Vor ein paar Tagen habe ich eine schreckliche Lücke gefüllt, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Auf Netflix sind zwei Folgen über Bill Russell zu sehen, den ich zwar kannte, aber nicht gut, und wie ich verspätet verstanden habe, hätte ich mich mal besser früher um ihn gekümmert.
Als ich in Amerika lebte, von 2001 bis 2005, entdeckte ich den Basketball für mich. Der Grund lag an Michael Jordan, der zu diesem Zeitpunkt für die Mannschaft bei den Washington Wizards zuständig war. Es war sein erster Job im Management nach einer beispiellosen Karriere, die ebenfalls in einer fabelhaften Serie auf Netflix zu sehen ist, mit dem schönenTitel: The last dance.
Am 11. September 2001 um 10 Uhr morgens wollte Michael Jordan in einer Pressekonferenz bekannt geben, dass er von nun an für die Wizards Basketball spielen wollte, sein drittes Comeback, was natürlich eine Weltsensation bedeutete. Der beste Basketballspieler seiner Generation (um es vorsichtig zu sagen) würde wieder die Zunge rausstrecken, in der Luft stehen (in seinen eigenen Nike-Schuhen) und swutsch würde der Ball durchs Netz zischen, ohne den Ring zu berühren, versteht sich.
Ich war in Washington, MJ war in Washington, wir würden eine wunderbare Zeit miteinander verleben, dachte ich, hoffte ich, malte ich mir aus. Wie man sich denken kann, fiel die heiß erwartete Pressekonferenz aus, weil Mohammed Atta und seine Freunde drei Flugzeuge kaperten und zwei davon in die Twin Towers steuerten und eines nicht ins Kapitol fliege konnten, weil mutige Passagiere für den Absturz der Maschine bei Shanksville sorgten.
Mit den Folgen dieser Zeitenwende war mein Dasein als Korrespondent in den USA fortan ausgelastet. Zur Entspannung, zur Abwechslung, aber auch um dieses Land zu verstehen, schaute ich mir Basketballspiele an, schrieb eine Kolumne für SPIEGELOnline und flößte mir Sachkenntnis ein, indem ich Bücher las: von Charles Barkley (herrlicher Titel: I might be wrong, but I doubt it), von Magic Johnson. Dazu David Halberstams sensationelle Biographie über Michael Jordan und natürlich las ich auch Michael Wilbons Kolumnen in der „Washington Post“.
Ich fühlte mich auf sicherem Boden. Die Geschichte der NBA hatte ich inhaliert. Die heilige Dreifaltigkeit aus Nike, ESPN und Michael Jordan, die aus der NBA ein Milliardengschäft machte, leuchtete mir ein. Ich lernte Dirk Nowitzki kennen, stand vor (genauer gesagt: unter) Shaquille O‘ Neal und saß im „Milano“ an MJ’s Nachbartisch.
Aber ich hatte Bill Russell ausgelassen. Er sagte mir nichts, abgesehen von vielen Ringen, die er für die NBA-Meisterschaften (World Series heißen sie in Amerika in gewohnter Bescheidenheit) gewonnen hatte. Ich hatte Nachholbedarf, dringenden Nachholbedarf, und ahnte es noch nicht einmal. Ich war ignorant, was für ein Mist.
Bill Russell spielte als einer der ersten schwarzen Spieler in der NBA (sie sprachen damals wie selbstverständlich von den Negroes in der Liga). Seine Eltern waren wegen des Rassismus aus dem tiefen Süden nach Kalifornien gezogen. Sie waren vor dem Ku-Klux-Klan und dem Haß der Weißen in den Westen emigriert. Bill Russell spielte nach dem College für die Boston Celtics und gewann in 13 Jahren 11 Meisterschaften. 11! Er war gekommen und ein mittelmäßiges Team verwandelte sich in ein starkes Team.
Nun könnte man meinen: Boston, Neuengland, liberal, keine Vorurteile gegen Schwarze, aber von wegen. Boston war eine schrecklich rassistische Stadt, die einen schwarzen Spieler bei den Celtics duldete, weil er Siege garantierte, aber als Nachbarn wollten sie ihn nicht haben. Dort lebten in den 1950er und 1960er Jahren lauter Alexander Gaulands, der ja auch nicht Jerome Boateng in der Nachbarschaft dulden wollte. Was für eine Schande, was für eine Schmach, die sich Boston da antat. Aber auch die NBA, denn es dauerte, bis der überragende Spieler, nämlich Bill Russell, endlich als MVP ausgezeichnet wurde. Zuvor hatte sich immer irgendein Weißer gefunden, den sie dem Schwarzen vorzogen.
Bill Russell spielte Center. Er brachte es regelmäßig auf 20 bis 30 Punkte und 20 bis 40 Rebounds. Phänomenal. Immer noch bewundernswert anzuschauen, wie er die Bälle pflückt, die vom Brett oder vom Ring abspringen. Nichts daran war Zufall. Russell pflegte zu sagen, Basketball sei wie Geometrie. Der Winkel, unter dem der Ball abprallte, ließ sich berechnen. Es kam nur darauf an, richtig zu stehen, im richtigen Augenblick hochzuspringen und den Ball festzuhalten und sofort zum Konter zu passen, eine Kunstform, die er wie keiner beherrschte. Bill Russell machte ziemlich ziemlich viel richtig.
Im Sport gibt es häufig zwei hervorragende Spieler zu selben Zeit. Beckenbauer und Cruyff. Netzer und Overath. Messi und Ronaldo. Bill Russell lieferte sich mit Wilt Chamberlain epische Duelle. Chamberlain war ein Scorer, sein Rekord mit 100 Punkten steht noch heute und nicht einmal LeBron James reicht heran.
Chamberlain war das Gegenteil von Russell. Russell spielte 13 Jahre für die Celtics. Chamberlain fing im Showbusiness bei den Harlem Globetrotters an, spielte in San Francisco für die Warriors, in Philadelphia für die 76ers und für die Lakers in Los Angeles. Er gewann zwei Meisterschaften. Er war ein Egoman, ein Starspieler. Großartig, das schon, 2,18 m groß, 12 cm mehr als Russell, aber Bill Russell gewann 11 Ringe, weil er das Herz und der Kopf einer Mannschaft war.
Der tiergehende Unterschied zu Chamberlain war dieser: Russell war ein Bürgerrechtler. Er setzte sich für die Gleichberechtigung der Rassen ein. Er demonstrierte mit, er war beim Marsch Martin Luther Kings in Washington dabei. King wollte ihn auf der Bühne haben, aber Russell lehnte ab, das stehe ihm nicht zu, er sein nur ein Basketballspieler, was natürlich nicht stimmte, aber typisch für ihn war, für diese Demut, für das Wissen um seinen Platz.
Wilt Chamberlain beschränkte sich auf seinen eigenen Wohlstand und seinen eigenen Ruhm. Nach ihm hielt es Michael Jordan übrigens genauso. Von ihm stammt der Satz, auch Weiße zahlten Eintritt zu seinen Spielen, warum also sollte er sich gegen sie stellen?
Von Quietismus war Bill Russell weit entfernt. Damit machte er sich verhasst, nicht nur in Boston, aber vor allem dort. Als die Familie eines Tages aus dem Urlaub zurückkommt, findet sie das Haus verwüstet, rassistische Sprüche sind mit Kot an die Wände geschmiert.
Jetzt endlich weiß ich viel über Bill Russell und wie immer lerne ich über den Basketball das Amerika kennen, das seinen Rassismus bewahrt, ohne dass ich wüsste, warum diese Wunde sich nicht schließt, verdammt noch mal.