Bloss nicht weiter so

Derzeit ist es unerheblich, ob Friedrich Merz der richtige Kanzlerkandidat wäre oder nicht. Die bloße Tatsache, dass sich die CDU heute schon darüber Gedanken macht, was in zwei Jahren sein wird, ist ein Beleg für mangelndes Problembewusstsein. Der Zeithorizont, auf den es ankommt, umfasst ein Jahr. Dann wählen drei ostdeutsche Bundesländer und wie die CDU in sie hineingeht, entscheidet darüber, wie sie herauskommt. Davon hängen ihre weiteren Möglichkeiten ab.

Von Friedrich Merz kann die CDU schon länger wissen, dass er zum Dampfplaudern neigt. Er ist eben ein von sich selbst ungemein eingenommener Einzelgänger, der meint, die Worte, die aus ihm heraus purzeln, seien allesamt Goldstücke. Zu undiszipliniert ist er, um die richtigen Botschaften dauerhaft zu senden und innerparteilich abzustimmen. Und, was noch stärker ins Gewicht fällt, er setzt die falschen Akzente. Die Grünen als Hauptgegner: so ein Quatsch. Diese Fehleinschätzung kommt zustande, weil Merz Berlin für den Nabel der Welt hält und Ostdeutschland vergisst.

Es ist schon wahr, dass der Unfrieden in der Bundesregierung wie ein Mühlstein ist, der FDP, SPD und Grünen am Halse hängt. Aber auch dem letzten Christdemokraten muss jetzt dämmern, dass seine Partei zwar von der Krise profitiert, aber die AfD eben noch mehr. Sie ist der Hauptgegner, wer denn sonst.

Die westliche CDU neigt noch immer dazu, den Osten für ein Phänomen zu halten, für ein Unikum, das pädagogisch im Frontalunterricht zur Besinnung gebracht werden muss. Die Merz-CDU denkt heute noch so, wie die Kohl-CDU damals über „die neuen Bundesländer“: Wie kriegen wir sie eingefangen?

Dass aber Wähler ihre Interessen im Blick haben, gilt hier wie dort. Auch, dass sie ihre eigene Mentalität haben, ist unschwer zu verstehen. Das Saarland hat eine andere Geschichte als Bayern und damit ein anderes kollektives Gemüt. In Ostdeutschland tanzten die heute 50- bis 60-jährigen vor mehr als 30 Jahren als junge Menschen auf der Mauer und waren völlig aus dem Häuschen, als sie die Grenze im Trabbi passieren durften. Die Zukunft schien golden zu sein. Sie konnten ja nicht ahnen, dass sie wenige Monate später zu den Arbeitslosen der neuen Zeit gehören würden. Dass ihre Betriebe saniert, privatisiert oder geschlossen würden. Dass sie im vereinten Deutschland weniger verdienen und ihre Eltern über viele Jahre geringere Rente beziehen würden.

Der zu Unrecht vergessene Gelehrte Karl Polanyi hat vor vielen Jahren das klügste Buch über die Transformation von Gesellschaften und das Aufkommen extremistischer Parteien geschrieben. Zweierlei ist daran interessant: Erstens ist die soziale Entwurzelung durch Arbeitslosigkeit ein Drama für jeden Arbeitslosen. Zu den Betrieben in der DDR gehörten oft Ferienheime, kulturelle Einrichtungen, Kitas etc. und vor allem das Recht auf Arbeit. Die wärmelose Reduktion auf das rein Ökonomische war für DDR-Bürger ein Schock. Es ist eben kein Wunder, wenn heute Demoskopen feststellen, dass etliche Menschen dieser versunkenen Zeit mit Wehmut gedenken.

Zweitens fand Polanyi heraus, dass diese Wunde weiterhin schwärt, auch wenn die Menschen nach gewisser Zeit wieder Arbeit finden. Das traumatische Erlebnis wirkt nach und beeinflusst das Denken, eben auch das Wählen der AfD. Wie viele Prozent dieser Wähler aus Überzeugung, wie viele aus Protest die Höckes etc. wählen, weiß wahrscheinlich niemand genau. Es ist auch müßig darüber zu spekulieren. Auf jeden Fall müsste es der Ehrgeiz der CDU, aber genauso der SPD und sogar der Grünen sein, den Block aufzubrechen, Wähler zurück zu gewinnen und die AfD zu schwächen. Nicht durch das große Palavern, sondern das emsige Tun. Mit dem Verständnis für die Biographie fängt es an, das stimmt. Nicht die DDR ist der Bezugsrahmen, sondern die 34 Jahre seit der Wiedervereinigung.  

Ginge es mit rechten Dingen zu, müssten sich die Planer der Landtagswahlen im nächsten Jahr schon heute zusammensetzen, anstatt jeweils alleine vor sich hinzu werkeln. Denn es hilft ja nichts, die Landesparteien in Sachsen, Thüringen und Brandenburg brauchen kraftvolle Unterstützung. Es genügt nicht, dass dann die üblichen Verdächtigen aus den Berliner Ministerien kurzfristig hereinschneien und im dunkelblauen Mercedes wieder davon rauschen. Wer Wähler zurückgewinnen will, muss mit vielen Abgesandten, die sich mit den Besonderheiten vertraut machen, das Feld beackern. Ausdauer und Geduld sind nötig. Und die Botschaft muss stimmen, was denn sonst: Wählt uns, wir haben verstanden, wir kümmern uns.

Einer, der unablässig versucht, der West-CDU den Osten zu erklären, ist der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Sie sollte ihm zuhören, er hat etwas zu sagen, auch wenn nicht alles Gold ist. Im Interview mit der FAZ rät er zum Beispiel zu einem pragmatischen Umgang mit der AfD. Gemeint ist die kommunale Ebene, in der es um Sachliches geht, zum Beispiel um die Teilsanierung einer Straße oder den Bau einer Schule. Recht hat Kretschmer, wie ihm ein Praktiker bestätigt: „Wichtige Sachen werden im Präsidium des Kreistages besprochen oder im Büro des Landrats. Dort sind alle Fraktionen beteiligt, auch die AfD,“ sagte Gernot Schmidt, der SPD-Landrat in Märkisch-Oderland. 

Wahrscheinlich wird es demnächst nicht weniger pragmatisch im Landkreis Sonneberg mit dem AfD-Landrat Robert Sesselmann zugehen. Ganz unten, wo die Demokratie konkret ist, gelten eigene Gesetze, und das muss nicht schlecht sein. Deshalb hat Friedrich Merz mit seinem Plädoyer für Pragmatismus in den Kommunen ironischerweise recht. Er sagte das Richtige, aber er ist der Falsche, das Richtige zu sagen, weil er ja als Drachentöter gestartet war; daran erinnern ihn nun Parteifreunde, die es nicht unbedingt gut mit ihm meinen. Die rasante Kritik an Merz ist eben auch selbstgerecht, weil sie vom eigentlichen Problem ablenkt.

Es wäre wirklich vorteilhaft, wenn die Bundesregierung den Sommer dazu nutzt, ihren Hang zur Selbstzerstörung einzustellen, und die CDU sich darauf besinnt, den Hauptgegner neu zu bestimmen. Was passiert, wenn sie weiter machen wie bisher, ist ja bekannt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

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