Meine Stadt, meine Alster

Hamburg. Schöne Stadt. Sauber, reich, traditionsbewusst, bürgerlich, arrogant. Mag ich alles. Hier kam ich im August 1980 an, ein Kind aus kleineren Verhältnissen, wusste nicht, was ich konnte, ob ich in dieser wunderbaren, arroganten, bürgerlichen „Zeit“ bestehen konnte. Gestern habe ich mit meinem Chef von damals telefoniert, Theo Sommer, genannt Ted, der beste Chef, den ich je hatte. Er verbreitete gute Laune, vor allem dann, wenn an einem Dienstag das Blatt auf den Kopf gestellt werden musste, weil Sadat ermordet worden war oder Maggie Thatcher die Falklands zurückerobern wollte. Als ich meine ersten Leitartikel schrieb, gab er mir immer das Gefühl: Ich weiß, Sie sind nervös, aber ich weiß, dass Sie das können, nur munter darauf zu. In seinem Kopf dachte er sich ganz bestimmt: Was er nicht hin kriegt, biege ich gerade. Aber nicht Zweifel säte er, sondern Vertrauen.

Gestern habe ich mit Ted telefoniert. Seine Stimme: die alte. Er sagte, er hätte sich im Alter weniger aufregende Zeiten gewünscht. Im Juni wird er 92. Er schreibt an seinen Memoiren. Ich freue mich darauf, ihn zu sehen und sie zu lesen.

Früher fuhr ich gerne nach Berlin und kam gerne nach Hamburg zurück. Heute lebe ich ich gerne in Berlin und komme gerne zwischendurch mal nach Hamburg. Aus dem Hotelzimmer schaue ich auf die Außenalster, auf der ich segeln lernte. Gegenüber in der Fontenay 13 c hatten wir in den ersten Jahren gewohnt. Wenn ich aus dem Büro nach Hause kam, fuhr ich meinen Sohn Vincent im Buggy die Alster entlang. Für mich war es ein seelenerhebendes Erlebnis, um die Ecke zu biegen und Segelboote mitten in der Stadt zu sehen. Als ich selber segeln konnte, war ich fasziniert davon, dass die Geräusche der Stadt auf dem Wasser verschluckt wurden.

Zuletzt haben wir an der Elbe gewohnt, Höhe Strandperle. Über die Straße, den Weg hinunter, ein Glas Wein in der Hand, dann kam, hatten wir Glück, ein riesiges Containerschiff, voll beladen, und zwei Lotsenboote vorne und hinten bugsierten den Koloß elegant rückwärts zum Entladen.

Jetzt wohnen wir auch am Wasser. Aus der Haustür, um die Straßenecke, ein paar Stufen hinunter und schon bin ich am See. Bis Ende November bin ich reingegangen, morgens um 7, der Graureiher wartete mich ab und flog dann elegant über das Wasser, über dem Frühnebel lag. Einmal, ich trocknete mich gerade im Dämmerlicht ab, jagte ein Horde Wildschweine an mir vorbei. Sehr froh war ich, dass sie mich noch nicht einmal ignorierten.

Nun noch heute und morgen die alte Stadt, in der ich 37 Jahre mit Unterbrechungen in Bonn und Washington gewohnt habe. Nach Ostern komme ich wieder hierher und besuche Ted, den besten Chef ever.

Wahrheit und ihre Beugung

Gestern Abend habe ich mir „Maischberger“ angeschaut. Sie unterhielt sich mit dem ukrainischen Botschafter Andrej Melnyk, der seit dem 24. Februar einen Sonderstatus erreicht hat und wahlweise den Bundespräsidenten beschimpft oder die Bundesregierung aufs Schärfste kritisiert. Dieses Monopol hatte bislang Richard Grennel inne, der in Trumpscher Manier mit Unflat um sich warf.

Ein Land wird von einem größeren überfallen, begeht Kriegsverbrechen, legt Städte in Schutt und Asche. Da muss es auch einem Botschafter erlaubt sein, Forderungen zu erheben und Wünsche auszusprechen und Kritik zu üben. Wenn er dazu in diese und jene Talkshow eingeladen wird, nutzt er den Ausnahmezustand, wer könnte es ihm verübeln. Auffällig ist nur, dass er einerseits instrumentalisiert wird und andererseits auf ein derart schlechtes Gewissen stößt, so dass ihm angemessene Fragen erspart bleiben, weil sie niemand traut. Instrumentalisiert, weil er eingeladen wird, um seine Gravamina vorzutragen. Das schlechte Gewissen führt dazu, dass die Herren Klingbeil/Söder etc. leise werden oder verdruckst vortragen, warum Deutschland kein Embargo einführt.

Diese Verlegenheit führt zu argen Verkürzungen der Wahrheit, die der Botschafter gepachtet hat. Es ist ja nicht nur so, dass wir mit Nord Stream 1 Putins Krieg finanzieren. Diese Pipeline führt bekanntlich durch die Ukraine und dafür bekommt sie auch jede Menge Gebühren bezahlt und zwar nicht zu knapp. Hat schon mal irgendjemand diese schlichte Gegenfrage gestellt? Nicht dass ich wüßte. Oder die Richtigstellung unseres Kanzlers, dass Putin an das Geld, das wir für bezahlen, momentan nicht herankommt. Sie ist einfach verebbt und wird als Argument nicht benutzt. Oder die Waffenlieferungen: Gabor Steingart, der seine Machete neuerdings stecken lässt, wies gestern darauf hin, dass die Ukraine mit Waffen aus Amerika geflutet wird, so dass dafür Deutschland keineswegs gebraucht wird. Stimmt. Also, aus welchem Grund dann lassen sich die Deutschen unverdrossen an den Pranger stellen? Amerika ist wichtig. Zumal das ukrainische Militär auch deshalb aufopferungsvoll kämpfen kann, weil es per Satellit über russische Stellungen und Truppenbewegungen informiert ist, vom CIA und möglicherweise von Militärberatern. Auch so ein Faktum, das beschwiegen wird.

