In letzter Zeit bin ich von einem Buch zum nächsten getragen worden, organisch, wie bei einem Kettenbrief. Darüber bin ich glücklich.
Es fing an mit „Feuer der Freiheit“, einem schönen Buch von Wolfram Eilenberger über vier Philosophinnen, deren Werdegang er von 1928 bis zum Kriegsende verfolgt. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, was die Erkenntnisse vervierfacht, die sich daraus gewonnen lassen. Die Vier sind: Simone de Beauvoir, Simone Weil, Hannah Arendt und Ayn Rand. Die beiden Französinnen sind nahezu gleich alt, kennen sich, sind sich jedoch alles andere als nahe; lebensgeschichtlich wie philosophisch trennen sie Welten. Hannah Arendt ist ebenso eine Einzelgängerin wie Ayn Rand. Beide landen in Amerika, wobei die eine vor den Nazis aus Berlin flieht und die andere vor den Kommunisten aus Petersburg. Mehr haben sie nicht gemeinsam.
Alissa Rosenbaum, die sich Ayn Rand nannte, ist die Älteste, Jahrgang 1905, mit 21 kam sie nach New York. Sie ist auch die erfolgreichste Schriftstellerin mit einer Auflage von 37 Millionen für ihre beiden Bücher „The Fountainhead“ (1943) und „Atlas Shrugged“ (1957). Die Prosa dient ihr als Alibi, um ihre politische Philosophie unterzubringen. Für sie ist jede Form des Kollektivismus (natürlich hat sie die Sowjetunion im Sinn, sieht aber ebensolche Züge in der amerikanischen Gesellschaft) des Teufels und radikaler Subjektivismus die Lösung des Problems, wobei sie ihren Hauptfiguren, zum Beispiel dem Architekten Howard Roark in „Fountainhead“, Züge von Nietzsches Herrenmenschen als Inbegriff geistiger und kultureller Unabhängigkeit verleiht; Nietzsche ist ihr Zentralgestirn. In der Dystopie dieser Welt kann nur der Einzelne überleben, indem er sich aus eigenem Recht unbeirrbar und kompromisslos als als Freigeist definiert. Ayn Rand war die literarische Schwester von libertären Ökonomen wie August von Hayek oder Milton Friedmann.
Der Unterschied zu Simone de Beauvoir oder Hannah Arendt liegt auf der Hand. Beauvoir, für die anfangs Mitmenschen eine gesichtslose, nichtswürdige Masse war, bringt den Anderen, womit ihr Gegenüber gemeint ist, die Gesellschaft, allmähliche Achtung entgegen. Dieses Hintreiben zur Anerkennung der Zeitgenossen, die sie nicht länger ignorieren kann, ist ihr wohl wie eine Kapitulation vorgekommen.
Arendt treibt die Nazi-Gegenwart von der reinen Philosophie, die sie bei Heidegger, ihrem Geliebten, studiert, in die politische Philosophie, in die Vita activa. Sie akzeptiert die Übermacht der Wirklichkeit und studiert sie mit der Kraft ihrer tiefenscharfen Bildung.
Meine Heldin aber wurde Simone Weil, von der ich bis zu Eilenbergers Buch nichts gewusst hatte. Ihr Leben ist wie ein langer Selbstmord. Sie stürzt sich hinein und nimmt Bürden auf sich, die sie körperlich zerrütten. Sie ist klein, kurzsichtig, von Kopfschmerzen geplagt, von schwachen Kräften. Ihre Wirkungsstätte sollte die Bibliothek sein. Ihr Leben sollte aus Büchern bestehen, in denen sie ihre Kenntnis und ihren Scharfsinn entfaltet. Doch, ja, sie schrieb viel und Kluges. Aber stärker noch trieb es sie mit existentialistischem Furor an Orte, an die sie eigentlich nicht gehörte. In Fabriken. In die Gewerkschaftsarbeit. In den Spanischen Bürgerkrieg. Nach London ins Exil, von wo sie mit dem Fallschirm über Frankreich abspringen wollte, um ein paar Nazis zu töten.
Mit radikaler Konsequenz wütete sie gegen ihre Konstitution an. Was sie verdiente, spendete sie zum Großteil, behielt für sich nur den Lohn einer Arbeiterin. Grundsätzlich aß sie zu wenig. Sattheit erschien ihr als verbotener Hedonismus. Ihr Leben war ein langes Sterben, war die Krankheit zum Tode, wie es bei Kierkegaard zu lesen war, der die Philosophie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg befruchtete.
So führte mich das „Feuer der Freiheit“ zur monumentalen Biographie von Simone Pétrement, einer Freundin von Simone Weil. Ich weiß jetzt mehr über die anarchisch-syndikalistische Gewerkschaftsbewegung in Frankreich und Spanien, als ich je wissen wollte. Ich habe jetzt aber auch ein inneres Bild von dieser Frau, die Einkehr in den Katholizismus fand und den heraufziehenden Krieg mit der „Ilias“ in all seinen Schrecken und seiner Menschenverschlingung vorhersah.
Dazu habe ich nebenbei die Autobiographie von Simone de Beauvoir gelesen, die ihre Kindheitserinnerungen derart dicht und eindringlich beschreibt und damit eine versunkene Welt beschwört, wie ich sie sonst nur aus den „Buddenbrooks“ kenne. Sympathisch ist mir nicht geworden, aber das macht nichts, es liegt an ihrer Zuführung jugendlicher Mädchenblüte für Sartre, aber das ist ein anderes Thema.
