Oh Bayern, oh BVB

In dieser Woche habe ich mir beide Pokalspiele angeschaut, in denen der Beste und der Zweitbeste der Bundesliga spielten. Am Dienstag war der FC Bayern gegen den Freiburger SC zugange, am Mittwoch spielte mein BVB in Leipzig. Dass der BVB verlor, lag von vornherein im Bereich des Möglichen. Dass der FC Bayern verlor, hätte vorher niemand geglaubt.

Die Spiele fielen völlig unterschiedlich aus. Bayern war maßlos überlegen. Der BVB maßlos unterlegen. Bayern schoss immerhin ein irreguläres Tor, das der Video-Schiedsrichter, falls er nicht gerade in sein Vesperbrot gebissen haben sollte, monieren musste, aber nicht monierte. Der BVB schoß in der vorletzten Minute zum ersten Mal gefährlich auf das Tor. Herzlichen Glückwunsch.

Die Gründe für beide Niederlagen sind nun wirklich old school. Die Mannschaften mögen Spielzüge so lange üben, bis sie zu Automatismen werden, wie es in der Techniker-Sprache der Trainer heißt. Die Trainer mögen sich etwas einfallen lassen, womit der gegnerische Trainer überrascht wird. Kurze Ecken können einstudiert werden, um die Standards, wie es auch so schön heißt, unberechenbar zu machen. Der Video-Trainer mag Szenen zusammenstellen, aus denen sich die Taktik der generischen Truppe plastisch ergibt, so dass sie auch noch der letzte Hirnbeiß versteht. Alles schön und gut, aber manchmal kommt es eben auf anderes an.

Bayern vermochte aus seinem Powerplay nur wenige ernsthaft gefährliche Spielzüge zu entwickeln, mit denen sie dem Tor der Freiburger nahe gekommen wären. Effizienz entsteht durch die Wucht, die aus dem Willen kommt, jetzt unbedingt ein Tor zu schießen und zwar egal wie. Aus dem Willen entsteht die Kraft, die dem verteidigenden Gegner allmählich die Kraft raubt und ihn zu Fehlern zwingt. Deshalb fallen so viele Tore innerhalb der letzten zehn Minuten oder in der Nachspielzeit. Die Wucht lässt dann nicht nach. Die Mannschaft glaubt daran, dass irgendwie irgendwann noch ein Tor fallen wird und hört nicht damit auf, über die Außen Flanken schlagen zu lassen, die im Zentrum ein Zufallstor produzieren.

Freiburg kämpfte aufopferungsvoll, schlug die Bälle blind nach vorn, wo kein eigener Stürmer stand, weil sie alle mit verteidigten auf Teufel komm raus. Sie wollten nicht schon wieder 5:0 verlieren, so sah es für mich aus. Sie wollten ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen. Wie aus Zufall waren sie höllisch effizient. Und wie es sich in Pokalspielen eben manchmal fügt, hatten sie Glück für fünf Spiele und bekamen in den letzten Sekunden einen berechtigten Elfmeter zugesprochen, den Lucas Höler sicher verwandelte.

Am Ende läuft die Ursachenforschung darauf hinaus, dass es den Bayern, vielleicht aus Überheblichkeit, vielleicht in Fehleinschätzung ihrer Form nach dem geschenkten Sieg über den BVB, an Esprit und Wucht mangelte. Sie spielten, als könnten sie nicht glauben, dass Freiburg gewinnen kann. Freiburg warf sich ins Spiel in der Hoffnung, eine Packung vermeiden zu können und mit dem Hintergedanken, Chancen zu nutzen, falls sie sich ergeben sollten. Der Unterschied bestand darin, dass die Bayern in Routine erstarrten, während Freiburg erst ein Sonntagstor schoß und dann eben den Elfmeter, den ihm das Schicksal bescherte, dankend verwandelte.

In München brachte sich der BVB selber aus dem Rhythmus, als sein Torwart ein Luftloch schlug. So ein Tor schwächt ungemein, ist eine Demütigung für die gesamte Mannschaft und raubt den Anfangsschwung. Der BVB erholte sich nicht davon.So ein Luftloch-Tor baut den Gegner auf, dem das Schicksal an diesem Abend wohl gesonnen ist. In Leipzig ließ sich der BVB überwältigen, brachte keinen sicheren Spielaufbau zustande, rannte immer hinterher, verlor ständig Bälle im Mittelfeld und bezog noch ein verhängnisvolles Tor, als Kobel bei der Ecke in der letzten Minute der Nachspielzeit im generischen Strafraum auftauchte. Das 0:2 bedeutete dann wieder so ein demütigendes Tor, von dem sich eine Mannschaft bis zum nächsten Spiel erholen muss, sonst setzt es gleich noch eine Niederlage.

Leipzig wollte unbedingt die Negativserie mit drei Niederlagen ohne eigenes Tor beenden. Der Trainer, der den BVB aus eigener Erfahrung kennt, hatte sich eine erfolgreiche Taktik ausgedacht: Greift sie sofort an, gleich hinter dem Strafraum, lasst sie nicht zur Entfaltung bringen, nehmt ihnen den Atem, bringt sie aus der Fassung. Der Dortmunder Trainer hatte auf Defensive gesetzt, aber mit Spielern wie Öczan oder Can lässt sich nur bedingt ein feines Angriffsspiel aufziehen, das ist nicht ihre primäre Aufgabe. Sie sollen Angriffe im Mittelfeld unterbinden und Gegenangriff ermöglichen, die dann Brandt und Reus und Malen ins Laufen bringen. Nichts davon klappte. Der BVB ging unter. War chancenlos. Brachte einen gelungenen Angriff in der vorletzten Minute zustande, doch den satten Schuss meisterte der Leipziger Torwart.

Was lernt uns das? Der Kader der Bayern ist lange nicht so gut, wie er von Kahn und Brazzo eingeschätzt wird. Tuchel muss wie Nagelsmann erkennen, dass zu wenig Leben in der Mannschaft steckt und Leute wie Mané vermutlich gar nicht zu ihr passen. Hinter dem BVB liegt womöglich die beste Phase dieser Saison. Die Bayern bieten geradezu an, dass eine andere Mannschaft Meister wird, aber dieser BVB wird es nicht sein. Malen passt wie Mané nicht recht zur Mannschaft und solange Brandt seiner Form hinterher läuft, fehlt der entscheidende Faktor hinter dem Zentrum. Zwar bietet sich Reyna als Ersatz an, der aber unter Terzić auf der Ersatzbank verhungert.

Der BVB spielt morgen gegen Union. Bayern in Freiburg, wie seltsam, und dann am Mittwoch gegen ManCity, oha.

Dörk forever

Heute habe ich gelesen, dass Dirk Nowitzki in die Hall of Fame berufen werden soll. Schon jetzt, nur vier Jahre nach seinem tränenreichen Abschied aus der NBA. Mich freut das ungemein. Er hat diese ungewöhnliche Ehre verdient. Wieder wird er um Worte ringen, weil er nichts für selbstverständlich hält. Andere platzen vor Selbstbewusstsein, selbst Dennis Schröder, der bei den Lakers immer weiter nach hinten auf der Bank gereicht wird. Dirk Nowitzki, Nummer 41, gehört ganz sicher nicht zu den Selbstgefälligen.

Sobald er im Mittelpunkt steht, wirkt er wie jemand, der bestimmt nicht im Mittelpunkt stehen will. Wenn er es dennoch muss, ist er ein Ausbund an Verlegenheit und weist darauf an, dass er doch nur ein Mensch ist, der zufällig den Ball ganz gut in den dafür vorgesehenen Korb werfen kann. Dadurch wird er noch sympathischer und nicht zufällig hat ihn Charles Barkley den nettesten Menschen genannt, der je Basketball in der NBA gespielt hat.