Im Krieg stirbt als erstes die Wahrheit, heißt es. Nirgendwo stirbt sie derart umfassend wie in Russland, wo Lawrow und Putin abwegige Geschichten aus dem Wienerwald erzählen. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskji, den ich persönlich bewundere, tritt man gewiss nicht zu nahe, wenn man liebend gerne wüßte, wo seine Wahrheit endet und wo seine Beugung beginnt, denn er richtet sich ja immer wieder an das westliche Publikum, damit dessen Herz unverdrossen für sein Land pochen möge und so viele Staaten wie möglich die Sanktionen verschärfen und Schützenpanzer etc. liefern.

Wenn David gegen Goliath kämpft, muss man ganz einfach für David sein. Aber David muss schlau und listig sein und auch tückisch, denn wie sollte er sonst gewinnen. In seinen Mitteln kann er gar nicht wählerisch sein, er muss ja seinen Nachteil ausgleichen. Zumal Goliath Brutalität vorzieht und die Erde verbrennt, wo er kann. Aber was heißt das: Goliath darf den Krieg nicht gewinnen? Und wer sorgt dafür, dass er den Krieg nicht gewinnt? Oder anders gefragt: Welcher Sieg kommt einer Niederlage gleich?

Der Bundeskanzler hat diesen kryptischen Satz gesagt, um dem herrschenden Moralismus der Stunde zu relativieren. Auch das verstehe ich, aber wenn es sich nicht um eine Leerformel handeln sollte, muss Olaf Scholz rasch präzisieren, was er meint.

Finstere Zeiten ziehen herauf

Wer Olaf Scholz gestern Abend im ARD-Interview zuhörte, erlebte einen Kanzler, der bestens informiert und hoch besorgt ist. Er sprach von der Wiederkehr des Imperialismus, der mit Gewalt Grenzen verändern will. Also ist die Ukraine kein Einzelfall und wir müssen mit mehr rechnen – mit einer Ausweitung des Krieges, solange Wladimir Putin über Russland herrscht.

Deshalb schließt die Wiederaufrüstung der Bundeswehr zu Streitkräften, die den Namen verdienen, den Kauf eines mobilen bodengestütztes Systems zur Abwehr von Raketen, Artillerie und Mörsern ein – den berühmten „Iron Dome“, den Israel entwickelt hat und anwendet. Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass der Kanzler und seine Regierung mit dem Schlimmsten rechnen und sich darauf einstellen.

Olaf Scholz betonte im Interview Mal um Mal, dass der Westen die Ukraine mit Waffen aller Art beliefert hat und weiterhin beliefern wird, auch Deutschland. Dazu versorgt der amerikanische Geheimdienst CIA die ukrainische Armee mit Satellitendaten in Echtzeit, wo russische Panzer sich bewegen, wo russische Raketenstellungen stehen und auf welchen Straßen die Armada der Versorgungsfahrzeuge unterwegs ist.

Alles richtig und wichtig. Damit ist aber auch gar nicht zu übersehen, dass der Westen mit seiner Vormacht USA in den Krieg verwickelt ist.

Dass die Nato weder eine Flugverbotszone einrichtet noch direkt  in diesen Krieg eingreift, weil die Ukraine nicht dem Bündnis angehört, ist eine feine, wichtige Unterscheidung. Dazu kommt die Vielzahl der Sanktionen, die Wirkungen entfalten, auch wenn das Embargo auf Öl, Gas und Kohle aus Rücksicht auf unsere von diesen Rohstoffen abhängige Industrie ausbleibt. Damit unterstützen wir die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen einen Überfall, ohne in den Krieg einzugreifen.

Und was passiert aus Putins Sicht?

Aus Putins Sicht befindet sich Russland im Krieg mit Amerika. Amerika ist daran schuld, dass die Ukraine sich wehrt, dass womöglich 10 000 russische Soldaten gestorben sind, dass Verbände mit ihren Vorstößen in den letzten Tagen die Invasoren da und dort zurückschlagen können. Ohne US-Satelliten, ohne Panzer und Panzerabwehrwaffen aus dem Westen, hätte die Ukraine nicht schon fast fünf Wochen lang Widerstand leisten können. Und dazu hofiert der gesamte Westen den Präsidenten Wolodimir Selenskji, der per Video Reden an den Kongress in Washington oder an den Bundestag nach Berlin halten darf und dafür stehende Ovationen bekommt.

Diktatoren suchen immer die Schuld bei anderen. Bei finsteren Mächten im Ausland. Bei Versagern in der Armee und im Geheimdienst. Oder glaubt irgendjemand, dass Putin in sich geht und feststellt: Ich habe mich geirrt, ich habe Fehler gemacht, ich bin Irrtümern aufgesessen?

Ein Diktator, der nicht bekommt, was er haben will, ist doppelt gefährlich. Davon zeugen zerstörte Städte wie Mariupol. Die militärische Logik der stagnierenden Invasion ist Terror gegen Zivilisten, weshalb systematisch Raketen auf Krankenhäuser und Kindergärten, auf Hochhäuser und Wohnsiedlungen fallen. In Odessa richten sie sich auf Angriffe ein, Kiew ist schon seit Tagen im Ausnahmezustand. Lviv ist auch schon angegriffen worden. Das Prinzip Grosny heißt: Macht platt, was steht; vertreibt, wen ihr vertreiben könnt; tötet, wer sich nicht ergibt.

Wohin führt das? Vier Optionen bieten sich an.

1.) Der Krieg zieht sich hin. Stadt auf Stadt zerfällt. Zehntausende sterben. Dann könnte Präsident Selenskji, um das Töten zu beenden, das Angebot machen: Ich gehe ins Exil, wenn die Russen den Krieg beenden. Dann bekommt Putin doch noch, was er will: Er annektiert die ganze Ukraine und setzt in Kiew einen Quisling ein.

2.) Da Putin alte imperiale Größe anstrebt, bleibt er nicht in der Ukraine stehen. Da seine Armee erschöpft ist, kann die nächste Phase jedoch nicht konventionell ausfallen. Statt dessen zündet er wirklich eine Atombombe in der Atmosphäre als Zeichen seiner Entschlossenheit und richtet seine Erpressung zum Beispiel an Polen: Besser für euch, wenn ihr Nato und EU verlasst und euch uns unterwerft.

