder wie „Feel so different“, sie erklärte die Wut und den Schmerz mit ihrer Bipolarität, sie sagte, ohne Sex sei sie depressiv. Sie gab sich komplizierte neue Namen und legte sie wieder ab. Sie verschwand tagelang aus dem Hotel, man befürchtete, dass sie Selbstmord begangen hatte. Ihr schwieriges, schweres Leben schob sich vor die Songs, die nie an den Erfolg von „Nothing compares 2 you“ heranreichten. 

In Irland hat die Melancholie eine Heimstatt. Van Morrison, der Mann, der keine falsche Note singen kann, hat nicht zufällig ein Lied darauf geschrieben, „Melancholia“, in dem es heißt „Every Single Day / It won’t go away“. Oder Dolores O’Riordan, die Sängerin der „Cranberries“, die mit 48 Jahren in einer Badewanne im Hotel ertrank. Sie teilte mit Sinead O’Connor das doppelte Schicksal, vergewaltigt worden zu sein und unter depressiven Schüben zu leiden. 

Sinead O’Connor war auf einer langen Suche nach innerer Ruhe, die ihr versagt blieb, wie traurig. Wer ihr wohlgesinnt ist, hört sich noch mal diese Hymne eines Verlustes an, die so anhebt: It’s been seven hours and 15 days /Since you took your love away.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Ein bisschen Demut, gefälligst

Wenn Freunde oder Verwandte in Urlaub fahren, wünscht man ihnen eine tolle Zeit und umfassende Erholung an Leib und Seele. Und wenn man bester Laune ist, zum Beispiel auch, weil man sie auf einige Zeit los ist, was man sie natürlich nicht spüren lassen sollte, dann erteilt man ihm auch noch einen guten Ratschlag, was er zur inneren Fortbildung lesen sollte.

Nun sind die Herren und Damen, die uns regieren, in den Urlaub entschwunden. Von Hubertus Heil wissen wir, dass er nicht nur in Brandenburg wohnt, sondern dort auch urlaubt. Friedrich Merz lässt wissen, dass er in Südfrankreich Rad fahren wird. Muss man ihm einen wachsamen Schutzengel wünschen, ist ja nicht mehr der Jüngste. Olaf Scholz weilt an unbekanntem Ort, ist verständlich für den Kanzler, na ja. Robert Habeck und Annalena Baerbock waren vorher noch in Sachsen unterwegs.

Also was würden wir dem einen oder der anderen als Buchempfehlung mitgeben? Alle sollten unbedingt „Eine Frage der Chemie“ lesen. Hat eine Frau im fortgeschrittenen Alter geschrieben, herrliches Buch, macht glücklich. Wir wollen gar nicht erwarten, dass sie es von vorne bis hinten lesen. Es genügt ja schon den Titel ernst zu nehmen. Chemie ist die Wissenschaft, welche die Eigenschaften, die Zusammensetzung und die Umwandlung der Stoffe und ihrer Verbindungen erforscht. Chemisch aber hat der Stoff, aus dem die Regierung besteht, einige Eigenschaften, die dringend einer Umwandlung bedürfen. Sind wir zuversichtlich? Müssen wir im eigenen Interesse sein.

Olaf Scholz würde ich gerne das wunderbare Buch über „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ schenken, das der leider gerade eben verstorbene Milan Kundera geschrieben hat. Dabei kommt es auf die innere Verweigerung der Hauptfigur an, das ist der Chirurg Tomas, sich zu ändern. Was uns das lehrt: Ist gut, wenn man sich treu bleibt. Ist schlecht, wenn man sich damit keinen Gefallen tut. Ist es ratsam, sich trotzdem treu zu blieben? Doch wohl nicht. Noch Fragen?

Für Annalena Baerbock fällt die Wahl leicht: Clausewitz „Vom Kriege“, vor rund 200 Jahren verfasst, unvollendet geblieben, was ja auch ein Symbol für die Kraft des Krieges ist, der alle Beteiligten verschlingen kann. Kühl und klar, nüchtern und sachlich hat es der geadelte preußische General geschrieben. Er glänzt durch Abwesenheit von Moral und die Dialektik von Politik und Krieg. Insofern Pflichtlektüre für von Haus aus romantische Menschenwesen, die ins Grübeln kommen wollen. Kommt die Außenministerin ins Grübeln?

Friedrich Merz sollte mal Dirk Oschmanns „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ lesen. Oschmann ist ein DDR-Arbeiterkind, das es zum Professor für Neuere Deutsche Literatur in Leipzig gebracht hat, eine tolle Karriere, aus der ihm keine reine Genugtuung erwächst. Denn das Arbeiterkind im Professor hat einen Wutschrei in Form eines Buches ausgestoßen. Daraus lässt sich viel über die herrschende Stimmung in den ostdeutschen Ländern herauslesen, in denen im nächsten Jahr gewählt wird. Nach der Lektüre sollte dem Radfahrer Merz die Erleuchtung heimsuchen, wer in Wahrheit der Hauptgegner der CDU ist.

Und dann wollen wir noch Christian Lindner literarisch beglücken und zwar mit Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“. Auf seiner Lebensreise begegnen ihm ebenso interessante wie eitle Figuren. Er selber findet zur Demut, eine Tugend, in der sich eine wahrhaft liberale Grundhaltung erkennen lässt, da sie andere zu ihrem Recht kommen. Ja, und Demut täte nicht nur Lindner gut, sondern auch anderen Regierungsmitgliedern, die im Übermaß auf sich selber bedacht sind.

Ich bin wirklich gespannt, wie sie in ein paar Wochen wieder auftauchen, die Minister und Ministerinnen, braun gebrannt und hoffentlich ausgeschlafen. Eines geht ja gar nicht: Einfach so weitermachen. Denn wenn sie selbstvergessen dort weitermachen, wo sie aufgehört haben, leidet das Ganze darunter, also wir, also das Land.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Unser aller Andie

Andreas Scheuer, vormals Dr. Andreas Scheuer, hüllt sich in Schweigen und er darf das, jedenfalls wird ihn niemand aus der CSU ein paar Monate vor der Landtagswahl zur Einsicht zwingen, dass er ungeheuer viel Mist gebaut hat. Er hält sich an die eiserne Regel: Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen. Andere Milieus sagen dazu: Omertà.

Die CSU hob bei der Vergabe der Ministerien unter CDU-Kanzlern reflexhaft den Finger, sobald das Verkehrsministerium dran kam. Sinn und Zweck der Fixierung erhellt sich, sobald man ein paar Zahlen ins Verhältnis setzt. In den Jahren 2014 bis 2018 standen dem Ministerium 1,6 Milliarden Euro für den Ausbau von Straßen im gesamten Bundesgebiet zur Verfügung. Davon flossen 551 Millionen Euro nach Bayern. Wundert das jemanden?

Die beiden letzten CSU-Minister, sie hießen Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer, machten kein Hehl aus der Bevorzugung ihres wunderschönen Landes. Scheuer argumentierte zum Beispiel entwaffnend so: Die dortige Verwaltung sei leistungsstark und könne somit in bereits geplante Bauvorhaben investieren. Noch Fragen in Nordrhein-Westfalen?

Die Sache mit der Maut fing mit Alexander Dobrindt an. Der war Minister im 3. Kabinett Merkel vom 17. Dezember 2013 bis zum 24. Oktober 2017. Der Ministerpräsident hieß zu dieser Zeit Horst Seehofer. In ihm darf man den Antreiber fürs Erheben einer Straßennutzungsgebühr vermuten. Ohne Rückendeckung in München keine Initiative in Berlin, ist schon klar.

