Vor ein paar Tagen ist Antje Vollmer gestorben. Sie war eine kleine Frau mit leiser, leicht zittriger Stimme, einem klaren Kopf und ziemlich ausgeprägter Bildung. Sie gehörte zur Gründergeneration der Grünen im Bundestag und hat es länger durchgehalten als Waltraud Schoppe, Marieluise Beck-Overbeck oder Jutta von Ditfurth oder gar die früh gestorbene/ermordete Petra Kelly. Diese Frauen kamen nicht gegen die Männer auf, die durchwegs Machos waren: Joschka Fischer, Jürgen Trittin, Dani Cohn-Bendit, Trampelt/Ebermann usw. Antje Vollmer hieß die Große Grüne, das war im Spaß gesagt und im Ernst gemeint, denn an Verstand und Vernunft machte ihr keiner was vor. Die Grünen im Bundestag nannte sie später „eines der kritischsten Psycho-Gebilde der Republik“. Jürgen Leinemann, der zu den besten Reportern seiner Zeit gehörte, schrieb im September 1994 über sie: „Dass auch sie bei den dynamischneurotischen Prozessen in den eigenen Reihen nicht immer nur mit Edelmut und Opfersinn tätig war, weiß Antje Vollmer heute. Sie bedauert manches. Vieles wirkt nach.“
Das Leben trieb es wild mit ihr. Lebenskrisen gehörten für sie dazu, tiefe Krisen, Blicke in den Abgrund. Sozialismus gepaart mit Christentum. Leidenschaft und Opfer-Pathos. Empfindsamkeit und schneidende Kälte. Solche Gegensätze muss man erst einmal aushalten. Sie können zerreißen, aber auch empor tragen. Meistens hängt der Ausgang von den Umständen ab. In der Politik kommt alles zusammen, das Existentielle mit dem Pragmatischen, das Freundliche mit dem Feindlichen. Der Einsatz für die inhaftierten Terroristen der RAF und das Kümmern um den von einer Messerstecherin schwerverletzten Oskar Lafontaine.
In Antje Vollmers Gemüt ist manches tiefer hineingefallen als bei Joschka oder Otto. Politisch fand sie Ruhe und Sicherheit im zeremoniellen Amt der Vizepräsidentin des Bundestages. Menschlich und theologisch fand sie Respekt und Anerkennung bei so unterschiedlichen Menschen wie Richard von Weizsäcker und Oskar Lafontaine. Der Bundespräsident mit seiner aristokratischen Noblesse mag in ihr die kluge, gefährdete Frau geschätzt und umsorgt haben. Lafontaine lebte diese tiefenscharfe innere Unruhe, die auch sie erfüllte, viel stärker aus, menschlich wie politisch, als es ihr je möglich gewesen wäre.
Antje Vollmer und die anderen grünen Frauen ihrer Generation suchten ihre Rolle jenseits der Macht, welche die Machos wie selbstverständlich an sich rissen. Aber ohne diese Frauen wären die Frauen von heute nicht so weit gekommen, wie sie gekommen sind. Ich weiß gar nicht, ob Annalena Baerbock öfter noch Antje Vollmer begegnet ist und etwas aus ihrem Lebensverständnis mitgenommen hat. Waltraud Schoppe ist im Film „Die Unbeugsamen“ zu sehen. Von ihr ist eine Rede im Bundestag am 5. Mai 1983 in Erinnerung, als sie bei einer Debatte über Abtreibung über von der „fahrlässigen Penetration“ beim Sex und dem alltäglichen Sexismus im Parlament redete. Wie recht sie hatte, bewiesen wütende Zwischenrufer, die geiferten, früher seien Weiber wie sie als Hexen verbrannt worden. So ging es zu, vor 40 Jahren im ehrenwerten deutschen Parlament, das von Schlipsträgern beherrscht war.
Antje Vollmer gehörte zu den Unbeugsamen. Sie leisteten die Vorarbeit, sie ebneten den Weg für die Außenministerin, die Umweltministerin, für Grün-Schwarz wie in Baden-Württemberg, für den Feminismus. Geht es mit einigermaßen rechten Dingen, sind sie dankbar für diese Pionierinnen.