3.) Präsident Selenskji liegt womöglich mit seiner Behauptung nicht falsch, dass Berlin das Endziel ist. Dann wäre die Ukraine heute, was damals Spanien war: ein Exerzierplatz für größere Vorhaben, den Weltkrieg.

4.) Im inneren Machtzirkel des Kreml finden sich Verschwörer zusammen, denen Putin zu weit geht und ziehen ihn aus dem Verkehr. Da er mit Zusammenrottung rechnet, wie alle Alleinherrscher, und dagegen Vorkehrungen trifft, steckt in dieser Option wohl vor allem Wunschdenken.

Putin hat sich zu einem klassischen Diktator aufgeschwungen, der sein Land als Opfer einer Serie von Demütigungen versteht. Immer steckt Amerika dahinter, in der Ukraine wie in Georgien. Die Ausdehnung der Nato nach Osten ist aus dieser Sicht eine großangelegte Intrige und ein Verrat dazu. Jetzt aber ist Amerika schwach und machtlos: in Syrien, in Libyen, in Afghanistan. Und Europa ist nichts ohne atomaren Schutz der USA. Die Vertreibung Amerikas aus Europa wäre der ultimative Triumph, das umgekehrte 1989, die Revision der geostrategischen Katastrophe, wie Putin das Ende der Sowjetunion nannte.

Niemals hätte ich gedacht, dass ich solche Überlegungen je anstellen müsste. Aber es gibt Grund zu weitreichenden Befürchtungen. Davon zeugte auch der eindrucksvolle Auftritt des Bundeskanzlers in der ARD. Finstere Zeiten sind heraufgezogen. Bleibt nur die Hoffnung, dass sich bald Unverhofftes zu unserer Erleichterung ereignet.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Klug, urteilssicher und amüsant

Natürlich hätte man von ihr gerne noch gewusst, was sie von Putin hält und ob sie glaubt, dass er es bei der Ukraine beläßt. Madeleine Albright gehörte zu den Menschen, die klare Meinungen ihr eigen nennen und damit nicht hinter dem Berg halten. Ihre Stimme war kraftvoll und vibrierte in den höheren Tönen. Damit erreichte sie Kultstatus, der ihr Gastauftritte bei den „Gilmore Girls“ und in „Madame Secretary“ bescherte. Natürlich war sie ein ernsthafter Mensch, gebildet, lehrte in Georgetown, war die erste Außenministerin der USA, aber sie war auch amüsant und nahm sich selber nicht blutig ernst. Schöne Charakterzüge. 

Mit Joschka Fischer verstand sie sich richtig gut. Sie mochte ihn, den Autodiktaten, der oft so angestrengt wirkte, weil er sich und der Welt unbedingt beweisen wollte, dass er so gut wie ein geborener Außenminister war. Sie wurde in Prag geboren, kam aus einer Diplomatenfamilie, bürgerlicher geht es kaum. Er stammte aus einer ungarischen Familie, weitaus kleinere Verhältnisse.

Vielleicht wirkte das Gegensätzliche weniger als das Gemeinsame: die Wurzeln in einem anderen Boden, die Flucht, und die nicht einfache Ankunft in einem anderen Land. Das Mütterliche in ihr richtete sich freundlich auf ihn aus und so wurde aus Madeleine und Joschka ein vorzügliches Tandem auf der Weltbühne. Sie sagte über ihn: „Er ist eine der klügsten und moralischsten Persönlichkeiten, die ich kenne.“ Dieses Urteil bildete sie im Kosovo-Krieg, den beide hochmodisch begründeten.

Ihre Eltern hatten 1938 gerade noch im letzten Augenblick die Tschechoslowakei verlassen und die kleine Madeleine wuchs in Amerika auf. Sie beriet etliche demokratische Präsidentschaftskandidaten, eher Verlierer, die heute vergessen sind, mit der Ausnahme Jimmy Carter. Sie pendelte zwischen Universität und Politik, die sie faszinierte und anzog. Sie war 58 Jahre alt und Bill Clintons Kandidatin für das Außenministerium, als sich ihr Leben im Jahr 1996 auf den Kopf stellte.

Ihre Eltern hatten ihr nie erzählt, dass sie jüdischen Glaubens waren und viele Familienmitglieder im Holocaust umgebracht worden waren. Dass erfuhr sie detailliert zum ersten Mal von einem Reporter der „Washington Post“. Er sei plötzlich an sie herangetreten „und zeigte mir eine List von Nazi-Opfern mit den Namen meiner Verwandten. Es war eine Sache, von meinen jüdischen Wurzeln zu erfahren, eine ganz andere, mit dem Horror des Todes in den Lagern konfrontiert zu werden“, sagte sie dem „Spiegel“ vor einem Jahr.

Vor knapp 30 Jahren waren Frauen in herausragenden Ämtern noch eine Seltenheit. Es war ziemlich schlau, dass sie daraus Symbolik schlugen. Margaret Thatcher setzte ihre Handtasche wirkungsvoll ein, zückte sie we ein Schwert und platzierte sie lautmalerisch neben sich. Madeleine Albright fiel durch ihre überdimensionierten Broschen auf, die sie maximal auffälligem Revers  trug. Angeblich verband sie damit politische Botschaften an jeweilige Gesprächspartner, was natürlich  Quatsch war, aber sie hat sich ganz bestimmt über die Beschäftigung der Journalisten mit Nebensächlichkeiten amüsiert.

Nach ihrer Zeit als Außenministerin schrieb sie Buch auf Buch, war gefragt und ließ sich gerne fragen, reiste umher und suchte Freunde wie Joschka Fischer auf. Ihre Bemerkungen über Putin waren stets von tiefem Misstrauen geprägt. Sie warf ihm falsches Spiel vor, traute ihm viel zu und ermahnte westliche Politiker zur Vorsicht im Umgang mit ihm und zu Klartext im Gespräch, das auch. Tja, sie war eben klug aus historischer Erfahrung. Die jungen Frauen an den heutigen Schalthebeln der Macht können von Madeleine Albright lernen, wenn sie mögen.

Am Mittwoch starb sie nach längerer Krankheit an Krebs.