Als noch von einer Maut für alle Autofahrer gleichermaßen, egal ob Ausländer oder Inländer, die Rede war, protestierten CSU-Landräte bayernweit, weil sie Angst vor Einbußen im Tourismus hatten. Darüber konnte die CSU natürlich nicht hinweggehen. Also kam dieser Kompromiss zustande: Maut für Ausländer, Verrechnung der Maut mit der Kfz-Steuer für Inländer. Genial, oder?

Ging halt schief. Kostet jetzt 243 Millionen Euro Entschädigung für die beiden potentiellen Maut-Betreiber. Geht noch, schien ja auf 700 Millionen hinaus zu laufen oder wenigstens auf 560 Millionen. Anwaltskosten 21,5 Millionen Euro. Blöd nur, dass niemand sich noch an Alexander Dobrindt erinnert und alles an Andreas Scheuer hängen bleibt. Bloß weil er Verträge mit den zukünftigen Maut-Betreibern schloss, ehe der Europäische Gerichtshof exakt das Urteil fasste, dass ihm vorhergesagt worden war: Ungleichbehandlung ist diskriminierend.

Was sagte der Übeltäter dazu? Wenig. „Ich als Minister hatte keine andere Wahl, ich musste das Gesetz umsetzen.“ Ernsthaft jetzt? Und auf die Frage, was die Katastrophe für ihn persönlich bedeute: „Es geht mir nah. Punkt. Privat bleibt privat.“ Dabei weiß jeder in der CSU, dass gerade das Private politisch ist, fragt nach bei Seehofer.

An Andreas Scheuer ist vieles abgeperlt. Der Verlust des kleinen Doktortitels, in Prag erworben und eigentlich PhDr abgekürzt, den er als einen großen Doktortitel ausgegeben hatte. Das Debakel mit der Maut, bei der normalerweise die letzten Hunde gebissen werden. Erst jetzt hagelt es Kritik am Teflon-Andi, ausgerechnet wegen einer alten Geschichte in München. Wer hätte das gedacht.

Als Minister für Verkehr war Scheuer unter anderem zuständig für den Bau einer zweiten Stammstrecke für die Münchner S-Bahn im Auftrag des Freistaats. Seit heute ist ein Entwurf für den Bericht des Untersuchungsausschusses im Bayerischen Landtag in Umlauf. Darin wird der Scheuer Andi gegeißelt für sein erstaunlich geringes Interesse am Projekt, was in seinem Heimatland einem Todesurteil gleichkommt. Zudem wird er zitiert, er sei weder beunruhigt noch nervös gewesen, als sich die Kosten auf 8,5 Milliarden verdoppelten und auch noch ruchbar wurde, dass die Bauzeit viel, viel länger ausfallen würde als geplant. Für klärende Gespräche war der Herr Minister nicht zu haben. Noch eine Todsünde.

Man darf das höhere Gerechtigkeit nennen, wenn ein Verkehrsminister sehenden Auges an die Wand fährt, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, da er ja wohlweislich Gutes für seine Heimat getan hatte, und statt dessen über ein national unerhebliches Vorhaben am Pranger steht.

Es fügt sich auch privat günstig, dass  Andreas Scheuer ohnehin die Politik hinter sich lassen will. An diesem Samstag wird er den Vorsitz des CSU-Bezirks Niederbayern niederlegen, seine Hausmacht. Die Absicht war länger bekannt, das stimmt sogar.

Was wird jetzt aus ihm, 48 Jahre jung? Er liebäugle mit der Wirtschaft, lässt er wissen. Na ja, ist konsequent, Verträge kann er ja.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.

Herr Merz auf seinem Sonderweg

Das Erstaunliche ist weniger der parasitäre Erfolg der AfD, sondern die Schnelligkeit, mit der die Konkurrenzpartei CDU darüber hinweg geht. Das mit Tamtam vorgestellte Zehn-Punkte-Programm, sogar einträchtig mit der CSU verfasst, kommt ganz ohne Hinweis auf die halb neokonservative, halb faschistische AfD aus. Erstaunlich.

