„Wir werden noch viel Hass und Schmutz erleben“

Wolfgang Ischinger, 74, verbrachte viele Jahre seines Lebens in den USA und ist ein herausragender Kenner der Weltmacht und ihrer Akteure. Joe Biden ist ein steter Gast der Münchner Sicherheitskonferenz gewesen, die Ischinger seit 2008 leitet.

T-online: Herr Ischinger, Sie kennen Joe Biden seit vielen Jahren. Was ist er für ein Mensch?

Ischinger:  Ein typisch offener herzlicher Amerikaner. Ein großer Networker, aber einer mit guten Manieren. Und jemand, der gelernt hat, mit tragischen Schicksalsschlägen umzugehen.

Was sind seine Stärken, was seine Schwächen?

Seine Erfahrung, seine Sachkompetenz aus über 40 Jahren ist eine Riesenstärke. Ihm muss man weder die Nato noch den Weg ins Oval Office erklären. Seine Schwächen? Vielleicht doch das Alter. Kann er mit fast 80 Jahren auf die Erwartungen und das Lebensgefühl der 25Jährigen Amerikaner eingehen, sie inspirieren? Das stelle ich mir als schwierig vor – ich bin selbst ja nur wenige Jahre jünger!

Was für ein Präsident kann er sein – der gütige Großvater, dem nichts Menschliches fremd ist und der am liebsten alle mit allen versöhnt?

Das wird er versuchen wollen und versuchen müssen, ja. Aber er wird sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch Härte zeigen müssen.

 Auf Joe Biden ruhen jetzt fast übergroße Hoffnungen, er selber spricht davon, er wolle Amerika heilen. Kann das mehr sein als ein frommer Wunsch, da Amerika in zwei Teile zerfällt und Trump die Gegensätze bis zum letzten Tag verschärfen dürfte?

Er kann sicher wichtige Anstöße zur Heilung geben, aber die Überwindung der Polarisierung Amerikas ist eine Generationenaufgabe. Das kann Joe Biden nicht, das kann überhaupt niemand innerhalb von vier Jahren schaffen.

Amerikas Demokratie hat Trump überlebt, stand im „New Yorker“. Ist das eine Übertreibung?

Nein, aber die Gefährdungen populistischer, spaltarischer Politik bleiben natürlich. Fast die Hälfte der Amerikaner, 70 Millionen, hätte ja gerne vier weitere Jahre Trump gehabt!

Nicht erst Trump hat Hass gesät, aber er hat ihn verschärft. Wie lange kann es dauern, bis Versöhnung in Amerika möglich wird – eine Generation, zwei Generationen? 

Es wird lange dauern und zur Zeit verschärfen sich die Gegensätze ja eher noch. Wir werden noch viel Schmutz und Hass erleben bis zur Inauguration Joe Bidens am 20. Januar. Und hinterher womöglich auch noch.

Die schwärende Wunde Amerikas ist der Rassismus. Warum hört er nicht auf?

Der Rassismus ist die überragende soziale Frage Amerikas. Der Rassismus sitzt tief. Aber wir sollte dabei auch mal an uns denken und uns fragen, wieso der Antisemitismus bei uns auch immer wieder hochkocht. Immerhin hat sich in Amerika in den letzten 60 Jahren viel verändert. 1960 gab es in den Südstaaten  noch eine umfassende Segregation: keine gemeinsamen Schulen für schwarze und weiße Kinder, Abtrennung in den Restaurants, in sämtlichen öffentlichen Einrichtungen, eine grundsätzliche Benachteiligung in allen Belangen.

Trump muss damit rechnen, nach der Präsidentschaft angeklagt zu werden. Vor 46 Jahren ist Richard Nixon, dem genau das bevorstand, von seinem Nachfolger amnestiert worden. Sollte Biden auch Trump vor einer Anklage bewahren?

Nein, auf keinen Fall. Wir sollten jetzt erst einmal abwarten, ob Trump vielleicht sogar einen eigenen Weg findet, sich selbst zu begnadigen. Darüber wird zur Zeit in Amerika spekuliert.

Die Erleichterung, dass Biden gewonnen hat, ist im demokratischen Teil Amerikas riesengroß. Wie lässt sich die Obama-Falle vermeiden – schale Ernüchterung nach großer Hoffnung?

Vor allzu großer Euphorie sollte man schon jetzt warnen. Biden steht vor fast unlösbaren Herausforderungen. Europa sollte ihm entgegenkommen, ihm Angebote zur Zusammenarbeit unterbreiten. Er braucht ein Europa, das mit ihm weltpolitisch an einem Strang zieht und nicht Däumchen dreht. 

