Schlafwandeln oder aufwachen

Auf die Bundesregierung prasseln allerlei gute Ratschläge ein. Das Hickhack müsse nun endlich ein Ende haben, wünscht sich der Verband der chemischen Industrie. Die Koalition sollte ihrem Anspruch gerecht werden und Fortschritt wagen, sagt der Maschinenverband. Die Regierung schlafwandle durch die Krise, sagt der Arbeitgeberpräsident. Die Ampel brauche mehr inneren Zusammenhalt, um das Land zusammen zu halten, sagt der Chef der IG-Metall.

Deutschland ist unter anderen das Land der Industrieverbände, Gewerkschaften und anderer Lobby-Organisationen. Sie verfolgen ihre eigenen Interessen und stellen Forderungen an den Kanzler, den Finanzminister oder den Wirtschaftsminister; das ist in Ordnung so. Aber es fällt auf, dass ihr Einlassungen derzeit mit der Besorgnis gespickt sind, dass die Regierung mit sich selber beschäftigt bleibt und damit die Demokratie, wie wir sie kennen, ins Wackeln kommen könnte.

Die Ratschläge zielen auf die Klausur der Bundesregierung morgen und übermorgen in Meseberg. Es sagt uns ja auch schon der gesunde Menschenverstand, dass die selbstvergessene Selbstbeschäftigung der drei Teile, aus denen die Regierung besteht, ins Nirwana führt. An empirischen Belegen dafür, dass auch die FDP von der Opposition in der Regierung keinen Vorteil zieht, fehlt es nicht. Ebensowenig mangelt es an Erfahrung, dass Olaf Scholz durch Schweigen, Zurückhaltung und Runterspielen der Probleme nicht an Popularität gewinnt. Und die Grünen merken jetzt, dass der Boykott der Familienministerin sie noch mehr herunterzieht, was denn sonst.

Was Verbände und Gewerkschaften in diesen Tagen hören lassen, ist der Appell, bloß nicht weiter zu machen wie bisher. Recht haben sie und vermutlich denkt eine größere Mehrheit in Deutschland genau so: Hört auf mit  Zeder und Mordio, regiert ernsthaft und kümmert euch um die Probleme dieses Landes, um die Inflation, um die Digitalisierung, um Strom und Energie, um die Bundeswehr, um den Mittelstand, ums Klima etc. Ist genug zu tun, also packt es an.

Im Grunde bietet sich der Koalition die vorerst letzte Chance, für geordnete Verhältnisse in der Regierung und geschmeidige Abläufe zwischen den Ministerien zu sorgen. Am 8. Oktober wählen Hessen und Bayern. Im bayerischen Landtag sind SPD und Grüne marginale Fraktionen. Dort ist die Frage, ob der Irrläufer Hubert Aiwanger für seine Ausfälle auch noch belohnt wird und wo die AfD landet. Freie Wähler und AfD stellten bei der letzten Wahl insgesamt 49 Abgeordnete. Sollten beide Parteien zunehmen, wonach es momentan aussieht, hätte es die CSU schwer, 40 Prozent zu erreichen.

In Hessen regieren CDU und Grüne gemeinsam. Fallen die Grünen, was zu erwarten ist, wegen der Großwetterlage zurück, gibt es mit ihnen keine Mehrheit mehr und das schwarz-grüne Experiment scheitert – mit Auswirkungen auf die Bundesregierung, sofern sie sich in Meseberg nicht dauerhaft zusammenreißt.

In Wahrheit baut sich ein Drama auf. Gelingt es der Regierung nicht, Frieden zu stiften, und gelingt es dem Bundeskanzler nicht, von leise auf laut umzuschalten – kurzum: Gelingt es Olaf Scholz nicht, den Schalter umzulegen, fliegt ihm der Laden bald um die Ohren. Denn der IG-Metall-Chef hat ja recht. Der Mangel an innerem Zusammenhalt verhindert es, dass die Regierung das Land stabilisiert.

Die Selbstblockade zeigt Wirkung, das sollten Christian Lindner und Olaf Scholz wissen und auf Abhilfe in Meseberg sinnen. Eigentlich ist die Urlaubszeit fürs Nachdenken gut, zumal dann, wenn das chronische Schlafdefizit ausgeglichen wird. Darauf haben manche, auch ich, ihre Hoffnungen gesetzt, aber nicht mit Lisa Paus gerechnet. Konnte sie sich nicht still mit dem Finanzminister einigen? Und ist es nicht absurd, dass sie für ihr Verhalten auch noch intern Beifall bekommt?

Auf das Echo kommt es an, auf die Außenwirkung, auf den Vertrauensverlust in die Regierung im Besonderen und die Demokratie im Allgemeinen. Und die Problemzone liegt nicht nur in Ostdeutschland. Man muss nicht jede windige Umfrage todernst nehmen, aber die Trends zeigen bestimmt nicht nach oben, sondern nach unten.

Schlechtes Regieren schwächt alle drei Parteien. Schlechtes Regieren stärkt die AfD. Schlechtes Regieren nagt an der Demokratie. Besseres Regieren führt zur Stärkung von Parteien und Demokratie, so einfach ist das. Ausreden sind nicht mehr zulässig und Weiter-so ist wie schlafwandeln in noch größere Krisen.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.