Als den Hauptgegner machen Friedrich Merz und Markus Söder die Grünen aus. Der CSU mag man die Eindimensionalität sogar nachsehen, sie muss ja im Herbst eine Landtagswahl bestehen und bis dahin kennt sie nur dreierlei: Bayern, Bayern, Bayern. Ja, so ist sie, die CSU, so kennen wir sie, ruchlos und einseitig. Alles andere ist Markus Söder bis dahin zweitrangig, um es milde zu sagen.

Der Vorsitzende der CDU, der mal für sich damit warb, dass einzig er den Aufstieg der AfD stoppen könne, dürfte sich allerdings nicht so viel Vergesslichkeit leisten. Oder ist ihm tatsächlich entgangen, dass seine CDU in Düsseldorf (seinem Bundesland), in Schleswig-Holstein, in Hessen, in Baden-Württemberg, in Brandenburg und in Sachsen mit den Grünen in der Regierung sitzen? Kein Wunder, dass zu den schärfsten Kritikern des Merzschen Sonderweges die Herren Wüst und Günther gehören, zwei Ministerpräsidenten, denen Merz mit seiner engstirnigen Opposition in Berlin Probleme bereitet.

Diese zehn Punkte, die sich Programm nennen, kommen tief aus der Mottenkiste der CDU: den Mittelstand steuerlich zu entlasten, Eigentum zu fördern und Anreize anstatt Verbote und Gebote – Helmut Kohl und Norbert Blum amüsieren sich vermutlich im Grab über den Pathos des Jahres 2023.  Mehr hat die CDU nicht anzubieten?

Es geht nicht nur um Sonneberg und jetzt auch noch um Raguhn-Jessnitz, um den neuen AfD-Landrat und den neuen AfD-Bürgermeister.. Es geht einerseits um die lose bis rohe Sprache, mit der zum Beispiel die FDP über Robert Habeck und sein Heizungsgesetz herzog und andererseits um mehr Ernsthaftigkeit bei eigentlich allen Parteien, die sich demokratisch nennen und von der AfD abgrenzen.

Die Grünen wissen, wer sie sind und wofür sie einstehen. Die FDP beschränkt sich mit kühler Professionalität auf ihre Klientel. Die SPD weiß in Person von Hubertus Heil, was ihre Sache ist, ansonsten ist sie ratlos. Die CDU aber ist ein Scheinriese, der den Vorteil nicht zu nutzen versteht, dass die Regierung mit sich selber im Unreinen ist. In der Opposition könnte sie eine breit gefächerte Diskussion darüber führen, was den Konservatismus heute ausmacht. Für das Gebäude-Energiegesetz zu sein, aber wegen der Eile das Bundesverfassungsgericht anzurufen – erhofft sich die CDU davon Auftrieb? Für Klimaschutz zu sein, aber bitte nicht so eilig – liegt darin die Garantie für 30 Prozent? Wenn Merz mit solchen Finten den Hauptgegner erledigen will, erledigt er sich gleich selber mit.

Machtversessenheit geht immer einher mit Machtvergessenheit. Die AfD ist ein Kollateralprodukt der CDU, was denn sonst. Friedrich Merz kannte diese Genealogie früher, als er noch frank und frei Angela Merkel auf der Nase herumtanzen durfte. Das Konservative, das mit ihm einhergehen sollte, war politisch gedacht als Angebot der CDU an ehemalige CDU-Wähler bei der AfD und nicht als ökonomischer Evergreen, den alteingesessene  CDU-Mitglieder im Schlaf singen können. 

Es würde sich zum Beispiel für den CDU-Vorsitzenden lohnen, mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer über dessen Thesen zu diskutieren, anstatt sie tot zu schweigen. Kretschmer meint, dass „die Ostdeutschen ein besonderes Verhältnis zu Russland“ hätten. Welches denn? Polen und Balten haben auch ein besonderes Verhältnis zu Russland, historisch bestimmt. Offensichtlich aber meint Kretschmer, den Aufstand in der DDR am 17. Juni1953 ignorierend, Ostdeutsche hätten ein sentimentales Verhältnis zu Russland, wobei man gerne wüsste, woher diese Sentimentalität wohl rührt. Geneigt zu Moskau sind derzeit auch Ungarn, Kroatien, Bulgarien oder die Slowakei, die als Hitler-getreue Staaten von der Sowjetunion zuerst besiegt und dann deren Imperium einverleibt wurden. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen Identifikation mit dem Aggressor.