Kennen Sie Kamala Harris?

Nein, nicht persönlich. Aber sie hat sich in Kalifornien einen tollen Ruf erarbeitet. Sie ist eine knallharte Anwältin und natürlich auch eine erfahrene Politikerin. 

Welche Rolle sollte sie spielen?

Sie sollte die Hoffnungen und Erwartungen der Jüngeren und der Nichtweißen repräsentieren! Sie sollte den Präsidenten ergänzen und seine Schwächen ausgleichen.

Was halten Sie von der Spekulation, dass Biden nur zwei Jahre Präsident sein wird und dann zurücktritt, zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen, und sie dann Präsidentin wird?

Davon halte ich nichts. Denn dann wäre Biden schon jetzt ein Lame Duck, er würde sich selber von Anfangen schwächen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit Kamala Harris einen derartigen Deal eingehen wird.

Würden Sie in diesem Fall den Obama-Effekt erwarten – Aufruhr im Trump-Amerika, das sich mit einer schwarzen Präsidentin nicht abfinden will?

Dadurch würden sich sicherlich die Gegensätze noch weiter verschärfen. Sie wäre ja nun mal die erste Frau im Weißen Haus. Für manche Machos in Amerika ist die bloße Vorstellung, dass Kamala Harris in vier Jahren Biden beerben könnte, leider immer noch so gut wie unvorstellbar, eine unerträgliche Zumutung.

 Biden wird Präsident in einem Land, das von der Pandemie versehrt ist und auf absehbare Zeit bleibt. An wem kann er sich ein Beispiel nehmen: an Deutschland oder Neuseeland?

Weder noch. Die USA stehen als kontinentales Riesenland vor anderen Herausforderungen als zum Beispiel Deutschland. Als Präsident wird Joe Biden hart durchgreifen müssen, da Donald Trump versucht hat, die Pandemie zu leugnen, herunterzuspielen. Bis zu Bidens Amtseinführung im Januar werden in Amerika noch sehr viele Menschen sterben!

Was bleibt von vier Jahren Trump, worin besteht sein Erbe und was lässt sich davon zurückdrehen?

Es bleibt eine Verrohung der Gesellschaft, jedenfalls in weiten Teilen. Aber nicht alles muss Biden in nächster Zeit zurückdrehen. Den Antischmusekurs gegenüber China zum Beispiel wird er fortführen wollen.

Erwarten Sie, dass der Konflikt mit Iran entschärft wird?

Ja, und ich hoffe, dass Iran bereit ist, den neuen Präsidenten als Chance zu begreifen, um über das Atomabkommen hinauszugehen.

Ist es im Interesse Amerikas, den Handelskrieg mit China abzubauen?

Ja, es ist besser, über die Handelspolitik  knallhart zu verhandeln als eine strategische Konfrontation anzustreben.

Amerika ist eine Weltmacht, deren Einfluss schrumpft, das bleibt. Welche strategischen Entscheidungen erwarten Sie von Biden?

Biden weiss, dass Amerika Allianzen und Partner benötigt. Allein wird’s nicht gehen. Deshalb wird er in Asien und Europa nach Verbündeten suchen – zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union, mit der Stärkung der Nato. Für uns sind das gute Nachrichten, für uns ist Joe Biden eine gute Nachricht! 

Die Hauptkonflikte der Welt spielen sich künftig in Asien ab. Europa rückt an den Rand des Geschehens, das wissen wir seit längerem. Was muss passieren, damit Europa endlich Konsequenzen daraus zieht?

Die Europäische Union muss lernen, selbst europäische Interessen weltpolitisch zu verteidigen und zu formulieren. Voraussetzung dafür ist es, dass die EU mit einer Stimme spricht, anstatt zum Beispiel gegenüber China mit 27 Einzelstimmen aufzutreten.

In einem Jahr tritt Angela Merkel ab. Schwächt das den Einfluss Deutschlands in einem Moment, da Europa gestärkt werden müsste?

Das hängt von ihrem Nachfolger ab, egal wer es wird. Allerdings sollten wir auch nicht vergessen, dass  Angela Merkel bei ihrer ersten Wahl im Jahr 2005 beileibe nicht die angesehene Führungsfigur war, die sie heute ist. Dafür brauchte sie Zeit, dafür braucht der nächste Kanzler seine Zeit.

Gesetzt dem Fall, Biden bleibt vier Jahre Präsident: Was meinen Sie, wie sieht dann die Welt im besten Fall aus?

Der Westen bleibt eine stabile Größte, die Pandemie ist längst besiegt, es hat keinen neuen Krieg gegeben. Das Verhältnis zu China und Russland ist ordentlich.

Und im schlechtesten Fall?

Den schlechtesten Fall male ich mir lieber gar nicht erst aus. In der Außenpolitik muss man Optimist sein und bleiben! 

Herr Ischinger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online, heute.

Was zum Nachdenken: Wir Heuchler

Heute morgen las ich in der SZ einen Kommentar, der sich mit der Bafin und ihrem Umgang mit Wirecard beschäftigt. Er begann mit diesen Sätzen:

Der Fall Wirecard ist für die deutsche Finanzaufsicht Bafin ein Desaster, keine Frage. Doch was hätte dort besser laufen können? Die europäische Finanzaufsicht, die das Verhalten der Bafin im Fall Wirecard untersucht hat, präsentierte diese Woche einen Bericht. Und der enthielt folgenden Tipp: Die Frauen und Männer der Bafin sollten regelmäßig angesehene, internationale Zeitungen in die Hand nehmen und auch mal auf deren Webseiten nachlesen, ob es Neuigkeiten gibt. Das würde dabei helfen, die richtigen Firmen für Bilanzprüfungen auszusuchen – beispielsweise retrospektive Wirecard.

Das sind gute Ratschläge an die Bafin, und wie es bewährte Übung unter uns Journalisten, gelten die guten Ratschläge den anderen und nicht uns selber. Aber nicht nur die Bafin hat versagt, auch unsere Branche, in Sonderheit die Wirtschaftsjournalisten der großen Blätter, stehen kläglich da. Sie hätten ja auch „internationale Zeitungen in die Hand nehmen“ können, vielleicht haben sie es sogar, was fast noch schlimmer wäre, weil sie dann nicht zur Kenntnis genommen haben, was der britische Kollege geschrieben hat, als die deutschen Kollegen noch besoffen waren von diesem sagenhaften Erfolg von Wirecard, das nach oben schoss und mir nichts, dir nichts in den Dax aufstieg, ohne dass sie die Fragen gestellt hätten, die sich nach Lektüre der FT stellen ließen: Geht das mit rechten Dingen zu? Hat dieser Einzelgänger etwa recht? Und wenn er recht hat, was sagt das über uns aus, die wir nicht genau hingeschaut haben?

Zuerst haben sie nicht genau hingeschaut. Und dann haben sie blitzschnell vergessen, dass nicht nur die Bafin versagt hat, sondern sie auch selber. Und weil sie keine Lust zur Selbstkritik haben oder sie, noch schlimmer, für unnötig erachten, sind sie jetzt auch so unerbittlich in ihrer Kritik am Zustand dieser zahnlosen Institution namens Bafin, anstatt wenigstens ein bisschen bestürzt zu sein, dass ihnen etwas durchgegangen ist, was dem britischen Kollegen nicht durchgegangen ist.

Man nennt das vornehm: Monday morning quarterbacking. Man nennt das weniger vornehm: Heuchelei.

Zu kompliziert gedacht

Am Montag habe ich eine Analyse über die Wahl in Amerika geschrieben, die davon ausging, dass dieses Land auf absehbare Zeit rechts bleiben wird. Ich dachte allerdings, dass Trump trotzdem einigermaßen klar verlieren würde, so dass die Republikaner hinterher die Chance bekämen, einen neuen moderaten Konservatismus zu entwerfen. Auch deshalb dachte ich, dass Trump klar verlieren würde, weil Rechte zwar rechts wählen, aber mit Trump zerfallen sind, weil er so ist, wie er ist.

Irrtum. Zu kompliziert gedacht, Trump hat sein Reservoir voll ausgeschöpft. Diesmal wählten sogar 12 Prozent der Schwarzen den Präsidenten, der ein Ausbund an White Supremacy ist. Für sie waren die Steuererleichterung wichtiger als seine Rassenhetze. Sehr seltsam, hätte ich nun wirklich nicht gedacht.

Andererseits sagt die Wahl nur aus, was wir wissen: Dieses Amerika ist heillos gespalten und wird es bleiben, egal wer gewinnt. Dieses Amerika zerfällt in zwei Länder, blau und rot. Gewalt schlummert nicht nur unterhalb der Oberfläche, wie wir bald merken dürften, wenn es so kommt, wie es kommen kann, und wiederum ist es egal, wer von beiden gewinnt.