Veröffentlich auf t-online.de, gestern.

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Der große Gescheiterte

Oskar Lafontaine ist der große Gescheiterte der deutschen Politik. Er wollte viel, war ungemein begabt, ein guter Redner, ein Menschenfänger in seinen besten Zeiten. Mit einer einzigen Rede fegte er einen Vorsitzenden hinweg, das war Rudolf Scharping, an den sich nur noch die Älteren unter uns erinnern, mühsam. Mit seinem Mangel an Begeisterung für die Wiedervereinigung war Lafontaine ein Solitär unter den führenden Sozialdemokraten und entzweite sich deshalb mit Willy Brandt, seinem Vorbild und Mentor.

Natürlich ist Lafontaine auch eine tragische Figur, weil eine geistig verwirrte Frau ihm ein Messer in den Hals rammte, das war am 25. April 1990. Er gönnte sich keine längere Rekonvaleszenz, sondern stieg bald wieder ins Geschäft ein. Dass er fortan noch misstrauischer gegenüber Menschen war, die es gut mit ihm meinten, dass er sich nicht nur innerlich, sondern äußerlich isolierte, hängt vermutlich mit der geringen Ruhezeit nach dem Attentat zusammen. 

Es ist seltsam, dass zwei herausragende Figuren deutscher Politik kurz hintereinander Opfer von Attentaten in der wilden Zeit rund um die Wiedervereinigung wurden, erst Lafontaine und dann am 12. Oktober 1990 Wolfgang Schäuble. So verschieden diese beiden politisch und kulturell auch waren, so gut verstanden sie sich als Schicksalsgenossen. Miteinander konnten sie offen reden, vielleicht haben sie sich sogar wechselseitig ein bisschen therapiert. Beide machten so schnell wie möglich wieder weiter mit der Politik, eigentlich vom Krankenbett aus. Beide kamen trotz der schrecklichen Zäsur in die Nähe des Kanzleramtes, das sie sich trotz alledem zutrauten, und scheiterten dann an einem Größeren.

Lafontaine scheiterte an Gerhard Schröder, den er nicht ganz ernst nahm, dem er sich überlegen fühlte. Lafontaine, nicht Schröder, war der Liebling der deutschen Linken in den Anfängen der Ökologiebewegung und auch der Medien, dem „Spiegel“ vornweg. Auch deshalb bewunderte der Gerd den Oskar, von dem er sich einiges abschaute. Und dann schaltete der Gerd den Oskar aus. Der Gerd wurde Kanzler und der Oskar sein Finanzminister. Das hielt der Oskar nicht aus und schon gar nicht durch. Am 11. März 1999 schmiss er hin, zog sich ins Saarland zurück. Ein Schock, nicht nur für die Regierung, sondern für das ganze Land. Und das passierte der Sozialdemokratie, in der sich Größere wie Brandt/Schmidt/Wehner miteinander arrangiert hatten und Solidarität ein Leitbegriff war, eher zu viel gebraucht als zu wenig.

Für Lafontaine gilt der Satz: Die wenigsten Menschen scheitern an ihrer Intelligenz, sie scheitern an ihrem Charakter. Andere traten vor ihm aus politischen Gründen von ihren Ämtern zurück, zum Beispiel Willy Brandt. Lafontaine aber genießt bis heute das Privileg, dass er hinwarf und nicht mehr gesehen ward.

Von da an ging es mit ihm bergab. Ein Rechthaber war er immer gewesen und wurde es jetzt umso mehr. Die Linke war für ihn das Instrument, die SPD klein zu machen, sie aus der Regierung zu hebeln und ihr irgendwann die Bedingungen fürs Regieren zu diktieren. Eine Zeitlang ging es ja auch gut. Die Linke wuchs, im Osten sowieso, aber auch im Westen. Rot-Rot-Grün schien sich zur Regierungsalternative auszuweiten. Was wäre das für ein Triumph gewesen! Was für eine Genugtuung hätte darin gelegen! Doch nichts ist daraus geworden.

Die Geschichte, weiß man seit Marx, wiederholt sich zweimal: zuerst als Tragödie, dann als Farce. Die Tragödie war die Entfremdung von der SPD. Die Entfremdung von der Linken war nur noch eine Farce, erwartbar und nicht einmal für die Linke ein Schock.  Immerhin hielt Lafontaine eine letzte Rede im saarländischen Landtag. Dort hatte er angefangen, dort hört er jetzt auf. 

Der Oskar ist jetzt Privatier, im Alter von 77 Jahren. Seine Memoiren vermisst niemand, aber er wird sie schreiben, was soll er sonst machen. Der Gerd, fünf Monate älter, reist umher und versucht seinen Ruf zu retten, von dem nichts mehr zu retten ist. So gesehen ist der Oskar heute besser dran.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Was zum Hören: Zweimal Bob Dylan

Am 7. Juni 1969 trat ein wohlfrisierter junger Mann in Hemd und Jackett ans Mikrophon und spielte ein Lied, von dem Nick Cave viele Jahre später sagte, er hätte es zu gerne geschrieben. Es ist ein einfaches Lied, nicht sehr lang und der junge Mann singt es in der Johnny Cash Show so wohlartikuliert, dass wir heute noch gut verstehen, worum es geht und was er meint. Er singt von der verlorenen Liebe und bezichtigt sich, dass er sie schändlich behandelt hat und weggeworfen hat, was ihm jetzt, während er singt, leid tut, ohne dass er der Illusion anhängen würde, sie ließe sich wiederbeleben.

Bob Dylan stand da am Mikrophon und natürlich fragten sich die Dylan-Deuter, von denen es vermutlich viele Millionen gibt, wem er nachtrauert. Suze Retolo, die ihn in Literatur und Philosophie einführte? Joan Baez, die schon berühmt war, als er noch nicht berühmt war, und ihn auf die Bühne holte, während er, dann berühmt auch dank ihrer, sie auf der Tour durch England nicht auf die Bühne holte – nicht so großzügig, nicht so selbstlos wie sie, seine Freundin zu dieser Zeit?