Kretschmer ist auch ein Gegner der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und verlangt nach einer diplomatischen Lösung. Warum eigentlich setzt sich niemand in der CDU ernsthaft mit diesen Thesen auseinander? Kann es sein, weil sie mindestens im Grenzbereich zur AfD liegen? Alexander Gauland wünscht sich auch mehr Bismarck in der deutschen Außenpolitik, mehr Nähe zu Russland und weniger Amerika-Abhängigkeit, politisch wie kulturell, eine Verkehrung der Verhältnisse, die zum Wesenskern der AfD gehört.

Im Sommer 2024 wählt Sachsen und in den Umfragen von heute liegen CDU und AfD gleichauf. Zu beobachten wird also das Experiment sein, ob Kretschmers unerschrockene Suche nach Nähe zur AfD der CDU am Ende hilft oder eben doch der AfD. Und natürlich wird das Ergebnis Auswirkungen auf die ganze CDU haben, deren (westdeutscher) Vorsitzender eine stumme Begleitperson bei allen ostdeutschen Dingen bleibt. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern

Kimmich? Lena Oberdorf!

Diese Saison ist seltsam unglücklich zu Ende gegangen. Bei meinem BVB hatte ich ein ungutes Gefühl, als ich vor dem letzten Spiel gegen Mainz darüber schrieb. Ja, ja, die Nerven, das Gemüt, die Last der Erwartungen, die weichen Knie und dann die Tränen. Jude Bellingham wäre auch dann zu Real Madrid gegangen, wenn Dortmund Meister geworden wäre, so viel scheint klar zu sein. Er ist ein guter Junge, dem man nur Glück wünschen kann. Andererseits: Wann kann der BVB mal die Leute halten, die er aufbaut: Mikhitaryan, Gündogan, Sahin, Haaland, Bellingham, Kagawa, Götze, Lewandowski, Hummels. Ziemlich illustre Reihe, wobei natürlich auffällt, dass Sahin und Götze anderswo nicht glücklich geworden sind und Hummels zurückkam (wie Sahin, gut möglich auch, dass es Sancho wieder nach Dortmund zieht). Auch deshalb ist es eine Katastrophe, dass der BVB im letzten Moment gescheitert ist, an Musiala, genau genommen. Denn irgendwann muss der Verein dazu übergehen, diese tollen Spieler zu halten, die dort reifen, sonst wird as nichts mit der europäischen Spitzenmannschaft, und das wollen wir doch sein, oder?

Mit dem HSV habe ich nur deshalb etwas am Hut, weil ich lange in Hamburg gelebt habe und weil Levin ein Anhänger ist. Levin ist der Freund unserer Tochter und ein ungemein liebenswerter, kluger Junge, mit dem ich gerne Champions League schaue (und heute auf seine Einladung zum bett1open gehe). Also, der HSV ist ein tragischer Verein. Hätte Heidenheim nicht in einer überlangen Verlängerung in Regensburg noch zwei Tore fabriziert, wäre der HSV direkt aufgestiegen. Ob er in der Bundesliga mit dieser Mannschaft überlebt hätte, ist eine andere Frage. Der nahtlose Übergang von Euphorie zu Depression hatte den HSV jedenfalls derart geschwächt, dass er gegen Stuttgart unterging. Der Verein, der vom Schicksal bevorzugt auf ewig in der Bundesliga zu bleiben schien, wird jetzt vom Schicksal bestraft und am Wiederaufstieg gehindert. So sieht es aus.

