Menschen haben Rituale, und das ist auch gut so. Zu meinen gehört es, dass ich täglich ein paar Lieder höre, bei denen mir mein Herz aufgeht. Ich fange an zu lesen oder zu schreiben und dazu singt mir (falls man seine Art der mündlichen Äußerung singen nennen kann) Bob Dylan „Murder most foul“, dieses dichte, ergreifende Klagelied seiner Generation auf den Verlust aller Träume und den Anfang von Melancholie und Zynismus und Trauer. John F. Kennedy wird ermordet und von jetzt an kann jeder an jedem Tag sterben. Robert Kennedy und Martin Luther King folgen, Malcolm X auch. „The Times they are a-changing“ ist Vergangenheit, eine Hymne der Naivität. „Things have changed“ ist Dylans Ballade der Desillusionierung.
Darauf folgt „All along the watchtower“, das auch Bob Dylan geschrieben hat, aber Jimi Hendrix unvergleichlich besser zu Gehör bringt. Kraftvoll. Wuchtig. Hammerhart und doch auch lyrisch. Jimi Hendrix habe ich 1969 in Nürnberg live erlebt. Das Wort stimmt: erlebt, ein Erlebnis fürs Leben. Und dann der Tod mit 27. Bob Dylan bekam seither den Nobelpreis und einen Oscar, eben für „Things have changed“. Und tourt und tourt und tourt. Unsterblich ist er sowieso wegen seiner zahllos vielen, unfassbar schönen Balladen, die man lesen muss, weil sie Literatur sind, die er singt, wie er eben singt, wobei sich die Art seines Singens ebenso ändert, wie er sich geändert hat.
Gary Brooker spielte und lebte auf einem anderen Planeten. Er war nicht die Stimme seiner Generation. Er knallte sich nicht den Kopf weg. Von Anfang an hatte er diese melancholische Stimme, die übrigens nicht in psychedelischen Texten aufging, auch wenn „A whiter shade of pale“ danach klingt. Ich finde, man muss Texte ernst nehmen, und wenn sie von absoluten Könnern wie Gary Brooker gesungen werden und eine Saite in uns anschlagen, die kein anderer anzuschlagen vermag, dann sollten wir den Text durch Aufmerksamkeit ehren.
„A whiter shade of pale“ gehört für mich in die gleiche Liga wie „Good Vibrations“ (für die Jüngeren unter uns, falls die bis hierher gelesen haben sollten: Das haben die Beach Boys gesungen, die man ansonsten weitgehend vergessen kann, jedenfalls unter dem Aspekt Lieder für die Ewigkeit) oder „American Pie“ (stammt von Don McLean, der auch noch „Vincent“ gesungen hat, also zwei Lieder für die Unsterblichkeit). Und nur mal so nebenbei gesagt: „Conquistador“ von Procul Harum ist immer unterschätzt worden, immer zu kurz gekommen.
Gary Brooker lässt sich auf seinen Alben erst richtig entdecken. Das sind keine Lieder, auch keine Balladen, es sind Symphonien. Herrlich gesungen, wunderbare Melodien, grandiose Musik. All das geschrieben und gesungen vor Jahrzehnten. Meine Frau, die zu jung ist für dieses Generation-Unsterblichkeits-Liedgut, liebt diese Musik auch, weil sie eben nicht nur für eine Generation geschrieben ist und nicht mit ihr vergilbt. Irgendwann spielte ich beim Abendessen „Grand Hotel“ ab und sie lauschte und war entzückt und staunte, als ich ihr sagte, wer diese Gruppe war und wann das Album veröffentlicht worden war. Heute hört sich manches vielleicht sogar noch jünger, noch frischer an als damals. Procul Harum wiederentdeckt erreicht viele Herzen, nicht nur meines.
Gary Brooker scheint ein stabiler Mensch gewesen zu sein. Er spielte nach Procul Harum mit allen Größen der Pop-Musik. Er war weit mehr als 50 Jahre mit derselben Frau verheiratet, genau so wie Charlie Watts, der andere Beständige in diesem Wahnsinnsgeschäft, das viele Große früh in den Tod riss.
Gary Brooker schaffte es bis kurz vor 77, der Krebs raffte ihn hin. Er machte nicht viel Gedöns um sich, um seine Lieder, um seine Musik. Er war das Beste, was man über ihn sagen kann: ein Sänger, der in seinen Liedern aufging. Hört mal wieder rein. Es geht ans Herz.