Natürlich wäre es einfach, in solchen Momenten eine Rede vorbereitet zu haben, die er ablesen kann, um einigermaßen Sicherheit vor einer Halle von Menschen zu gewinnen. Vielleicht hat er sich sogar die richtigen Sätze ausgedacht, bringt sie aber nicht so heraus, wie er es sich vorgenommen hatte. Aber wahrscheinlich ist es so, dass die Scheu vor Öffentlichkeit zum Gesamtkunstwerk des Basketballspileers Dirk Nowitzki gehört. Und das Publikum in Dallas würde ihn auch dann mit herzlichem Beifall überschütten, wenn er gar nichts sagen würde, sondern nur da stehen würde, mit den Füßen scharrend und sich mit dem Handrücken die Tränen abwischt. Dallas liebt Dirk Nowitzki, wie er ist. Anstatt weiter zu ziehen, um einen NBA-Titel zu gewinnen, vor allem nach der deprimierenden Niederlage gegen Miami, blieb er daheim in Dallas und setzte alles dahinter, doch noch einen Titel zu holen. Nie werden sie ihm diese Demut und Hingabe vergessen.

Ist das deutsch? Natürlich nicht. Bill Russell spielte 14 Jahre für die Boston Celtics. John Stockton spielte 19 Jahre für Utah. Michael Jordan spielte 13 Jahre für die Chicago Bulls (sein Comeback für die Washington Wizards war ein Irrtum). Karl Malone spielte mit Stockton 18 Jahre ein unvergleichliches Spiel bei den Jazz, ehe es ihn für 2 späte Jahre zu den Lakers zog, um endlich mal einen Titel zu gewinnen. Larry Bird spielte 13 Jahre lang bei den Celtics.

Es gibt treue Gesellen und es gab sie schon immer. Und es gibt die anderen, die Legionäre wie LeBron James, der über Cleveland nach Miami zog, zurück zu den Cavaliers kam und sich dann den Lakers anzuschließen. Jeder Wechsel geriet zum großen Tamtam. Jede Veränderung bekam historische Weihen. Überlebensgröße, wie LeBron James eben LeBron James sieht. Oder Kevin Durant: Unstetigkeit als Erkennungsmerkmal – Seattle, Oklahoma, Golden State Warriors, Brooklyn Nets, derzeit Phoenix Suns.

Am Ende kommt es auf die Mentalität. Nowitzki und die anderen überschätzen sich weder selber noch die gesellschaftliche Bedeutung ihres Sports. James und die anderen besitzen ein monströses Ego für die Jagd nach dem noch besser dotierten Vertrag bei der noch besseren Mannschaft. Nowitzki ist das andere Extrem: Verzicht auf Millionen Dollar, die ihm vertraglich zustanden, damit sein Klub zusätzliche Spieler verpflichten konnte.

Nowitzki ist ohne Holger Gschwindner nicht zu denken. Gschwindner rechnete anhand von Körpergröße, Armlänge und Handspannweite den richtigen Winkel aus, in dem der Ball zum Korb fliegen musste. Nowitzki war der gelehrigste Schüler, den man sich denken kann. Der Fadeaway Jumper, sein Markenzeichen, verdankt sich mathematischer Berechnung und ungewöhnlicher Körperbeherrschung. So konnte aus einem 2,13 Mann nicht etwa ein Center, sondern ein Power Forward werden, ein Alleskönner, der zum Korb zog, Dreier warf und dann auch noch diesen wunderbaren Fadeaway Jumper aus allen Lebenslagen warf.

Das Begnadet ist harte Arbeit. Kobe Bryant, Michael Jordan und all die anderen waren und sind Arbeitsethiker, die sich nie mit dem Stand ihres Könnens zufrieden gaben, vielmehr immer und immer wieder übten, was sie nicht aus reinem Talent drauf hatten. Beidhändig zum Korb ziehen zu können. No-look-Pässe zu werfen, weil sie jederzeit wissen, wie die anderen Spieler laufen.

Dirk Nowitzki hat nun alles, was man als Basketballspieler in Amerika haben kann. Eine Statue vor der Halle. Das Trikot mit der 41 hochgezogen wie eine Trophäe. In Dallas verehrt wie ein eingeborener Sohn der Stadt. Und nun die Hall of Fame. Wie Charles Barkley sagen würde: Congrats, man, you really deserve it, ‚cause you changed the game of Basketball forever.

Wenn sich Misstrauen hineinfrisst

Vertrauen ist gut. Vertrauen kann tragen. Wenn jemand zu einem von uns sagt: Ich vertraue dir, dann stellt sich ein wohliges Gefühl ein. So können Menschen auch zueinander sein, so miteinander umzugehen ist schön.

Nun weiß man aus dem richtigen Leben, dass es ganz schön schwierig ist, auf Dauer Vertrauen zu haben und zu bekommen. So schön es ist, währt es selten lange. Fragen stellen sich, was das jetzt soll, es war doch ein anderer Ton vereinbart. Ein falscher Zungenschlag, vielleicht aus Versehen, kann massiv irritieren, bringt eine Unwucht ins Verhältnis. 

Politik ist Konkurrenz. In der Politik gibt es selten eine Grundlage dafür, einander zu vertrauen. So gut wie niemand hat geglaubt, dass  die Eintracht vom Anfang der Dreier-Koalition ewigen Bestand haben würde. Aus dem Leben weiß man, dass Dreier-Konstellationen ihre Tücken haben. Entweder einigen sich zwei und der Dritte fühlt sich ausgeschlossen, oder jeder der Drei macht das Seine und so ergibt sich kein Ganzes mehr.

Im Grunde sollten wir Robert Habeck dankbar für seinen Wutausbruch zur besten Sendezeit sein. Er sprach ja nur aus, was jeder sehen konnte: Das Vertrauen ist verloren gegangen. Misstrauen ist gesät. Misstrauen aber zersetzt, gräbt sich in die Seelen. Hat es sich erst einmal ausgedehnt, gehen die Schotten herunter und jeder denkt nur noch an sein Überleben. Die existentiell bedrohte FDP denkt an ihre Klientel, die Grünen verzweifeln am gemeinsamen Projekt und die SPD wirkt  geistesabwesend.

Das Ganze muss der Kanzler zusammenhalten, wer denn sonst. Wie er dafür sorgt, laut oder leise, mit Machtwort oder kraft seiner Amtsautorität, folgt aus seiner Mentalität. Olaf Scholz wirkt manchmal unbeteiligt, was eine Stärke sein kann, weil er den anderen erst einmal beim Tanzen zuschaut, bevor er eingreift. Es kann aber genauso gut eine Schwäche sein, wenn er zu lange passiv bleibt, wozu er neigt. Natürlich kann der Kanzler nicht andauernd dazwischen schlagen, aber er sollte schon zeigen, wo der Hammer hängt. Aber wo hängt er?

Momentan hängt er anderswo. Der bundesweite Streik heute ist vielleicht nur der Anfang von Verhältnissen, die nicht unbedingt wie in Frankreich ausarten müssen, aber die Regierung hat zweifellos ein Problem – eines mehr neben all den anderen. Und da ist noch ein Zeichen an einer anderen Wand, das die Koalition lesen sollte. Geschrieben haben es die Berliner gleich zweimal kurz hintereinander: Zuerst wählten sie ihr Dreier-Bündnis wegen Kompetenzmangels ab und gestern haben sie  den Volksentscheid für beschleunigten Klimaschutz abgelehnt. Beides war eine Überraschung in diesem hitzigen, experimentierfreudigen Biotop.

Da dreht sich vielleicht etwas, da ändert sich womöglich etwas im Land. Die Herren Scholz/Lindner/Habeck tun gut daran, diesen Zeichen Beachtung zu schenken. Womöglich haben die Wähler und Bürger in den letzten Jahren genug an Zumutungen erlebt, von der Pandemie über die Folgen des Ukraine-Krieges bis zum Klimawandel. Diese Erfahrung, dass Zumutungen endlich sind, mussten etliche Vorgänger von Olaf Scholz machen, zum Beispiel Helmut Schmidt mit seiner eigenen Partei oder Helmut Kohl im Gefolge der Wiedervereinigung. Jeder von ihnen musste einsehen, dass Überpolitisierung zu ihrem Nachteil ausschlägt.

Wenn das Vertrauen innerhalb der Koalition aufgebraucht ist, wie sollen dann die Wähler, vor allem diejenigen, die diese Regierung nicht gewählt haben, das nötige Vertrauen entwickeln, dass der Klimawandel im richtigen Tempo mit den richtigen Optionen traktiert wird? Vertrauensverlust dort wird mit Vertrauensverlust hier erwidert. Das ist menschlich verständlich und politisch nur konsequent. Und es ist fatal für die ökologische Transformation der Gesellschaft. 

Die Regierung sollte die Dinge neu sortieren und besser erklären. Wärmepumpen ja, aber ohne Sanierung der Gebäude sind sie unwirksam, aber was kostet das alles zusammen? Autos wird es weiterhin geben, aber muss Stigmatisierung sein? Die Reihe kann beliebig fortgesetzt werden.

Die Menschen mitnehmen, heißt das im politischen Gefühlsdeutsch. Die Regierung muss Vertrauen in sich selber zurück gewinnen, sonst wird sie scheitern. Und nur wenn sie Vertrauen ausstrahlt, kann sie Vertrauen zurückgewinnen. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Den Scheinriesen Russland „tot rüsten“

t-online: Herr Ischinger, lassen Sie uns über Xi Jinping reden, der sein Land gleich zweimal in kurzer Zeit als Vermittler placiert hat. Hat sich damit die Weltordnung schneller als erwartet verschoben?

Ischinger: Ja: da ist ein rumpelndes Stühlerücken in der machtpolitischen Tischordnung im Gange. Aktuell entsteht dadurch allerdings mehr Unordnung als Ordnung, mehr Instabilität und Rivalität. Aber klar ist eines: China rückt an diesem Tisch auf. 

Die chinesische Geostrategie ist offensichtlich darauf angelegt, Amerika zu schwächen. Hat damit der offene Wettlauf zwischen der alten und der neuen Weltmacht begonnen?

Der Wettlauf im Sinne von machtpolitischer  Rivalität ist schon seit einiger Zeit im Gang. Leider findet er als Nullsummenspiel statt: entweder wir – das heißt die USA – gewinnen, oder China gewinnt. Besser wäre es, über eine Formel für die Koexistenz zwischen China und Amerika nachzudenken, so wie es der bald 100jährige Henry Kissinger seit langem und immer wieder predigt.

Drei Tage lang war Xi Jinping auf Staatsbesuch in Moskau und nahm sich viel Zeit zu Gesprächen mit Wladimir Putin. Haben China und Russland eine militärische Allianz geschlossen?

So weit ist es zum Glück nicht gekommen. Aber die Bilder aus Moskau haben es Putin ermöglicht, dass er trotz Kriegsverbrechertribunals keineswegs so isoliert ist, wie wir ihn uns wünschen. 

Das Interesse von Xi dürfte darin liegen, dass Russland am Ende den Krieg in der Ukraine irgendwie gewinnt oder jedenfalls nicht verliert. Schließt dieses Ziel Waffenlieferungen ein?

Hoffen wir, dass China dem russischem Drängen nach Waffen nicht nachgibt. Das Vertrauen in Putin ist übrigens nicht grenzenlos. Es wird wohl so sein, dass China kein Interesse an einer vollen militärischen Niederlage Russlands hat. Aber ein abhängiges, schwaches Russland passt sehr wohl in Xis Kalkül. 

Präsident Joe Biden warnt China vor Konsequenzen, die vermutlich in einem Wirtschaftskrieg bestünden. Wie weit geht Xi nach Ihrer Einschätzung?

China kann sich keine neuen ökonomischen Belastungen aufhalsen, zumal nach den schweren Pandemie-Jahren, die das Riesenreich tief getroffen haben. Amerikanische Sanktionen wird Xi  deshalb unter allen Umständen vermeiden wollen. 

Rote Linien sind im letzten Jahr ständig missachtet worden. Der Westen schickte Waffen und Fahrzeuge, die er kurz vorher noch nicht liefern wollte. Wieso sollte sich China anders verhalten?

Es macht schon einen Unterschied, ob man die angegriffene Ukraine oder den Aggressor Russland militärisch unterstützt. Vergessen wir nicht, dass sich mehr als 140 Staaten in den Vereinten Nationen gegen Russland gestellt haben. China kann deshalb kaum gleichzeitig und glaubwürdig Champion des Globalen Südens und Waffenlieferant an Russland sein. 

China legte vor kurzem einen 12-Punkte-Plan vor zur Lösung der „Ukraine- Krise“, wie dort der russische Überfall beschönigend genannt wird. War das mehr als ein billiger Gefallen für Wladimir Putin?

Ja, das war es, denn es wäre keine gute Entscheidung, die 12 Punkte einfach weg zu wischen. China spricht sich darin erneut unzweideutig gegen den Einsatz nuklearer Waffen aus, das ist hilfreich. Und in diesem Papier finden sich auch potentiell interessante Ansatzpunkte für den Tag, an dem die Waffen schweigen. 

Spektakulärer als der Friedensplan für die Ukraine ist die chinesisch vermittelte Annäherung zwischen den gerade eben noch Todfeinden Iran und Saudi-Arabien. Wie ordnen Sie diesen Vorgang ein?

China führt uns vor, wie weit sein Arm jetzt schon reicht. Die Vermittlung zwischen den beiden Rivalen im Nahen Osten sah niemand kommen, was natürlich auch eine Schmach für die Geheimdienste bedeutet. Diese Sensation gehört zum Aufrücken Chinas am Tisch.

Was muss passiert sein, wenn religiöse und politische Feinde versucht sind, die Feindschaft beiseite zu legen?

Im Nahen Osten ist schon immer alles im Fluss. Vor 20 Jahren gab es zum Beispiel geheime Beziehungen zwischen Israel und Iran. Heute sind diese beiden Länder wieder Todfeinde. Aber auch das kann sich wieder ändern, weil eben morgen vieles möglich erscheint, was heute noch ausgeschlossen zu sein schien.

Könnte es sich um einen Nuklear-Deal handeln, den Iran sich vom Westen nicht abhandeln lassen wollte?

Das halte ich für zu viel der Spekulation. 

Saudi-Arabien hat öfter schon damit gedroht, seinerseits Atomwaffen zu bauen. Glauben Sie, dass Mohammed Bin Salam jetzt davon absieht?

Saudi-Arabien wird nur dann vom Bau nuklearer Waffen absehen, wenn denn vorneweg Iran darauf verzichtet. Daher hängt viel davon ab, was Iran sich als nächstes einfallen lässt. 

Israel hat erst vor wenigen Jahren Beziehungen zu Bahrain und den Golf- Emiraten aufgenommen und auch Saudi-Arabien schien einer Annäherung nicht abgeneigt zu sein. Richtet sich der Schwenk in erster Linie gegen Israel?

Für Israel kann diese unheilige Allianz nur eine schlechte Nachricht sein, soviel ist klar. Aber warten wir zuerst einmal ab, ob dieses erstaunliche Bündnis sich auch wirklich als stabil erweist. 

Die Regierung Netanjahu mit ihren radikalen Koalitionspartnern richtet sich stark nach innen und löst mit ihren Vorhaben Protestwellen aus. Liegt auch darin ein Grund für die Verschiebungen im Nahen Osten?

Ja, das ist wohl so, das muss man so sehen. Alle Freunde Israels verfolgen mit großer Sorge, dass Israel seine Kräfte momentan innenpolitisch aufzehrt und die Regierung Netanjahu an der demokratischen Gewaltenteilung rüttelt. 

Zugleich reiste der syrische Präsident nach Abu Dhabi und wurde dort als Bruder empfangen, der in sein arabisches Umfeld nach langer Zeit zurückkehre. Gerät Israel jetzt in die Isolation?

Der Vorgang ist eher ein Beweis für den schwindenden Einfluss und das Scheitern der USA und auch der Europäischen Union in der Region. 

Die alte Ordnungsmacht USA schaut den Veränderungen im Nahen Osten eher passiv zu. Zufällig jährt sich der Irak-Krieg, mit falschen Behauptungen begründet, zum zwanzigsten Mal. Iran, die Türkei, Russland und Saudi- Arabien füllten die Lücke und ordnen unter chinesischer Beteiligung die Dinge neu. Was davon haben Sie kommen gesehen und was überrascht Sie am meisten?

Noch sind die USA im Nahen Osten sehr präsent. Von der EU kann man das leider nicht behaupten. Wir Europäer schauen vom Spielfeldrand zu, was in der Nachbarregionen passiert. Die Europäische Union hatte doch gerade noch den Ehrgeiz, ein geostrategischer Akteur zu werden. Davon ist leider aber nur wenig zu sehen. Wirklich überrascht hat mich das chinesische Auftreten als Vermittler im Nahen Osten. Da erscheint ein selbstbewusster neuer Akteur im Nahen Osten. 

Nato und Europa sind auf den Krieg in der Ukraine konzentriert. Dieses Jahr gilt als entscheidend, da 2024 ein neuer Präsident in den USA gewählt wird. Wie optimistisch sind Sie, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert?

Die Ukraine kann und wird nicht verlieren, wenn der Westen seine eigentliche Stärke ausnützt und den Scheinriesen Russland einfach „tot rüstet“. Wir sollten nicht vergessen dass die russische Wirtschaftskraft  kleiner ist als die italienische. Russland hat keine Chance, wenn der Westen klare Kante zeigt und die Ukraine noch mehr und noch schneller unterstützt und versorgt.. Dann endet der Krieg vielleicht doch noch in diesem Jahr. 

Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Was dem Olli so einfällt

Der FC Bayern hat geruht, den Trainer zu entlassen. Die Vereinsführung um Oliver Rolf Kahn ertrug es nicht, dass Julian Nagelsmann in Leverkusen verlor. Das Argument lautet so: Der hervorragende Kader sei Wankelmut und Unstetheit anheimgefallen, was nicht am Kader gelegen habe, sondern am Trainer. Die Sport-Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“ brachte es in ihrem Manierismus fertig, einen Zusammenhang zwischen der changierenden Kleidung des Trainers und der Unbeständigkeit der Mannschaft herzustellen, eine feine intellektuelle Leistung. Auf diese Beobachtung kommt nicht jeder. m

Schauen wir uns deshalb doch mal den herausragenden Kader an: Upamecano und Pavard verursachten zwei Elfmeter in Leverkusen. Wenn es ein Sinnbild für das Auf und Ab des FCB gibt, dann ist das Upamecano, der eine großartige Gabe besitzt, aber immer gut für einen Elfmeter ist. Damit erinnert er mich an Jérōme Boateng, der in seinen jungen Jahren auch so eine loose cannon war. Weiter: Alphonso Davies: irrwitzig schnell, im Vorwärtsdrang manchmal grandios, als reiner Verteidiger eher Durchschnitt. Er wiederum erinnert mich an Achraf Hakimi, den eben deshalb der auch junge Trainer Edin Terzić beim BVB ins Mittelfeld stellte. Oder Sané und Gnabry: Sind womöglich ewige Talente, weil sie nicht erwachsen werden. Gnabry experimentiert mit seinen Frisuren und wirkt auf mich wie jemand, der sich beständig im Spiegel beobachtet. Sané, der sein Gesicht mit Härchen umrankt, ist auch so ein Spieler, der zwischen Atemberaubend und Sinnlos hin und her schwankt. Oder Mané: Kann gut sein, dass er gar nicht richtig in diese Mannschaft passt. Choupo-Moting wiederum ist das beste Beispiel für das Auge eines richtig guten Trainers. Dass er in Leverkusen verletzt ausfiel, brachte das Mannschaftsgefüge durcheinander und trug zum Mangel an Durchschlagskraft bei.

Ja, Nagelsmann hat Fehler gemacht. Öffentliche Massregelung einzelner Spieler fällt darunter. Aber plausible Gründe, den Trainer im Sturzflug zu entlassen, gab es nicht. Die Herren Salihamidzić und Kahn sind höllisch darauf bedacht keinen Fehler zu begehen, und wer das so sehr nicht will, begeht sie eben. Und wie es sich fügte, lebt Thomas Tuchel in München und stünde vermutlich morgen nicht mehr zur Verfügung, weil ihn genügend Vereine für sich gewinnen wollen.

So kam es zu einer Entscheidung, für die es eigentlich keine immanente Begründung gibt. Und am Ende wird Julian Nagelsmann am meisten von dieser Sturzgeburt profitieren, zum Beispiel wenn er bei Real Madrid oder in Chelsea landet. Ich würde mich für ihn freuen.

Die Unbeugsame

Vor ein paar Tagen ist Antje Vollmer gestorben. Sie war eine kleine Frau mit leiser, leicht zittriger Stimme, einem klaren Kopf und ziemlich ausgeprägter Bildung. Sie gehörte zur Gründergeneration der Grünen im Bundestag und hat es länger durchgehalten als Waltraud Schoppe, Marieluise Beck-Overbeck oder Jutta von Ditfurth oder gar die früh gestorbene/ermordete Petra Kelly. Diese Frauen kamen nicht gegen die Männer auf, die durchwegs Machos waren: Joschka Fischer, Jürgen Trittin, Dani Cohn-Bendit, Trampelt/Ebermann usw. Antje Vollmer hieß die Große Grüne, das war im Spaß gesagt und im Ernst gemeint, denn an Verstand und Vernunft machte ihr keiner was vor. Die Grünen im Bundestag nannte sie später „eines der kritischsten Psycho-Gebilde der Republik“. Jürgen Leinemann, der zu den besten Reportern seiner Zeit gehörte, schrieb im September 1994 über sie: „Dass auch sie bei den dynamischneurotischen Prozessen in den eigenen Reihen nicht immer nur mit Edelmut und Opfersinn tätig war, weiß Antje Vollmer heute. Sie bedauert manches. Vieles wirkt nach.“

Das Leben trieb es wild mit ihr. Lebenskrisen gehörten für sie dazu, tiefe Krisen, Blicke in den Abgrund. Sozialismus gepaart mit Christentum. Leidenschaft und Opfer-Pathos. Empfindsamkeit und schneidende Kälte. Solche Gegensätze muss man erst einmal aushalten. Sie können zerreißen, aber auch empor tragen. Meistens hängt der Ausgang von den Umständen ab. In der Politik kommt alles zusammen, das Existentielle mit dem Pragmatischen, das Freundliche mit dem Feindlichen. Der Einsatz für die inhaftierten Terroristen der RAF und das Kümmern um den von einer Messerstecherin schwerverletzten Oskar Lafontaine.

In Antje Vollmers Gemüt ist manches tiefer hineingefallen als bei Joschka oder Otto. Politisch fand sie Ruhe und Sicherheit im zeremoniellen Amt der Vizepräsidentin des Bundestages. Menschlich und theologisch fand sie Respekt und Anerkennung bei so unterschiedlichen Menschen wie Richard von Weizsäcker und Oskar Lafontaine. Der Bundespräsident mit seiner aristokratischen Noblesse mag in ihr die kluge, gefährdete Frau geschätzt und umsorgt haben. Lafontaine lebte diese tiefenscharfe innere Unruhe, die auch sie erfüllte, viel stärker aus, menschlich wie politisch, als es ihr je möglich gewesen wäre.

Antje Vollmer und die anderen grünen Frauen ihrer Generation suchten ihre Rolle jenseits der Macht, welche die Machos wie selbstverständlich an sich rissen. Aber ohne diese Frauen wären die Frauen von heute nicht so weit gekommen, wie sie gekommen sind. Ich weiß gar nicht, ob Annalena Baerbock öfter noch Antje Vollmer begegnet ist und etwas aus ihrem Lebensverständnis mitgenommen hat. Waltraud Schoppe ist im Film „Die Unbeugsamen“ zu sehen. Von ihr ist eine Rede im Bundestag am 5. Mai 1983 in Erinnerung, als sie bei einer Debatte über Abtreibung über von der „fahrlässigen Penetration“ beim Sex und dem alltäglichen Sexismus im Parlament redete. Wie recht sie hatte, bewiesen wütende Zwischenrufer, die geiferten, früher seien Weiber wie sie als Hexen verbrannt worden. So ging es zu, vor 40 Jahren im ehrenwerten deutschen Parlament, das von Schlipsträgern beherrscht war.

Antje Vollmer gehörte zu den Unbeugsamen. Sie leisteten die Vorarbeit, sie ebneten den Weg für die Außenministerin, die Umweltministerin, für Grün-Schwarz wie in Baden-Württemberg, für den Feminismus. Geht es mit einigermaßen rechten Dingen, sind sie dankbar für diese Pionierinnen.

Dann macht mal, jetzt

Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll der Anteil an Sonnenstrom in Deutschland bei 30 Prozent liegen. Die Hausbesitzer gehen munter voran und setzen Solarmodule auf ihre Dächer. Da sie Nachahmer finden, sieht es gut aus. Bei Umfragen, ob sie Photovoltaik erwägen, sagten vier von fünf Befragte, sie wollten demnächst entweder Strom durch Paneele erzeugen oder Wärme durch Solarthermie.

Daran gefällt mir, dass sie einfach machen, weil es sinnvoll ist, und natürlich trägt dazu bei, dass der Staat den Sonnenstrom steuerlich fördert. Worauf es ankommt: Sie müssen nicht dazu gezwungen werden.

Bei Unternehmen sieht es weniger rosig aus. Investitionen auf Firmendächern oder in Solarparks auf freien Flächen sollen sich binnen acht Jahren amortisieren, so lautet die Kalkulation, was unter den herrschenden Bedingungen aber nicht nicht möglich erscheint. Wirtschaftsminister Robert Habeck arbeitet an einer neuen Solarstrategie, die er Anfang Mai vorstellen will. Darauf warten sie nun, die Unternehmer, und zwischen ihnen und Habeck scheint sogar Wohlwollen zu herrschen.

Sieh mal einer an, so geht es also auch. Der Staat setzt Anreize, das schon, und daraus folgen Schritte in die richtige Richtung, wobei Privat vorangeht und Unternehmen gerne folgen dürfen.

Meist laufen die Dinge ja anders. Geht es nach Robert Habeck, werden ab dem Jahr 2024 Öl- und Gasheizungen verboten. Ab dann sollen neue Heizungen zu 65 Prozent aus erneuerbaren Energien Wärme herstellen. Also werden Gasheizungen für eine Zeit neben Wärmepumpen existieren und zugleich gilt Wasserstoff als langfristige Alternative. Ziemlich ehrgeizig, aber immerhin beginnt jetzt die zielgerichtete Diskussion über Optionen und Stufen in der Transformation.

Oder Cem Özdemir: Der Ernährungsminister verlangt nach einem Werbeverbot für Fastfood zum Schutz der Kinder. Rund 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, fast sechs Prozent sind adipös.

Einen Minister, der für Ernährung zuständig ist, können solche Phänomene nicht kalt lassen. Freiwillige Selbstverpflichtung der Werbewirtschaft wäre eine Alternative, führe aber eben zu nichts, sagt Özdemir. Also Verbot. Die FDP ist dagegen, aus Prinzip. Entmündigung der Bürger ist des Teufels aus ihrer Sicht. Das reicht ihr als Argument. Aber reicht es?

Ehrlich gesagt, schwanke ich selber oft genug, ob sich der Staat heraushalten oder einmischen soll. Ob er besser fixe Fristen setzt oder auf den Erfindergeist der Techniker vertraut, denen rechtzeitig schon was einfallen wird.

Beide Grundhaltungen sind idealtypisch in der FDP und bei den Grünen vertreten. Verkehrsminister Volker Wissing machte sich gerade unbeliebt, weil er die Einigung der EU, ab dem Jahr 2035 Verbrenner-Motoren zu verbieten, unterlaufen möchte. Er argumentiert, klimaneutrale Mobilität lasse sich bis dahin womöglich auch durch synthetischen Kraftstoff erreichen. Der Markt möge dann entscheiden.

Klingt gut, klingt erhaben. Niemand spricht so beschwingt vom Markt wie die Liberalen – als wäre er eine reale Schönheit oder zumindest Adam Smiths unsichtbare Hand

Die SPD steht in der Mitte zwischen Grünen und FDP. Dabei ist sie im Übermaß mit der Selbstfindung in der neuen Weltordnung beschäftigt, da Entspannung durch Wandel keine Zauberformel mehr ist. Früher haben Sozialdemokraten mal gesagt, man müsse Ökologie und Ökonomie miteinander versöhnen. Man möchte ihr jetzt zurufen: Dann macht mal, wenn nicht jetzt, wann dann?

Die Konflikte zwischen den Parteien und den handelnden Personen sind echt, nicht taktisch hochgespielt. Der Gegensatz der Interessen prägt sich stärker aus, als es der Dreier-Koalition gut tut. Die Auseinandersetzungen um den Bundeshaushalt sind ein Spiegelbild der Probleme. Dass der Finanzminister den Kabinettsbeschluss verschoben hat, ist ein Alarmzeichen, auch wenn jetzt alle so tun, als sei es halb so schlimm, weil es sich ja nur um Eckpunkte handelt. In Wahrheit ist die übliche Prozedur für den Haushalt 2024 unterbrochen.

Nicht zufällig blockiert sich die Regierung selber. Christian Lindner muss die Schuldenregel einhalten, wie es das Grundgesetz vorsieht. Dazu sind die Zinsen so enorm gestiegen, dass die Mehreinnahmen an Steuern nicht dagegen aufkommen. Das sind Umstände, die ins Gewicht fallen. Und dann will jeder Minister das Meist für sein Ressort herausholen, was denn sonst. Vor allem der Verteidigungsminister hat die Logik auf seiner Seite.

Deutschland wird in den nächsten Jahren auf ganzer Linie transformiert. Lange genug ist nur davon geredet werden, jetzt werden die notwendigen Entscheidungen getroffen und deshalb brechen die unvermeidlichen Konflikte über Abfolge und Geschwindigkeit auf. Am Ende kommt es auf den Kanzler an, auf wen denn sonst. Darauf sind wir jetzt gespannt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Mein Kettenbrief

In letzter Zeit bin ich von einem Buch zum nächsten getragen worden, organisch, wie bei einem Kettenbrief. Darüber bin ich glücklich.

Es fing an mit „Feuer der Freiheit“, einem schönen Buch von Wolfram Eilenberger über vier Philosophinnen, deren Werdegang er von 1928 bis zum Kriegsende verfolgt. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, was die Erkenntnisse vervierfacht, die sich daraus gewonnen lassen. Die Vier sind: Simone de Beauvoir, Simone Weil, Hannah Arendt und Ayn Rand. Die beiden Französinnen sind nahezu gleich alt, kennen sich, sind sich jedoch alles andere als nahe; lebensgeschichtlich wie philosophisch trennen sie Welten. Hannah Arendt ist ebenso eine Einzelgängerin wie Ayn Rand. Beide landen in Amerika, wobei die eine vor den Nazis aus Berlin flieht und die andere vor den Kommunisten aus Petersburg. Mehr haben sie nicht gemeinsam.