Der dritte Verein, mit dem ich gebangt habe, ist Viktoria Hamburg und zwar die Frauenmannschaft. Sie spielt in der Regionalliga und einige Bekannte machen sich daran, den Verein zu professionalisieren. Das Ziel ist: 1. Bundesliga innerhalb von fünf Jahren. Ein bemerkenswertes Projekt, dem ich folge. Viktoria war Erster in der Regionalliga Nordost und musste gegen den Ersten in der Regionalliga Nord um den Aufstieg in die 2. Bundesliga spielen. Warum nicht beide Meisterinnen aufsteigen, weiß der Teufel.

Viktoria musste also gegen den HSV spielen und verlor in Hamburg 0:3. Ich war nicht dabei, mir wurde aber gesagt, der HSV sei nicht um drei Tore besser. Dummerweise konnte ich nicht zum Rückspiel in Lichterfelde gehen, schaute mir aber mit Levin die letzte halbe Stunde beim Stande von 1:0 für den HSV auf Sport1 an. Dann Elfmeter, souverän verwandelt, 1:1, noch knapp 30 Minuten Zeit für einige Tore. Chancen nicht genutzt, hinten offen, 1:3 verloren. Macht aber nichts, neuer Anlauf.

Absurderweise gewann die HSV-Frauen mit den gleichen Ergebnissen, mit denen die Männer verloren hatte: 3:0 und 3:1. Da sorgte das Schicksal für ausgleichende Gerechtigkeit.

Heute Abend spielen die Männer Deutschlands gegen Kolumbien. Auch dieses Phänomen, dass Flick kein Händchen für die Nationalmannschaft hat, muss ich unbedingt beobachten. Bei der vermaledeiten WM setzte er auf Bayern und ging, vor allem mit Müller, unter. Die Frage, die es zu klären gilt, lautet: War das Triple mit Bayern schieres Glück oder bekommt er es mit der Nationalelf noch hin? Hätte ich was zu sagen, würde ich Kimmich in den Urlaub schicken. Vielleicht stagniert er ja in seiner Entwicklung, aber vielleicht ist er auch nur überspielt und bräuchte ein Pause.

Mit erheblich größerer Spannung schaue ich der Frauen-WM entgegen. Ich finde Lena Oberdorf sensationell. Sie spielt, wie wir es von Kimmich erwarten. Poppi ist die Mittelstürmerin, die Bayern und Flick verzweifelt suchen. Merle Frohms hält so ruhig und sicher und souverän wie ter Stegen. Und die Abwehr (leider ohne die formidable Giulia Gwinn) steht so stabil, wie es der BVB und gerne hätten. Alles Gute! Viel Glück!

Diese nagende Unzufriedenheit

In einer Volksabstimmung sprach sich eine klare Mehrheit der Schweizer für ein Klimaschutzgesetz aus. Es sieht vor, dass der Verbrauch an Öl und Gas gesenkt und der Umstieg auf regenerative Energie staatlich gefördert wird. Auch Firmen, die in den Klimaschutz investieren, bekommen Subventionen von der Bundesregierung. Kommt uns bekannt vor, oder?

Volksabstimmungen sind in der Schweiz der normale Weg, um politisch hoch umstrittene Probleme zu lösen. Wenn es gut geht, herrscht hinterher die Ruhe nach dem Sturm. Deutschland hat eine andere demokratische Tradition als die Schweiz. Aber ein bisschen neidisch darf man schon sein auf ein Verfahren, das imstande ist, die Gemüter abzukühlen und die Regierung von einer Entscheidung zu entlasten.

In Deutschland wird das entsprechende Gesetz vielleicht noch in den nächsten drei Wochen durch den Bundestag und den Bundesrat gepeitscht. An Abkühlung der Gemüter kann auch hinterher nicht gehofft werden. Die Regierung besteht aus Teilen, die auseinander streben. Die Demoskopen berichten von Vertrauensverlust und Protestbereitschaft, von der die AfD den Nießnutz hat. Da ist ziemlich viel Porzellan zu Bruch gegangen.