Egal, ich glaube, da macht einer Zwischenbilanz und fragt sich, was da schief gelaufen ist. Er hat Sara Lowndes geheiratet, nach seinem Motorradunfall zog er sich ins Privatleben zurück, eben mit ordentlicher Frisur und bürgerlicher Kleidung. Dann tastet er sich in sein anderes Leben zurück, schreibt Lieder und geht ins Studio. „I threw it all away“ spielte er George und Pattie Harrison im November 1968 zum ersten Mal vor. Beim Auftritt in der Johnny Cash Show singt er diesen einfachen, fast unverhüllten Song erstmals öffentlich. Auf YouTube ist er der bemerkenswerte Auftritt des bürgerlichen Bob Dylan festgehalten. Unbedingt anschauen, unbedingt hörenswert, dieses einfache Lied, kurz für den Freund der langen Balladen.

 I once held her in my arms
She said she would always stay
But I was cruel
I treated her like a fool
I threw it all away

Once I had mountains in the palm of my hand
And rivers that ran through every day
I must have been mad
I never knew what I had
Until I threw it all away

Love is all there is, it makes the world go ‚round
Love and only love, it can’t be denied
No matter what you think about it
You just won’t be able to do without it
Take a tip from one who’s tried

So if you find someone that gives you all of her love
Take it to your heart, don’t let it stray
For one thing that’s certain
You will surely be a-hurtin‘
If you throw it all away
If you throw it all away

Ich bin kein Dylan-Experte. Ich bin jemand, der sich seit einiger Zeit mit ihm beschäftigt und immer wieder darüber staunt, was sich entdecken lässt. Zum Beispiel kenne ich seit gestern „It ain’t dark yet“, habe es mehrmals angehört und den Text nachgelesen. Bob Dylan hat es 1997 veröffentlicht, ziemlich genau 30 Jahre nach „I threw it all away“. Das Didaktische fehlt („Take a tip from one who’s tried“), der Pessimismus bordet über, grenzt an Nihilismus – „it ain’t dark yet„. Wer würde nicht als Selbstbeschreibung lesen: „I know it looks like I’m walking but I’m standing stil“. Und für den ganz langen Bogen seit „The times they are a-changing“ diese Zeile: „Well my sense of humanity has gone down the Drain“. Bemerkenswert die Gitarrenmelodie, die zu schweben scheint und diesmal dem Text nicht nur funktional zugeordnet ist, sondern gleichberechtigt ist. Unbedingt anhören, auf YouTube.

Shadows are fallin‘ and I’ve been here all day
It’s too hot to sleep and time is runnin‘ away
Feel like my soul has turned into steel
I’ve still got the scars that the sun didn’t heal
There’s not even room enough to be anywhere
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

Well, my sense of humanity has gone down the drain
Behind every beautiful thing there’s been some kind of pain
She wrote me a letter and she wrote it so kind
She put down in writin‘ what was in her mind
I just don’t see why I should even care
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

Well, I’ve been to London and I been to gay Paris
I’ve followed the river and I got to the sea
I’ve been down on the bottom of the world full of lies
I ain’t lookin‘ for nothin‘ in anyone’s eyes
Sometimes my burden is more than I can bear
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

I was born here and I’ll die here against my will
I know it looks like I’m movin‘ but I’m standin‘ still
Every nerve in my body is so naked and numb
I can’t even remember what it was I came here to get away from
Don’t even hear the murmur of a prayer
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

 I once held her in my arms
She said she would always stay
But I was cruel
I treated her like a fool
I threw it all away

Once I had mountains in the palm of my hand
And rivers that ran through every day
I must have been mad
I never knew what I had
Until I threw it all away

Ich bin kein Bob-Dylan-Experte. Ich bin nur jemand, der sich seit einiger Zeit mit ihm beschäftigt und immer wieder staunt, was sich entdecken lässt. „It ain’t dark yet“ kannte ich bis gestern nicht, seither habe ich es oft gehört, den Text nachgelesen, wieder gehört. Es ist das Gegenteil und zugleich die Ergänzung zu „I threw it all away“. Auswegloser Pessimismus spricht daraus, Nihilismus sogar. „Well, my sense of humanity has gone down the drain“ lässt sich schon als Selbstaussage verstehen. „I know, it looks like I’m moving, but I’m standing still“ könnte eine poetische Selbstbeschreibung sein.

Das Lied singt er 1997 zum ersten Mal. Es ist wunderbar lyrisch durch den ungewöhnlichen Sound der Gitarren, die erstaunlich viel Eigenleben genießen dürfen, wo doch Dylan seinen immer sehr guten Musikern prinzipiell wenig Freiraum zugesteht. Sonst ist die Musik konzentriert auf den Text, diesmal Unterhalt sie ihn nicht nur, sondern bringt ihn zum Schweben. Großartig.

Shadows are fallin‘ and I’ve been here all day
It’s too hot to sleep and time is runnin‘ away
Feel like my soul has turned into steel
I’ve still got the scars that the sun didn’t heal
There’s not even room enough to be anywhere
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

Well, my sense of humanity has gone down the drain
Behind every beautiful thing there’s been some kind of pain
She wrote me a letter and she wrote it so kind
She put down in writin‘ what was in her mind
I just don’t see why I should even care
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

Well, I’ve been to London and I been to gay Paris
I’ve followed the river and I got to the sea
I’ve been down on the bottom of the world full of lies
I ain’t lookin‘ for nothin‘ in anyone’s eyes
Sometimes my burden is more than I can bear
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

I was born here and I’ll die here against my will
I know it looks like I’m movin‘ but I’m standin‘ still
Every nerve in my body is so naked and numb
I can’t even remember what it was I came here to get away from
Don’t even hear the murmur of a prayer
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

Well, my sense of humanity has gone down the drain
Behind every beautiful thing there’s been some kind of pain
She wrote me a letter and she wrote it so kind
She put down in writin‘ what was in her mind
I just don’t see why I should even care
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

Well, I’ve been to London and I been to gay Paris
I’ve followed the river and I got to the sea
I’ve been down on the bottom of the world full of lies
I ain’t lookin‘ for nothin‘ in anyone’s eyes
Sometimes my burden is more than I can bear
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

I was born here and I’ll die here against my will
I know it looks like I’m movin‘ but I’m standin‘ still
Every nerve in my body is so naked and numb
I can’t even remember what it was I came here to get away from
Don’t even hear the murmur of a prayer
It’s not dark yet but it’s gettin‘ there

I

Unberechenbar wie die Hölle

Wladimir Putin lässt Sirenenklänge hören, stellt ein Treffen mit Volodimir Selenskji in Aussicht, das aber gut vorbereitet sein müsste, wie er sagt, damit dabei etwas herauskommt. Glaubt man das? Eigentlich nicht. Zu oft gelogen, zu oft gedroht, zu viel Groll. Aber natürlich wäre es ein Segen, wenn dieser Krieg aufhören würde. Irgendwie, aber nicht irgendwann, sondern bald schon.