Alissa Rosenbaum, die sich Ayn Rand nannte, ist die Älteste, Jahrgang 1905, mit 21 kam sie nach New York. Sie ist auch die erfolgreichste Schriftstellerin mit einer Auflage von 37 Millionen für ihre beiden Bücher „The Fountainhead“ (1943) und „Atlas Shrugged“ (1957). Die Prosa dient ihr als Alibi, um ihre politische Philosophie unterzubringen. Für sie ist jede Form des Kollektivismus (natürlich hat sie die Sowjetunion im Sinn, sieht aber ebensolche Züge in der amerikanischen Gesellschaft) des Teufels und radikaler Subjektivismus die Lösung des Problems, wobei sie ihren Hauptfiguren, zum Beispiel dem Architekten Howard Roark in „Fountainhead“, Züge von Nietzsches Herrenmenschen als Inbegriff geistiger und kultureller Unabhängigkeit verleiht; Nietzsche ist ihr Zentralgestirn. In der Dystopie dieser Welt kann nur der Einzelne überleben, indem er sich aus eigenem Recht unbeirrbar und kompromisslos als als Freigeist definiert. Ayn Rand war die literarische Schwester von libertären Ökonomen wie August von Hayek oder Milton Friedmann.

Der Unterschied zu Simone de Beauvoir oder Hannah Arendt liegt auf der Hand. Beauvoir, für die anfangs Mitmenschen eine gesichtslose, nichtswürdige Masse war, bringt den Anderen, womit ihr Gegenüber gemeint ist, die Gesellschaft, allmähliche Achtung entgegen. Dieses Hintreiben zur Anerkennung der Zeitgenossen, die sie nicht länger ignorieren kann, ist ihr wohl wie eine Kapitulation vorgekommen.

Arendt treibt die Nazi-Gegenwart von der reinen Philosophie, die sie bei Heidegger, ihrem Geliebten, studiert, in die politische Philosophie, in die Vita activa. Sie akzeptiert die Übermacht der Wirklichkeit und studiert sie mit der Kraft ihrer tiefenscharfen Bildung.

Meine Heldin aber wurde Simone Weil, von der ich bis zu Eilenbergers Buch nichts gewusst hatte. Ihr Leben ist wie ein langer Selbstmord. Sie stürzt sich hinein und nimmt Bürden auf sich, die sie körperlich zerrütten. Sie ist klein, kurzsichtig, von Kopfschmerzen geplagt, von schwachen Kräften. Ihre Wirkungsstätte sollte die Bibliothek sein. Ihr Leben sollte aus Büchern bestehen, in denen sie ihre Kenntnis und ihren Scharfsinn entfaltet. Doch, ja, sie schrieb viel und Kluges. Aber stärker noch trieb es sie mit existentialistischem Furor an Orte, an die sie eigentlich nicht gehörte. In Fabriken. In die Gewerkschaftsarbeit. In den Spanischen Bürgerkrieg. Nach London ins Exil, von wo sie mit dem Fallschirm über Frankreich abspringen wollte, um ein paar Nazis zu töten.

Mit radikaler Konsequenz wütete sie gegen ihre Konstitution an. Was sie verdiente, spendete sie zum Großteil, behielt für sich nur den Lohn einer Arbeiterin. Grundsätzlich aß sie zu wenig. Sattheit erschien ihr als verbotener Hedonismus. Ihr Leben war ein langes Sterben, war die Krankheit zum Tode, wie es bei Kierkegaard zu lesen war, der die Philosophie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg befruchtete.

So führte mich das „Feuer der Freiheit“ zur monumentalen Biographie von Simone Pétrement, einer Freundin von Simone Weil. Ich weiß jetzt mehr über die anarchisch-syndikalistische Gewerkschaftsbewegung in Frankreich und Spanien, als ich je wissen wollte. Ich habe jetzt aber auch ein inneres Bild von dieser Frau, die Einkehr in den Katholizismus fand und den heraufziehenden Krieg mit der „Ilias“ in all seinen Schrecken und seiner Menschenverschlingung vorhersah.

Dazu habe ich nebenbei die Autobiographie von Simone de Beauvoir gelesen, die ihre Kindheitserinnerungen derart dicht und eindringlich beschreibt und damit eine versunkene Welt beschwört, wie ich sie sonst nur aus den „Buddenbrooks“ kenne. Sympathisch ist mir nicht geworden, aber das macht nichts, es liegt an ihrer Zuführung jugendlicher Mädchenblüte für Sartre, aber das ist ein anderes Thema.

Den zweiten Kettenbrief hat Helmut Lethen mit seinem Buch „Der Sommer des Großinquisitors“ ausgelöst. Darin verfolgt er die Rezeption der Legende vom Großinquisitors, die eine andere Bedeutung gewinnt, wenn sie von Marcel Proust oder Carl Schmitt gedeutet wird.

Von Lethen kannte ich bis dahin nur den Namen. Auch wusste ich, dass er mit Caroline Sommerfeldt verheiratet ist, die ich aus der „Sezession“ kannte, einem Vierteljahresheft, in dem die Gralshüter der neuen Rechten schreiben. Jetzt weiß ich, sie war Lethens Studentin in Rostock und machte nach 2015 einen Transformationsprozess von Sozialliberal nach Rechts durch, der ihn verstörte, das schon, aber mehr nicht, weil er, wie er schreibt, der Familie höheren Rang einräumt als den intellektuellen Differenzen mit seiner Frau, die gemeinsam mit Höcke auftritt.

Eingangs erzählt Lethen, wie er durch den Zufall der ungesteuerten Lektüre zum Schreiben seines nicht sonderlich dicken Buchs gelangte. Dabei erwähnt er unter anderem die Hiob-Interpretation von Jan Assmann, dem Ägyptologen, was mich sofort dazu veranlasste, den Essay zu kaufen. Assmann interpretiert Hiobs Leidensgang als Wette zwischen Gott und dem Teufel, der in dieser vorchristlichen Zeit ein Gegenspieler in der Tafelgemeinschaft ist, noch nicht der Inbegriff des Bösen. Die Wette zielt auf die Zerstörung Hiobs ab, mit der Frage nach seinem Kern.

Gott spielt also mit Hiob. Es gibt noch nicht den Bund der Juden mit diesem Gott. Israel ist noch nicht das erwählte Volk. Gott ist das universale Prinzip und Hiob hält ihm die Treue über alle Gemeinheiten, Demütigungen, über alle Niedertracht hinweg. Lethen ließ sich von dieser Interpretation inspirieren, als er sich der Legende vom Großinquisitor näherte.

In Dostojewskis „Brüder Karamamasow“ ist die Legende nicht organisch eingefügt. In ihr steckt der Pessimismus, der das Gegendenken im heraufziehenden Zeitalter der Rationalität und Wissenschaftlichkeit mit seinem Fortschrittsoptimismus bildet. Daraus bezieht Dostojewski den Grundstoff für sein Weltbild, das sich literarisch niederschlägt.

Jesus Christus ist wieder ein Gefangener, der sich den Sermon des greisen Großinquisitors schweigend anhört. Der sagt ihm, du hast es dir leicht gemacht, du hast dich mit den Starken zusammen getan, mit einer kleinen Elite, die sich deinen Humanismus aneignen konnte. Aber was ist mit den Schwachen, und sie sind die Mehrheit, die du überforderst mit deiner Aufforderung zum Selbstdenken mit dem Gewissen als Maßstab des Handelns? Wer kümmert sich um sie? Wir kümmern uns, die Kirche, die du so nicht wolltest, die aber noch Bestand hat, weil sie weiß, dass Menschen schwach sind und Leitung brauchen, Führung durch eine übergeordnete Instanz. Das haben wir konsequent auf uns genommen. Deshalb verbrennen wir die Ketzer, und auch du wirst auf dem Scheiterhaufen enden, morgen gleich, und sie, die dich hier in Sevilla erkannt haben und vor dir auf die Knie sanken, werden uns zujubeln, wenn du stirbst. Niemand braucht dich, niemand will dich, dein Kommen ist unerwünscht.

Der Großinquisitor ist am Ende angelangt, ist erschöpft. Alles ist gesagt. Was morgen kommen wird, ist vorbestimmt. Dann aber umarmt der schweigsame Gottessohn den Greis zum Abschied und der ist davon so überrascht, so berührt, dass er ihn bei Nacht und Nebel in die Freiheit entlässt.