Den zweiten Kettenbrief hat Helmut Lethen mit seinem Buch „Der Sommer des Großinquisitors“ ausgelöst. Darin verfolgt er die Rezeption der Legende vom Großinquisitors, die eine andere Bedeutung gewinnt, wenn sie von Marcel Proust oder Carl Schmitt gedeutet wird.
Von Lethen kannte ich bis dahin nur den Namen. Auch wusste ich, dass er mit Caroline Sommerfeldt verheiratet ist, die ich aus der „Sezession“ kannte, einem Vierteljahresheft, in dem die Gralshüter der neuen Rechten schreiben. Jetzt weiß ich, sie war Lethens Studentin in Rostock und machte nach 2015 einen Transformationsprozess von Sozialliberal nach Rechts durch, der ihn verstörte, das schon, aber mehr nicht, weil er, wie er schreibt, der Familie höheren Rang einräumt als den intellektuellen Differenzen mit seiner Frau, die gemeinsam mit Höcke auftritt.
Eingangs erzählt Lethen, wie er durch den Zufall der ungesteuerten Lektüre zum Schreiben seines nicht sonderlich dicken Buchs gelangte. Dabei erwähnt er unter anderem die Hiob-Interpretation von Jan Assmann, dem Ägyptologen, was mich sofort dazu veranlasste, den Essay zu kaufen. Assmann interpretiert Hiobs Leidensgang als Wette zwischen Gott und dem Teufel, der in dieser vorchristlichen Zeit ein Gegenspieler in der Tafelgemeinschaft ist, noch nicht der Inbegriff des Bösen. Die Wette zielt auf die Zerstörung Hiobs ab, mit der Frage nach seinem Kern.
Gott spielt also mit Hiob. Es gibt noch nicht den Bund der Juden mit diesem Gott. Israel ist noch nicht das erwählte Volk. Gott ist das universale Prinzip und Hiob hält ihm die Treue über alle Gemeinheiten, Demütigungen, über alle Niedertracht hinweg. Lethen ließ sich von dieser Interpretation inspirieren, als er sich der Legende vom Großinquisitor näherte.
In Dostojewskis „Brüder Karamamasow“ ist die Legende nicht organisch eingefügt. In ihr steckt der Pessimismus, der das Gegendenken im heraufziehenden Zeitalter der Rationalität und Wissenschaftlichkeit mit seinem Fortschrittsoptimismus bildet. Daraus bezieht Dostojewski den Grundstoff für sein Weltbild, das sich literarisch niederschlägt.
Jesus Christus ist wieder ein Gefangener, der sich den Sermon des greisen Großinquisitors schweigend anhört. Der sagt ihm, du hast es dir leicht gemacht, du hast dich mit den Starken zusammen getan, mit einer kleinen Elite, die sich deinen Humanismus aneignen konnte. Aber was ist mit den Schwachen, und sie sind die Mehrheit, die du überforderst mit deiner Aufforderung zum Selbstdenken mit dem Gewissen als Maßstab des Handelns? Wer kümmert sich um sie? Wir kümmern uns, die Kirche, die du so nicht wolltest, die aber noch Bestand hat, weil sie weiß, dass Menschen schwach sind und Leitung brauchen, Führung durch eine übergeordnete Instanz. Das haben wir konsequent auf uns genommen. Deshalb verbrennen wir die Ketzer, und auch du wirst auf dem Scheiterhaufen enden, morgen gleich, und sie, die dich hier in Sevilla erkannt haben und vor dir auf die Knie sanken, werden uns zujubeln, wenn du stirbst. Niemand braucht dich, niemand will dich, dein Kommen ist unerwünscht.
Der Großinquisitor ist am Ende angelangt, ist erschöpft. Alles ist gesagt. Was morgen kommen wird, ist vorbestimmt. Dann aber umarmt der schweigsame Gottessohn den Greis zum Abschied und der ist davon so überrascht, so berührt, dass er ihn bei Nacht und Nebel in die Freiheit entlässt.
Was für ein Stoff für Konstruktion und Rekonstruktion. Was für ein Fundstück für Nihilismus oder Zynismus, für die Grundsatzkritik an Liberalismus und Aufklärung, für die Grundierung einer Herren-Ideologie, genauso wie für eine Apologie der Feindesliebe. Alles lässt sich hineinlesen. Ein Text aus dem 19. Jahrhundert für jedwede ideologische Aufladung im 20. Jahrhundert und darüber hinaus.
Das Büchlein trieb mich zu Lethens Autobiographie mit dem herrlichen Titel „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“. Wer Heiterkeit mit Sachkenntnis gepaart schätzt, ist hier richtig. Und wie es sich fügt, war Lethen mit Heinz Dieter Kittsteiner befreundet, dem früh verstorbenen Ideenhistoriker, der „Stabilisierungsmoderne“ hinterließ, eine (fast fertige) massgebliche Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, die mir zufällig im Herbst in die Hände gefallen war. Lethen und Kittsteiner waren Mitstreiter in einer der traurigen K-Gruppen, in der sich versprengte Reste aus der Studentenbewegung vereint hatten, die vielleicht sonst der RAF anheim gefallen wären. Nebenbei erzählt Lethen, dass ihm Kitt, wie er ihn nennt, die Heirat mit der um 36 Jahre jüngeren Caroline Sommerfeldt nie verziehen hat. Die Freundschaft versandete in Schweigen, wie schade.
Heute Nachmittag gehe ich mit meinem Hund in meine Lieblingsbuchhandlung oben an der Krummen Lanke und hole mir die „Verhaltenslehre der Kälte“ ab, das ist Lethens Opus Magnum. Der Kettenbrief ist noch lange nicht zu Ende.