Illusionslosigkeit gegenüber diesem seltsamen Mann, der zu allem fähig zu sein scheint, inklusive dem Einsatz taktischer Atombomben, ist ein Gebot des gesunden Menschenverstandes. Der Brand in Tschernobyl, der Angriff auf einen Militärstützpunkt an der Grenze zu Polen, die Erinnerung an die Trümmerlandschaft in Grosny: Vom Schlimmsten auszugehen, empfiehlt sich gegenüber diesem Russland. Zu oft sind Macron und Scholz und andere zu Putin gepilgert und mussten sich von ihm täuschen lassen, im Wissen, dass sie getäuscht werden, wobei Putin genau wusste, dass sie wissen, dass er sie täuscht, aber sie nichts dagegen tun konnten. Wahrscheinlich liegt in dieser Tücke eine ungeheure Genugtuung für die westliche Geringschätzigkeit, zum Beispiel in Barack Obamas Satz, Russland sei doch nur noch eine Regionalmacht. 

Die Lage, wie sie ist, gibt nicht Aufschluss darüber, ob Putin ernsthaft Verhandlungen mit der Ukraine anstrebt, auf neutralem Boden, womöglich in Israel. Niemand kann auch die Gerüchte plausibel einschätzen, dass er Geheimdienstleute unter Hausarrest gestellt hat und Generäle auswechselt. Schauen wir uns einfach den Stand der Dinge an:

  1. Die Truppen, die zur ersten Welle der Invasion gehörten, wurden offenbar im Dunkel belassen, worum es geht. Daraus erklärt sich der Mangel an Motivation, als aus der „Spezialoperation“, die ein  Blitzkrieg sein sollte, nichts wurde. Der erstaunliche Widerstand der ukrainischen Armee wiederum erklärt sich aus den Informationen, die ihnen der amerikanische Geheimdienst zukommen lässt – dank Satellitenaufnahmen über die Bewegung etwa der Versorgungsfahrzeuge, von denen einige nun Schrott sind, genauso wie der eine oder andere Panzer. Selenskji ist wohl besser auf dem Laufenden als der abgeschottete Putin in seinem Kreml.
  2. Die Ukraine ist doppelt so groß wie Deutschland. Kann man so ein Land einfach besetzen? Wohl kaum, zumal wenn die Bevölkerung feindselig eingestellt ist. Je mehr die russische Armee die Städte in Trümmer legt, desto größer fällt die Erbitterung aus und desto schwerer wird die Besetzung. Die Ukraine ist nicht fern wie Afghanistan. Dieses Drama spielt sich hier ab, in Europa, vor aller Augen. Und ein Rückzug in Unehren, auf den es ja hinausliefe, wenn der Krieg endete, wäre ein weltweit beachtetes Ereignis und für Putin eine geostrategische Katastrophe. Könnte er sie politisch überleben? Doch wohl nicht. 
  3. Interessant ist, worüber Wladimir Putin momentan nicht spricht: von der Entnazifizierung der Ukraine, von der Ukraine als Herz Russlands, das historisch kein Recht auf Eigenständigkeit besitzt. Er thematisiert auch nicht die stille Zusammenarbeit der USA mit dem ukrainischen Militär. Er könnte ja sagen: Seht her, ich hab’s doch immer gesagt, Amerika ist mitten drin dabei, ist Kriegspartei. Tut er momentan nicht, kann noch kommen, klar. Natürlich kann er morgen auch wieder mit nuklearen Schlägen drohen, ist nicht ausgeschlossen. Putin ist unberechenbar wie die Hölle.
  4. Das Kriegsziel bestand ursprünglich darin, die Regierung in Kiew wegzufegen und durch eine Marionettenregierung zu ersetzen – zurück zu den herrschenden Verhältnissen vor dem Maidan-Aufstand 2013. Nun könnte das Kriegsziel die Neutralisierung der Ukraine sein, wofür es eine Verfassungsänderung braucht. Selenskji könnte sagen: Okay, machen wir, kein Problem, denn Verfassungsänderungen können später irgendwann auch wieder geändert werden. Wer heute auf den Beitritt zur Nato verzichtet, muss nicht auf alle Ewigkeit darauf verzichten. Dazu käme noch die Anerkennung der Krim und der beiden Volksrepubliken im Donbass. Selenskji könnte die Kontaktlinie vor dem Krieg anerkennen, mehr geht wohl nicht. Vermutlich legt er es kompensatorisch darauf an, dass sein Land auf längere Sicht wenigstens der EU beitreten darf. Verdammt schmerzhafte Entscheidungen könnten bevorstehen. Doch wenn Aussicht auf ein Ende des Krieges besteht, mag vieles relativ werden. Die Ukraine ginge gestärkt hervor, Russland geschwächt.
  5. Die Vielzahl an Sanktionen beginnt zu wirken, kein Wunder, so breitflächig, wie sie angelegt sind. 7 bis 9 Prozent dürfte das russische Bruttosozialprodukt sinken, sagen Experten. Der Rubel ist in freiem Fall, der Börsenhandel ist ausgesetzt, Unternehmen stellen das Geschäft mit und in Russland ein. Ja, uns tut es geht, wenn es Putin schlecht geht. Moralisch ist das einwandfrei, doch ist es auch politisch klug? Ist es nicht. Diese Sanktionen haben eine entscheidende Schwäche: Sie sind als Selbstzweck gedacht, als Bestrafungsaktion. Besser wäre es, daraus ein Politikum zu machen. Klug wäre es, sie mit politischen Forderungen zu verbinden und damit eine Botschaft zu senden: Bei Waffenstillstand nehmen wir einige wichtige Sanktionen zurück. Bei Verhandlungen, wie sie Putin womöglich nur zum Schein, womöglich aber auch aus Not ankündigt, setzen wir einige Sanktionen aus.
  6. Unser ehemaliger Bundespräsident Joachim Gauck hat in der Sendung von Sandra Maischberger den Satz fallen lassen: Ein bisschen frieren für die Freiheit sei den Deutschen zumutbar. Mächtige Empörung, großes Echo. So löst man eine Debatte aus. Wirtschaftlich wäre der Verzicht auf Nord Stream 1 eine Katastrophe, wohl wahr. Moralisch ist es eine Katastrophe, dass Putins Russland im vorigen Jahr aus Deutschland 19,4 Milliarden Euro für Öl und Gas überwiesen bekam und in diesem Jahr wegen der gestiegenen Preise noch ein paar Milliarden Euro mehr. Wir füttern seine Kriegsmaschinerie, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Syrien und Libyen, auch das ist wahr. Der Krieg kennt keine Unschuldigen. U