Was für ein Stoff für Konstruktion und Rekonstruktion. Was für ein Fundstück für Nihilismus oder Zynismus, für die Grundsatzkritik an Liberalismus und Aufklärung, für die Grundierung einer Herren-Ideologie, genauso wie für eine Apologie der Feindesliebe. Alles lässt sich hineinlesen. Ein Text aus dem 19. Jahrhundert für jedwede ideologische Aufladung im 20. Jahrhundert und darüber hinaus.

Das Büchlein trieb mich zu Lethens Autobiographie mit dem herrlichen Titel „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“. Wer Heiterkeit mit Sachkenntnis gepaart schätzt, ist hier richtig. Und wie es sich fügt, war Lethen mit Heinz Dieter Kittsteiner befreundet, dem früh verstorbenen Ideenhistoriker, der „Stabilisierungsmoderne“ hinterließ, eine (fast fertige) massgebliche Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, die mir zufällig im Herbst in die Hände gefallen war. Lethen und Kittsteiner waren Mitstreiter in einer der traurigen K-Gruppen, in der sich versprengte Reste aus der Studentenbewegung vereint hatten, die vielleicht sonst der RAF anheim gefallen wären. Nebenbei erzählt Lethen, dass ihm Kitt, wie er ihn nennt, die Heirat mit der um 36 Jahre jüngeren Caroline Sommerfeldt nie verziehen hat. Die Freundschaft versandete in Schweigen, wie schade.

Heute Nachmittag gehe ich mit meinem Hund in meine Lieblingsbuchhandlung oben an der Krummen Lanke und hole mir die „Verhaltenslehre der Kälte“ ab, das ist Lethens Opus Magnum. Der Kettenbrief ist noch lange nicht zu Ende.

Wenn nicht mehr genug im Tank ist

Manchmal ist es ja so, dass etwas Bemerkenswertes passiert, aber nicht gegen weltbewegende Ereignisse bestehen kann und deshalb ungenügend gewürdigt wird. Das Versäumnis will ich heute wettmachen und über zwei Frauen schreiben, die vor kurzem Ungewöhnliches taten: Sie legten ihr Amt freiwillig nieder.

Es begann mit Jacinda Arderb, die ihren Rückzug damit begründete, dass ihr die Energie fehle, die Tatkraft für das Amt der Ministerpräsidentin von Neuseeland. Ihr folgte wenige Tage später Nicola Sturgeon, deren Funktion die Schotten „First Minister“ nennen, wobei sich, nebenbei gesagt, die genderfreie englische Sprache aufs Schönste bewährt.

Zwei Frauen gestehen sich und der Welt ein, dass sie nach Jahren in herausragenden Ämtern erschöpft sind, seelisch wie körperlich. Sie ziehen die Konsequenzen und treten zurück. Sie verzichten auf Macht. Sie nehmen Abschied, eher leise, als wäre es selbstverständlich und bitten um Verständnis.

Ohne Außendruck den Rückzug einzuleiten ist unüblich. Das Gegenteil ist Normalität. Konrad Adenauer wäre am liebsten auch noch nach seinem Tod Bundeskanzler geblieben. Helmut Kohl verpasste den richtigen Zeitpunkt, was niemanden verwunderte. Gerhard Schröder sah noch eine Chance zum Weiterregieren, als da keine mehr war. Angela Merkel ist nur eine bedingte Ausnahme, da sie schon 2017 gehen wollte, sich aber zum überlangen Bleiben überreden ließ.

Jacinda Ardern, eine linke Politikerin aus der Labour Party, war 37 Jahre alt, als sie 2017 Ministerpräsidentin von Neuseeland wurde. Im Jahr darauf bekam sie ihr drittes Kind und saß nach sechs Wochen wieder am Schreibtisch. Kurz darauf brachte ein Rechtsextremist 51 Menschen in zwei Moscheen in Christchurch um. Jacinda Ardern fand angemessene Worte, sie war die richtige Frau in einem schrecklichen Augenblick. Plötzlich schaute die Welt auf sie und bewunderte ihre Haltung, ihren Charakter. Plötzlich war sie eine Ikone der Linken, die sich in Amerika oder England oder Deutschland jemanden wie sie wünschten.

Fünfeinhalb Jahre lang war Jacinda Ardern Premierministerin ihres herrlichen Landes. „Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe. So einfach ist das“, begründete sie ihren Rücktritt. Natürlich sah sie dabei nicht glücklich aus.

Nicola Sturgeon erlitt den Brexit, der ihr Land noch mehr von England entfremdete. Schottland ist proeuropäisch gesinnt, aber ohnmächtig gegen die radikalisierten britischen Konservativen. Die Schotten würde schon lange gerne die britische Vormundschaft abschütteln; jetzt noch mehr. Die linksliberale Ministerpräsidentin ist das Herz und die Seele der Weg-von-London-Bewegung. Acht Jahre lang hat sie dieses Amt ausgeübt, das ihr nach und nach die Lebensenergie aussaugte.

Neuseeland und Schottland sind keine Weltmächte, schon wahr. Der ukrainische Präsident Wolodmir Selenskij bat weder Wellington noch Edinburgh um Waffen oder Munition oder Panzer. Beide Länder liegen im Windschatten der Geschichte. Dennoch kommt diesen beiden Frauen das Verdienst zu, dass sie in Freimut über das Schwinden der Kraft reden, das jedermann ereilt, so machtversessen er oder sie auch sein mag.

Wem die Luft zum Atmen knapp wird, muss sich zunächst selber klar machen, dass es in ihm brodelt. Vermutlich vergeht einige Zeit, bis das Gefühl der Unrast, das jagende Herz beim Aufwachen mitten in der Nacht, die aufsteigende Angst, die gelegentliche Antriebslosigkeit zu einem unentwirrbaren Gemütsknäuel wird. Allmählich dringt die innere Not ins Bewusstsein und schreit nach Konsequenzen.

Vermutlich gingen Ardern und Sturgeon erst einmal Kompromisse ein, strichen Termine aus dem übervollen Kalender, leiteten kleine Veränderungen ein, beanspruchten mehr Privatheit im Tagesablauf, über den die Mitarbeiter bestimmen, und das mag sogar Wirkung gezeitigt haben, wenigstens für eine gewisse Zeit. Denn eine so endgültige  Entscheidung wie der Rücktritt ist ein Prozess, der sich quälend hinzieht, bevor er in die Einsicht mündet, es geht nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr so wenig von mir selber haben, von meinem Kind, von meinem Mann. Am Ende steht die Pressekonferenz, auf der sich der komplexe Gemütsprozess in wenigen klaren Sätzen auflöst.

Was bleibt zurück? Die Trauer um den Verlust eines Amtes, auf das sie energisch und zielsicher hingearbeitet hatten. Die Befreiung aus der Tretmühle. Die Rückgewinnung des funktionsfreien Ich. Jacinda Ardern ist 42 Jahre alt, Nicola Sturgeon 52, da geht noch einiges, keine Frage,

Zwei Frauen treten den Rückzug zur Überraschung ihrer Landsleute an. Châpeau! Aber warum thematisieren sie, worunter Männer genauso leiden, ohne es sich und anderen einzugestehen, geschweige denn die Konsequenzen zu ziehen?

Vermutlich haben weniger Frauen als Männer diese Allmachtsphantasien, die zum Anstreben und Ausüben von Macht gehören. Vielleicht schauen Frauen öfter nach Innen, prüfen sich strenger, sind überhaupt kritischer im Umgang mit sich. Vielleicht ist es häufiger so, dass Frauen Macht zum Machen benutzen und nicht als Selbstzweck verstehen, woraus ja fast zwangsläufig die Notwendigkeit zur Machtsicherung fließt, die auch jede Menge Energie bindet.