Man kann nur beten, dass in den Bundesstaaten, die knapp an einen von beiden gingen, sauber ausgezählt worden ist. Nicht auszudenken, wenn aus Dummheit/Fahrlässigkeit/Tücke Betrug begangen worden sein sollte. In Amerika ist immer alles möglich.

Wenn überhaupt, wird es für Biden ein deprimierender Sieg sein. Für Trump, wenn überhaupt, natürlich eine deprimierende Niederlage, die ihn aber nur zu einem neuen Höhenflug an Brandstifterei animieren wird. Und am Ende wird Trump das Oberste Gericht auf die Loyalität testen, die ihm die Richter/in schulden, weil er es war, der sie dort untergebracht hat.

It ain’t over, until it’s over.

Mein Amerika

Mit Mitte Zwanzig war ich zum ersten Mal in Amerika und habe über dieses Land gestaunt: die irrsinnig schöne Landschaft, die Gastfreundschaft, diese klugen Leute an den Universitäten. Mir fiel aber auch auf, wie die Weißen mit den Schwarzen umgingen: verklemmt, verlegen, unwillig, aggressiv. 

Von den Präsidenten mochte ich eigentlich nur John Fitzgerald Kennedy, den damals alle mochten, wenn er auch keineswegs ein Säulenheiliger war, wie wir später erfuhren. Und dann natürlich Barack Obama, dieser kluge Mann, der mehr Fehler und Irrtümer beging, als wir je gedacht hätten.

Ich habe kommen sehen, dass Donald Trump die Wahl gewinnt. Ich habe nicht kommen sehen, was er bedeuten würde: Lug und Trug, Rassenhetze, Bösartigkeit und Niedertracht. Als Politik. Als Machtkalkül. Ersonnen im Weißen Haus.

Amerika hat immer noch diese beneidenswerte Natur und die klügsten Leute im Erdkreis. Zugleich ist es nicht mehr ein Land, sondern zwei. Ist es geplagt von zivilen Unruhen. Jeder neue erschossene Schwarze kann wieder eine  brennende Stadt bedeuten. Nie gab es mehr Waffen in mehr Händen als heute in Amerika und nie gab es mehr Lustangst, die dazu führen kann, damit herum zu schießen. Auf den Nachbarn, der anders wählt. Auf den anderen, der auch eine Waffe hält. Auf die Feinde Trumps.

Was ist los in diesem Land? Wann hat der Irrsinn angefangen? 

  1.  Trump ist nicht an allem schuld, das wäre zu viel der Ehre. Er hat vieles verschlimmert, aber das politische System war lange vor ihm dysfunktional. Es begann unter Bill Clinton und seinem Lügen mit der Wahrheit, als seine Eckenstehereien mit Monica Lewinsky herauskamen. Technisch gesehen hatte er wirklich keinen Sex mit dieser Frau, wie er unnachahmlich sagte, weil Blowjobs so ablaufen, wie sie ablaufen. Die Amoralität und das Lügen mit der Wahrheit, dazu die Selbstgerechtigkeit beider Clintons, dass die Gesetz für alle anderen gelten, bildeten eine Vorahnung, was kommen könnte. Donald Trump hat vollendet, was bei den Clintons angelegt war. Vom Lügen mit der Wahrheit bis zum gänzlich unverschämten Lügen als Prinzip der Machtausübung ist es ein großer Schritt, aber auch ein folgerichtiger.

     Das zweite Prinzip steuerte George W. Bush bei, der ironischerweise an  Beliebtheit gewonnen hat, weil er Trump verachtet. Entweder sie sind für uns oder gegen uns, war sein Leitsatz. Nicht zu vergessen, die falschen Beweise für den Irak-Krieg.

2.   Rassismus ist die Ursünde der Republik der Weißen, welche die Schwarzen als Sklavenarbeitsheer in Ketten aus Afrika heranholen ließen. Weit mehr als 200 Jahren ist das her. Unfassbar, dass der Rassismus noch immer nicht Vergangenheit ist. Nicht nach dem Ersten Weltkrieg, in dem die Schwarzen dienten. Nicht nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem noch viel mehr Schwarze dabei waren. Nicht nach der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, als der Rassismus offiziell endete. Donald Trump hat den Rassismus verschärft, auf die Spitze getrieben, in seiner übelsten Form wiederbelebt. Als Präsident. Aus dem Weißen Haus heraus, das schwarze Sklaven bauten. Er protegiert den übelsten weißen Mob und lässt es zu, dass dieser Mob vom Bürgerkrieg gegen die Demokraten faselt. 