Nun gibt es eine Art Gesetz, wonach deutsche Regierungen, egal wer sie anführt, in ihren Frühphasen in schwerwiegende Krisen geraten. Helmut Kohl, Kanzler seit Herbst 1982, trudelte von Krise zu Krise. Gerhard Schröder brauchte auch nicht lange, um als Brioni-Kanzler Furore zu machen und in „Wetten, dass…“ aufzutreten, ehe Oskar Lafontaine den Bettel hinschmiss. Angela Merkel musste zwei Jahre nach Amtsantritt mit der Weltfinanzkrise klar kommen.

Zur halben Ehrenrettung der Ampel-Koalition muss man ihr zugestehen, dass sie auf den Angriff Russlands auf die Ukraine gute Antworte fand. Dass Olaf Scholz keinen Übereifer an den Tag legte, um schwere Waffen nach Gutdünken zu liefern, war in Ordnung. Auch die Umsicht, mit der diese Regierung die Energie umsteuerte und die Preise für Gas und Strom dämpfte, war nicht zu verachten. Selbst die Inflation ebbt jetzt ab, die Preise für Nahrungsmittel fallen sogar. Diese Partien der Bilanz sollte man nicht vernachlässigen.

Was lernt uns das? Niemand hätte geglaubt, dass Helmut Kohl 16 Jahre lang Bundeskanzler bleibt, schon eher, dass Gerhard Schröder knapp 7 Jahre dran bleibt, aber wiederum schien nicht daran zu denken sein, dass Angela Merkel !6 Jahre lang amtiert. Und was sagt das über Olaf Scholz aus?

Mit zwei anderen Fraktionen regieren zu müssen, schließt fast systematisch lange Verweildauern im Kanzleramt aus. Die Fliehkräfte sind enorm, vor allem dann, wenn die FDP Dreh- und Kreisbewegungen ausführt, die von der Rotationsachse nach außen gerichtet sind. Die Zentripetalkraft müsste der Kanzler sein, dem aber die Haltung der leicht amüsierten Entrücktheit besser entspricht. Das Problem ist nur: So wird das ganz bestimmt nix mit längerer Verweildauer.

Die Grünen sind im schmerzhaften Prozess der Gewöhnung an Realpolitik begriffen. Realpolitik schließt moralische Ignoranz ein. Deshalb fällt es der Basis so schwer, die härtere Gangart im europäischen Asylrecht hinzunehmen. Diese neue Kälte trifft tiefenscharf ins Herz der Grünen. Die Entfremdung der Minister von ihrer Partei hat die SPD unter Helmut Schmidt und Gerhard Schröder vorgemacht. Damals profitierten die Grünen vom kalten Pragmatismus der etablierten Parteien. Heute sehen sie sich selber dazu gezwungen und haben den Schaden davon.

Als eigenständige Größe fällt die SPD in der Regierung aus. Einerseits liegt der Grund in der Rücksichtnahme auf den Kanzler, andererseits in der Ratlosigkeit über die eigene Rolle. Und ein Kanzler, der nur ab und zu bei peripheren Veranstaltungen aus der Haut fährt, ansonsten aber die Pferde laufen lässt, gewinnt bestimmt nicht an Autorität.

Das Gebäudeenergiegesetz hat im Vergleich zum ersten Entwurf an moralischem Impetus verloren und an rationaler Anpassung an die herrschenden Verhältnisse gewonnen. Mit dem Ergebnis kann Deutschland leben. Fraglich bleibt, ob das Ziel so erreicht wird, die Erderwärmung auf anderthalb Grad zu begrenzen.

Eigentlich ein passables Gesetz. Eigentlich eine passable Bilanz. Aber niemand glaubt so recht daran, dass Ruhe und Besonnenheit einkehren, weder in der Regierung mit ihren Fliehkräften noch unter den Wählern mit ihrer nagenden Unzufriedenheit über den Lauf der Dinge. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.