In diesen Tagen scheint vieles möglich zu sein. Schönes und Schreckliches. Kriegsende und Kriegsverschärfung. Verhandlungen und Städte in Schutt und Asche. Und beides hängt von einem einzigen Menschen ab, Wladimir Putin. Das ist der maximal beunruhigende Tatbestand.

Putin erzwingt Anpassungen, die niemand wollte

„ Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein,“ hat Annalena Baerbock gesagt und recht hat sie. Die andere Welt verlangt der Regierung und auch uns Veränderungen ab, die wir gerne vermieden hätten, aber nicht vermeiden können.

Dafür sorgt Wladimir Putin, der nicht nach Lenin oder Stalin aussieht, sondern sie nur imitiert. Auch wenn es auf mittlere Sicht so sein mag, dass er mit dem Angriff auf die Ukraine sein Ende einläutet, bleibt uns erst einmal sein ungeheurer Satz im Gedächtnis: Wer ihm Widerstand leistet, und damit sind Europa und die Nato gemeint, dem droht er Atomschläge an. Soweit würde er gehen. So viel muss man ihm zutrauen.

Die Bundesregierung hat gestern alles Zögernde, alles Mehltauige, das vor allem den Kanzler umflorte, hinter sich gelassen. Die Lieferung von 1000 Panzerabwehrraketen und 500 Boden-Luft-Raketen ist mehr als ein Anfang. Von jetzt an müssen wir wieder in militärischen Kategorien und Waffensystemen denken. Die alte Welt zieht uns in ihren Bann.

Der ewige Krieg in Syrien trudelt aus, Afghanistan ist wieder weit weg, aber Europa wird auf unabsehbare Zeit zum neuen Krisenfall mit Weiterungen, die von Wladimir Putin abhängen und von niemandem sonst. Damit erlegt er Deutschland Anpassungen auf, die sich im Handeln und Denken auf fünf Ebenen auswirken.

1. Ebene: 100 Milliarden Euro bekommt die Bundeswehr, damit sie mehr als bedingt abwehrbereit sein kann. Über die politisch gewollte Vernachlässigung ließe sich manches sagen, auch über die Haltung der Gesellschaft gegenüber seinen Soldaten, aber egal, wichtiger ist jetzt, dass wir sicherheitshalber wieder ein Land mit ernsthafter  Landesverteidigung und einem ernsthaften militärischen Beitrag zum Bündnis sein wollen. Es ist ja gut möglich, dass Russland nach der Ukraine irgendwann ein Nato-Land angreift, zum Beispiel im Baltikum. Dann würde Artikel 5 in kraft treten, wonach der Angriff auf ein Land mit dem Angriff auf alle gleichgesetzt wird. So ungeheur der Gedanke ist, dass Deutschland in einen Krieg eintritt, müssen wir jetzt das Ungeheure für möglich halten.

2. Ebene: Bald dürfte die Frage auftauchen, ob es eigentlich klug gewesen ist, die Wehrpflicht aufzugeben, und ob es nicht sinnvoll wäre, sie wieder einzuführen. Die Antwort der Regierung wird vermutlich von der öffentlichen Stimmung abhängen. Das Moralisieren, das die deutsche Außenpolitik auszeichnet, spiegelt ja nur die öffentliche Haltung wider. Gut möglich, dass sich diese pazifistisch bestimmte Grundhaltung, die eine Konsequenz aus der deutschen Vergangenheit ist, nun wandelt. Gestern durften Drohnen nicht bewaffnet werden, heute wird die Bundeswehr mächtig nachgerüstet. So grundstürzend kann es zugehen.

3. Ebene: Ohne Amerika ist Europa im jetzigen Zustand nicht verteidigbar. So war es im alten kalten Krieg, so ist es im neuen kalten Krieg, der nicht nur kalt ist. Klugerweise ließ Joe Biden die Atomdrohung Putins umkommentiert stehen. Aber wie wird sich Amerika verhalten, wenn der Ernstfall im Baltikum wirklich eintreten sollte? Irak und Syrien, Afghanistan und Libyen: Fehleinschätzungen und Fehlschläge – bloc raus, nicht wieder irgendwo rein. Und trotzdem Europa militärisch beistehen? Vielleicht ja, aber darauf verlassen? Auf Dauer muss Europa ohne die konventionelle und atomare Schutzmacht auskommen. Emmanuel Macron empfahl vor zwei Jahren den Aufbau einer europäischen Armee. Deutschland und Frankreich müssen auch hier die Welt endlich neu denken, wobei  Polen oder Ungarn diesmal nicht querschlagen werden.

