Das Erstaunliche ist weniger der parasitäre Erfolg der AfD, sondern die Schnelligkeit, mit der die Konkurrenzpartei CDU darüber hinweg geht. Das mit Tamtam vorgestellte Zehn-Punkte-Programm, sogar einträchtig mit der CSU verfasst, kommt ganz ohne Hinweis auf die halb neokonservative, halb faschistische AfD aus. Erstaunlich.
Als den Hauptgegner machen Friedrich Merz und Markus Söder die Grünen aus. Der CSU mag man die Eindimensionalität sogar nachsehen, sie muss ja im Herbst eine Landtagswahl bestehen und bis dahin kennt sie nur dreierlei: Bayern, Bayern, Bayern. Ja, so ist sie, die CSU, so kennen wir sie, ruchlos und einseitig. Alles andere ist Markus Söder bis dahin zweitrangig, um es milde zu sagen.
Der Vorsitzende der CDU, der mal für sich damit warb, dass einzig er den Aufstieg der AfD stoppen könne, dürfte sich allerdings nicht so viel Vergesslichkeit leisten. Oder ist ihm tatsächlich entgangen, dass seine CDU in Düsseldorf (seinem Bundesland), in Schleswig-Holstein, in Hessen, in Baden-Württemberg, in Brandenburg und in Sachsen mit den Grünen in der Regierung sitzen? Kein Wunder, dass zu den schärfsten Kritikern des Merzschen Sonderweges die Herren Wüst und Günther gehören, zwei Ministerpräsidenten, denen Merz mit seiner engstirnigen Opposition in Berlin Probleme bereitet.
Diese zehn Punkte, die sich Programm nennen, kommen tief aus der Mottenkiste der CDU: den Mittelstand steuerlich zu entlasten, Eigentum zu fördern und Anreize anstatt Verbote und Gebote – Helmut Kohl und Norbert Blum amüsieren sich vermutlich im Grab über den Pathos des Jahres 2023. Mehr hat die CDU nicht anzubieten?
Es geht nicht nur um Sonneberg und jetzt auch noch um Raguhn-Jessnitz, um den neuen AfD-Landrat und den neuen AfD-Bürgermeister.. Es geht einerseits um die lose bis rohe Sprache, mit der zum Beispiel die FDP über Robert Habeck und sein Heizungsgesetz herzog und andererseits um mehr Ernsthaftigkeit bei eigentlich allen Parteien, die sich demokratisch nennen und von der AfD abgrenzen.
Die Grünen wissen, wer sie sind und wofür sie einstehen. Die FDP beschränkt sich mit kühler Professionalität auf ihre Klientel. Die SPD weiß in Person von Hubertus Heil, was ihre Sache ist, ansonsten ist sie ratlos. Die CDU aber ist ein Scheinriese, der den Vorteil nicht zu nutzen versteht, dass die Regierung mit sich selber im Unreinen ist. In der Opposition könnte sie eine breit gefächerte Diskussion darüber führen, was den Konservatismus heute ausmacht. Für das Gebäude-Energiegesetz zu sein, aber wegen der Eile das Bundesverfassungsgericht anzurufen – erhofft sich die CDU davon Auftrieb? Für Klimaschutz zu sein, aber bitte nicht so eilig – liegt darin die Garantie für 30 Prozent? Wenn Merz mit solchen Finten den Hauptgegner erledigen will, erledigt er sich gleich selber mit.
Machtversessenheit geht immer einher mit Machtvergessenheit. Die AfD ist ein Kollateralprodukt der CDU, was denn sonst. Friedrich Merz kannte diese Genealogie früher, als er noch frank und frei Angela Merkel auf der Nase herumtanzen durfte. Das Konservative, das mit ihm einhergehen sollte, war politisch gedacht als Angebot der CDU an ehemalige CDU-Wähler bei der AfD und nicht als ökonomischer Evergreen, den alteingesessene CDU-Mitglieder im Schlaf singen können.
Es würde sich zum Beispiel für den CDU-Vorsitzenden lohnen, mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer über dessen Thesen zu diskutieren, anstatt sie tot zu schweigen. Kretschmer meint, dass „die Ostdeutschen ein besonderes Verhältnis zu Russland“ hätten. Welches denn? Polen und Balten haben auch ein besonderes Verhältnis zu Russland, historisch bestimmt. Offensichtlich aber meint Kretschmer, den Aufstand in der DDR am 17. Juni1953 ignorierend, Ostdeutsche hätten ein sentimentales Verhältnis zu Russland, wobei man gerne wüsste, woher diese Sentimentalität wohl rührt. Geneigt zu Moskau sind derzeit auch Ungarn, Kroatien, Bulgarien oder die Slowakei, die als Hitler-getreue Staaten von der Sowjetunion zuerst besiegt und dann deren Imperium einverleibt wurden. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen Identifikation mit dem Aggressor.
Kretschmer ist auch ein Gegner der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und verlangt nach einer diplomatischen Lösung. Warum eigentlich setzt sich niemand in der CDU ernsthaft mit diesen Thesen auseinander? Kann es sein, weil sie mindestens im Grenzbereich zur AfD liegen? Alexander Gauland wünscht sich auch mehr Bismarck in der deutschen Außenpolitik, mehr Nähe zu Russland und weniger Amerika-Abhängigkeit, politisch wie kulturell, eine Verkehrung der Verhältnisse, die zum Wesenskern der AfD gehört.
Im Sommer 2024 wählt Sachsen und in den Umfragen von heute liegen CDU und AfD gleichauf. Zu beobachten wird also das Experiment sein, ob Kretschmers unerschrockene Suche nach Nähe zur AfD der CDU am Ende hilft oder eben doch der AfD. Und natürlich wird das Ergebnis Auswirkungen auf die ganze CDU haben, deren (westdeutscher) Vorsitzender eine stumme Begleitperson bei allen ostdeutschen Dingen bleibt.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern