Mittelfristig läutet Putin damit sein Ende ein

t-online: Herr Ischinger, bei unserem letzten Interview haben Sie gemeint, Putin sei kein Hasardeur, was wir alle gehofft haben. Wie kommt er Ihnen jetzt vor?

Ischinger: Kaltblütig verletzt er das Völkerrecht, im Glauben, dass er die Risiken autonom kalkulieren kann. Von Clausewitz stammt der Satz, dass nach dem Beginn des Schießens sämtliche Pläne für den Krieg nichtig sind. Clausewitz wird auch hier Recht behalten.

Niemand denke an eine Besetzung der Ukraine, behauptet ein Sprecher Putins. Glauben Sie das?

Es gibt zur Zeit kaum einen Grund, den Erklärungen der russischen Regierung zu vertrauen.

Der amerikanische Präsident Joe Biden war frühzeitig vom russischen Einmarsch über den Donbas hinaus überzeugt. Die Besetzung der Ukraine nimmt er hin, auch das machte er klar. Wo liegt seine rote Linie?

Von Hinnehmen kann ja keine Rede sein. Schließlich regiert der Westen mit massiven Sanktionen. Sobald aber Russland militärische Drohungen ausstößt oder sogar militärische Maßnahmen gegenüber Nato-Mitgliedern geht, ist sich die Nato einig: Dann gilt der Bündnisfall nach Artikel 5, wonach ein Angriff auf ein oder mehrere Mitglieder als Angriff auf alle angesehen wird.

Putin scheint Amerika nach den Erfahrungen in Syrien und Afghanistan für einen zahnlosen Tiger zu halten. Hat er recht oder täuscht er sich?

Er täuscht sich und überschätzt sich. Das Bruttosozialprodukt Russlands ist geringer als das Italiens. Der Angriff auf die Ukraine wird – jedenfalls mittelfristig – das Ende des Putin-Regimes in Moskau einläuten.

Die Nato verlegt Truppen und Kampfjets in die baltischen Staaten – als eine Geste oder um zu signalisieren, dass es Krieg gibt, falls Putin Lettland, Litauen oder Estland angreifen sollte?

Dabei geht es um die Sicherheit unseres Bündnisgebiets und natürlich geht es auch um Abschreckung, die auf das Verhüten eines Krieges zielt. 

Sind amerikanische und europäische Sanktionen, selbst die härtesten, nicht wirksam genug und doch nur Zeichen von Hilflosigkeit?

Selbstverständlich können Sanktionen kein Allheilmittel sein. Aber auch sie können zur Abschreckung gegen Weiterungen beitragen.

Kanzler Olaf Scholz hat gesagt, Putin habe einen schweren Fehler gemacht. Kann man so sagen, aber was folgt daraus und wie steht Deutschland in dieser schweren Krise da?

Wir müssen uns jetzt unserer Mitverantwortung stellen und kommen wohl auch nicht umhin, einige unangenehme Fragen beantworten. Zum Beispiel müssen wir uns fragen, ob unsere moralisch und legalistisch begründete Weigerung, der Ukraine militärisches Gerät zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit zu liefern, nicht die Abschreckung geschwächt hat. Waren wir zu lange zu naiv? Unser gesamtes überkommenes sicherheitspolitisches Gedankengebäude, einschließlich der allzu lange gehegten Illusion von einer Partnerschaft mit Russland ist jetzt eingestürzt. Das ist dramatisch. 

Nord Stream 2 ist nunmehr ein Milliardengrab?

Womöglich ja, doch zunächst einmal ist es nur auf Eis gelegt. Enteisung ist möglich, aber kurzfristig sehr unwahrscheinlich. 

Wozu würden Sie dem Kanzler und der Außenministerin jetzt raten?

Ich würde beiden zu resoluter und dauerhafter Geschlossenheit mit den Verbündeten raten. Die Europäische Union sollte alles tun, was die Ukraine zu fördern und zu unterstützen vermag – unser missbrauchtes und vergewaltigtes Nachbarland. Dennoch sollten die EU wie die Nato den Gesprächskanal mit Moskau offenhalten, auch wenn es natürlich unter den nunmehr herrschenden Umständen schwer fällt. 

Am Sonntag ging die Münchner Sicherheitskonferenz zu Ende, die Sie zum letzten Mal geleitet haben. Was glauben Sie, was befürchten Sie?

In Europa und anderen Teilen der Welt herrschen mehr denn je Konflikte, die brandgefährlich sind. Wer Illusionen hegte, sollte jetzt aufwachen. Wer Visionen von Friedlichkeit nachhing, wird gerade eines Besseren belehrt. Die Beschaulichkeit der deutschen Weltbetrachtung, idealistisch und moralisch geprägt, ist ans Ende gekommen. Jetzt unterliegen wir der Notwendigkeit, das Gefühl kollektiver Hilflosigkeit zu überwinden –  das war übrigens das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz.

Herr Ischinger: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.