4. In der Regierung müssen die Sozialdemokraten weitreichende Entscheidungen treffen. Sie sind mit einem ehemaligen Bundeskanzler geschlagen, der in russischem Sold steht. Solange Putin herrscht, kann kein Gas durch Nord Stream 2 fließen. Den Schaden hat Mecklenburg-Vorpommern und vor allem Manuela Schwesig, die unter fadenscheinigem Vorwand sogar eine Gazprom-finanzierte Stiftung einging und sich damit ins Unrecht setzte. In der SPD müssen etliche Leute in sich gehen. Und der Vorsitzende Lars Klingbeil, der bis gerade eben in der Sonne stand, muss seine Partei neu ausrichten.

5. Zum zweiten Mal müssen die Grünen Entscheidungen treffen, die mit Krieg einhergehen. Damals 1990 Kosovo, heute 2022 die Ukraine und was sonst noch kommen mag. Gut möglich, dass es ihnen am Ende so ergehen wird wie zuvor der SPD und der CDU/CSU: Abspaltung durch Regierungshandeln. Traditionell stehen die Grünen den Anti-Kriegs-Demonstranten nahe, die sich gestern in großer Zahl in Berlin auf der Straße waren. Eine der Hauptreden hielt Luisa Neubauer, eine Ikone der Fridays-for-Future-Bewegung. Um sie könnten sich grüne Gegner der grünen Partei versammeln. 

Transformation war bisher ein Begriff aus der Ökologie. Neues Denken. Transformation ist nun kein grünes Monopol mehr. Das alte Denken meldet sich machtvoll zurück. Leider.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Mittelfristig läutet Putin damit sein Ende ein

t-online: Herr Ischinger, bei unserem letzten Interview haben Sie gemeint, Putin sei kein Hasardeur, was wir alle gehofft haben. Wie kommt er Ihnen jetzt vor?

Ischinger: Kaltblütig verletzt er das Völkerrecht, im Glauben, dass er die Risiken autonom kalkulieren kann. Von Clausewitz stammt der Satz, dass nach dem Beginn des Schießens sämtliche Pläne für den Krieg nichtig sind. Clausewitz wird auch hier Recht behalten.

Niemand denke an eine Besetzung der Ukraine, behauptet ein Sprecher Putins. Glauben Sie das?

Es gibt zur Zeit kaum einen Grund, den Erklärungen der russischen Regierung zu vertrauen.

Der amerikanische Präsident Joe Biden war frühzeitig vom russischen Einmarsch über den Donbas hinaus überzeugt. Die Besetzung der Ukraine nimmt er hin, auch das machte er klar. Wo liegt seine rote Linie?

Von Hinnehmen kann ja keine Rede sein. Schließlich regiert der Westen mit massiven Sanktionen. Sobald aber Russland militärische Drohungen ausstößt oder sogar militärische Maßnahmen gegenüber Nato-Mitgliedern geht, ist sich die Nato einig: Dann gilt der Bündnisfall nach Artikel 5, wonach ein Angriff auf ein oder mehrere Mitglieder als Angriff auf alle angesehen wird.

Putin scheint Amerika nach den Erfahrungen in Syrien und Afghanistan für einen zahnlosen Tiger zu halten. Hat er recht oder täuscht er sich?

Er täuscht sich und überschätzt sich. Das Bruttosozialprodukt Russlands ist geringer als das Italiens. Der Angriff auf die Ukraine wird – jedenfalls mittelfristig – das Ende des Putin-Regimes in Moskau einläuten.

Die Nato verlegt Truppen und Kampfjets in die baltischen Staaten – als eine Geste oder um zu signalisieren, dass es Krieg gibt, falls Putin Lettland, Litauen oder Estland angreifen sollte?

Dabei geht es um die Sicherheit unseres Bündnisgebiets und natürlich geht es auch um Abschreckung, die auf das Verhüten eines Krieges zielt. 

Sind amerikanische und europäische Sanktionen, selbst die härtesten, nicht wirksam genug und doch nur Zeichen von Hilflosigkeit?

Selbstverständlich können Sanktionen kein Allheilmittel sein. Aber auch sie können zur Abschreckung gegen Weiterungen beitragen.

Kanzler Olaf Scholz hat gesagt, Putin habe einen schweren Fehler gemacht. Kann man so sagen, aber was folgt daraus und wie steht Deutschland in dieser schweren Krise da?

Wir müssen uns jetzt unserer Mitverantwortung stellen und kommen wohl auch nicht umhin, einige unangenehme Fragen beantworten. Zum Beispiel müssen wir uns fragen, ob unsere moralisch und legalistisch begründete Weigerung, der Ukraine militärisches Gerät zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit zu liefern, nicht die Abschreckung geschwächt hat. Waren wir zu lange zu naiv? Unser gesamtes überkommenes sicherheitspolitisches Gedankengebäude, einschließlich der allzu lange gehegten Illusion von einer Partnerschaft mit Russland ist jetzt eingestürzt. Das ist dramatisch. 

Nord Stream 2 ist nunmehr ein Milliardengrab?

Womöglich ja, doch zunächst einmal ist es nur auf Eis gelegt. Enteisung ist möglich, aber kurzfristig sehr unwahrscheinlich. 

Wozu würden Sie dem Kanzler und der Außenministerin jetzt raten?

Ich würde beiden zu resoluter und dauerhafter Geschlossenheit mit den Verbündeten raten. Die Europäische Union sollte alles tun, was die Ukraine zu fördern und zu unterstützen vermag – unser missbrauchtes und vergewaltigtes Nachbarland. Dennoch sollten die EU wie die Nato den Gesprächskanal mit Moskau offenhalten, auch wenn es natürlich unter den nunmehr herrschenden Umständen schwer fällt. 

Am Sonntag ging die Münchner Sicherheitskonferenz zu Ende, die Sie zum letzten Mal geleitet haben. Was glauben Sie, was befürchten Sie?

In Europa und anderen Teilen der Welt herrschen mehr denn je Konflikte, die brandgefährlich sind. Wer Illusionen hegte, sollte jetzt aufwachen. Wer Visionen von Friedlichkeit nachhing, wird gerade eines Besseren belehrt. Die Beschaulichkeit der deutschen Weltbetrachtung, idealistisch und moralisch geprägt, ist ans Ende gekommen. Jetzt unterliegen wir der Notwendigkeit, das Gefühl kollektiver Hilflosigkeit zu überwinden –  das war übrigens das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz.

Herr Ischinger: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.