Timing ist nicht alles in der Politik, aber ohne Timing ist alles nichts. Nun kennen wir zwei Beispiele für die Einsicht in die Notwendigkeit, das Amt niederzulegen. Freiwillig. Aus eigenem Recht. Das bleibt im Gedächtnis der Öffentlichkeit. Und damit stehen die Apostel der Machtversessenheit ab jetzt unter dem Zwang, ihre Verweildauer in Ämtern zu rechtfertigen. Dafür haben die zwei bemerkenswerten Frauen aus Neuseeland und Schottland gesorgt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Basketballer und Bürgerrechtler

Vor ein paar Tagen habe ich eine schreckliche Lücke gefüllt, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Auf Netflix sind zwei Folgen über Bill Russell zu sehen, den ich zwar kannte, aber nicht gut, und wie ich verspätet verstanden habe, hätte ich mich mal besser früher um ihn gekümmert.

Als ich in Amerika lebte, von 2001 bis 2005, entdeckte ich den Basketball für mich. Der Grund lag an Michael Jordan, der zu diesem Zeitpunkt für die Mannschaft bei den Washington Wizards zuständig war. Es war sein erster Job im Management nach einer beispiellosen Karriere, die ebenfalls in einer fabelhaften Serie auf Netflix zu sehen ist, mit dem schönenTitel: The last dance.

Am 11. September 2001 um 10 Uhr morgens wollte Michael Jordan in einer Pressekonferenz bekannt geben, dass er von nun an für die Wizards Basketball spielen wollte, sein drittes Comeback, was natürlich eine Weltsensation bedeutete. Der beste Basketballspieler seiner Generation (um es vorsichtig zu sagen) würde wieder die Zunge rausstrecken, in der Luft stehen (in seinen eigenen Nike-Schuhen) und swutsch würde der Ball durchs Netz zischen, ohne den Ring zu berühren, versteht sich.

Ich war in Washington, MJ war in Washington, wir würden eine wunderbare Zeit miteinander verleben, dachte ich, hoffte ich, malte ich mir aus. Wie man sich denken kann, fiel die heiß erwartete Pressekonferenz aus, weil Mohammed Atta und seine Freunde drei Flugzeuge kaperten und zwei davon in die Twin Towers steuerten und eines nicht ins Kapitol fliege konnten, weil mutige Passagiere für den Absturz der Maschine bei Shanksville sorgten.

Mit den Folgen dieser Zeitenwende war mein Dasein als Korrespondent in den USA fortan ausgelastet. Zur Entspannung, zur Abwechslung, aber auch um dieses Land zu verstehen, schaute ich mir Basketballspiele an, schrieb eine Kolumne für SPIEGELOnline und flößte mir Sachkenntnis ein, indem ich Bücher las: von Charles Barkley (herrlicher Titel: I might be wrong, but I doubt it), von Magic Johnson. Dazu David Halberstams sensationelle Biographie über Michael Jordan und natürlich las ich auch Michael Wilbons Kolumnen in der „Washington Post“.

Ich fühlte mich auf sicherem Boden. Die Geschichte der NBA hatte ich inhaliert. Die heilige Dreifaltigkeit aus Nike, ESPN und Michael Jordan, die aus der NBA ein Milliardengschäft machte, leuchtete mir ein. Ich lernte Dirk Nowitzki kennen, stand vor (genauer gesagt: unter) Shaquille O‘ Neal und saß im „Milano“ an MJ’s Nachbartisch.

Aber ich hatte Bill Russell ausgelassen. Er sagte mir nichts, abgesehen von vielen Ringen, die er für die NBA-Meisterschaften (World Series heißen sie in Amerika in gewohnter Bescheidenheit) gewonnen hatte. Ich hatte Nachholbedarf, dringenden Nachholbedarf, und ahnte es noch nicht einmal. Ich war ignorant, was für ein Mist.

Bill Russell spielte als einer der ersten schwarzen Spieler in der NBA (sie sprachen damals wie selbstverständlich von den Negroes in der Liga). Seine Eltern waren wegen des Rassismus aus dem tiefen Süden nach Kalifornien gezogen. Sie waren vor dem Ku-Klux-Klan und dem Haß der Weißen in den Westen emigriert. Bill Russell spielte nach dem College für die Boston Celtics und gewann in 13 Jahren 11 Meisterschaften. 11! Er war gekommen und ein mittelmäßiges Team verwandelte sich in ein starkes Team.

Nun könnte man meinen: Boston, Neuengland, liberal, keine Vorurteile gegen Schwarze, aber von wegen. Boston war eine schrecklich rassistische Stadt, die einen schwarzen Spieler bei den Celtics duldete, weil er Siege garantierte, aber als Nachbarn wollten sie ihn nicht haben. Dort lebten in den 1950er und 1960er Jahren lauter Alexander Gaulands, der ja auch nicht Jerome Boateng in der Nachbarschaft dulden wollte. Was für eine Schande, was für eine Schmach, die sich Boston da antat. Aber auch die NBA, denn es dauerte, bis der überragende Spieler, nämlich Bill Russell, endlich als MVP ausgezeichnet wurde. Zuvor hatte sich immer irgendein Weißer gefunden, den sie dem Schwarzen vorzogen.

Bill Russell spielte Center. Er brachte es regelmäßig auf 20 bis 30 Punkte und 20 bis 40 Rebounds. Phänomenal. Immer noch bewundernswert anzuschauen, wie er die Bälle pflückt, die vom Brett oder vom Ring abspringen. Nichts daran war Zufall. Russell pflegte zu sagen, Basketball sei wie Geometrie. Der Winkel, unter dem der Ball abprallte, ließ sich berechnen. Es kam nur darauf an, richtig zu stehen, im richtigen Augenblick hochzuspringen und den Ball festzuhalten und sofort zum Konter zu passen, eine Kunstform, die er wie keiner beherrschte. Bill Russell machte ziemlich ziemlich viel richtig.

Im Sport gibt es häufig zwei hervorragende Spieler zu selben Zeit. Beckenbauer und Cruyff. Netzer und Overath. Messi und Ronaldo. Bill Russell lieferte sich mit Wilt Chamberlain epische Duelle. Chamberlain war ein Scorer, sein Rekord mit 100 Punkten steht noch heute und nicht einmal LeBron James reicht heran.

Chamberlain war das Gegenteil von Russell. Russell spielte 13 Jahre für die Celtics. Chamberlain fing im Showbusiness bei den Harlem Globetrotters an, spielte in San Francisco für die Warriors, in Philadelphia für die 76ers und für die Lakers in Los Angeles. Er gewann zwei Meisterschaften. Er war ein Egoman, ein Starspieler. Großartig, das schon, 2,18 m groß, 12 cm mehr als Russell, aber Bill Russell gewann 11 Ringe, weil er das Herz und der Kopf einer Mannschaft war.

Der tiergehende Unterschied zu Chamberlain war dieser: Russell war ein Bürgerrechtler. Er setzte sich für die Gleichberechtigung der Rassen ein. Er demonstrierte mit, er war beim Marsch Martin Luther Kings in Washington dabei. King wollte ihn auf der Bühne haben, aber Russell lehnte ab, das stehe ihm nicht zu, er sein nur ein Basketballspieler, was natürlich nicht stimmte, aber typisch für ihn war, für diese Demut, für das Wissen um seinen Platz.

Wilt Chamberlain beschränkte sich auf seinen eigenen Wohlstand und seinen eigenen Ruhm. Nach ihm hielt es Michael Jordan übrigens genauso. Von ihm stammt der Satz, auch Weiße zahlten Eintritt zu seinen Spielen, warum also sollte er sich gegen sie stellen?

Von Quietismus war Bill Russell weit entfernt. Damit machte er sich verhasst, nicht nur in Boston, aber vor allem dort. Als die Familie eines Tages aus dem Urlaub zurückkommt, findet sie das Haus verwüstet, rassistische Sprüche sind mit Kot an die Wände geschmiert.

Jetzt endlich weiß ich viel über Bill Russell und wie immer lerne ich über den Basketball das Amerika kennen, das seinen Rassismus bewahrt, ohne dass ich wüsste, warum diese Wunde sich nicht schließt, verdammt noch mal.