Amerika war immer ein Land der Gewalt. Oft genug bewaffneten sich Menschen und nannte sich Ku-Klux-Klan oder gingen in die Wälder oder verschanzten sich auf einsamen Gehöften. Nur gab es bislang keinen Präsidenten, der von solchen Banden sagt: Ich kenne sie nicht, aber sie mögen mich.

3.  Der Historiker Samuel Huntington sagte 1981, dass Amerika etwa 40 Jahre später, also heute, wieder mal in einen Fieberkrampf verfallen würde. Seine Theorie war nämlich, dass dieses Land ungefähr alle 60 Jahre einem solchen Kataklysmus erleide. In den sechziger Jahren waren es die Babyboomer, die sich durch Vietnam und Nixon radikalisierten. Sie brachten linksliberalen Moralismus über das Land, der sich vom Recht auf Abtreibung über die Pop-Kultur bis zur Verachtung überkommener Werte erstreckte. Trump surfte auf der Welle der Gegenbewegung ins Weiße Haus: weißer Nationalismus; Außenseitergruppen, vereint im Hass auf den Mainstream; Verachtung für konventionelle Politik, die sich im Gibst-du-mir-gebe-ich-dir-Konsens und im Heute-sind-wir-dran-und-morgen-ihr erschöpfte.

In der Vergangenheit lässt sich die These von den Konvulsionen im Ungefähr- 60-Jahre-Rhythmus belegen. Trifft sie weiterhin zu, bleibt Amerika noch lange im Bann der Rechten, die sich in die Mitte der Gesellschaft hinein bewegen mag, wie sich die Studentenrevolte auf den Marsch durch die Institutionen begeben hat. Trump hat ihnen eine Schneise geschlagen, das bleibt.

4.   Von Trump bleibt auch, dass er die Linke nach seiner Vorstellung geformt hat. Die demokratische Partei hat sich in den vergangenen vier Jahren genauso erschreckend radikalisiert wie die Rechte. Alles ist spiegelverkehrt: der Hass auf Trump, die Verachtung für seine Machtgrundlage in den Medien und unter den weißen Nationalisten, die Missachtung für Kompromisse und Rücksichtnahme im demokratischen System, die Vorliebe fürs Dysfunktionale. Denn falls die Demokraten im Repräsentantenhaus die Mehrheit behalten und sie im Senat gewinnen, gibt es keinerlei Grund, nicht durch zu regieren, nicht das Oberste Gericht durch linksliberale Richter so zu ergänzen, dass sich die Mehrheit wieder ändert. Rücksichtslosigkeit und Konsensfeindlichkeit sind kein rechtes Monopol. 

Von Trump lernen, heißt siegen lernen. Auch ohne Trump bleibt Amerika Trump-Land.

5.  Gehen wir mal davon aus, dass Trump abgewählt wird. Joe Biden wird dann kein Präsident aus eigenem Recht sein. Die Demokraten haben sich auf ihn geeinigt, weil er am ehesten mehrheitsfähig zu sein schien. Nicht weil er Amerika wieder groß macht oder versöhnt oder weil er das alte System vertritt, in dem zum Beispiel der Demokrat John Kerry und der Republikaner John McCain gemeinsam für diplomatische Beziehungen mit Vietnam eintraten. Nicht weil er für die Restauration des Alten steht, sondern weil er der gütige Großvater ist, dem man sagen kann, was er tun soll.

Vom ersten Tag nach der Wahl an werden unterschiedliche Kräfte an Biden zerren und ihn daran erinnern, dass nur sie ihn zu dem Präsidenten gemacht haben, der er auf seine alten Tage sein darf. Die Obama-Leute werden ihm Ratschläge für die Besetzung der wichtigsten Ämter im Weißen Haus und im Kabinett erteilen und einige Obama-Leute werden an Schaltstellen zurückkehren. Und die Bernie-Sanders-Leute werden dem guten Joe Ratschläge erteilen, wen er bloß nicht nehmen soll und was er auf keinen Fall sagen soll. Die Moderaten und die Linken werden sich eine Schlacht um die Vorherrschaft im Weißen Haus liefern, die uns noch oft den Kopf schütteln lässt.

6.  Wenn Joe Biden am Dienstag gewinnt, dann hoffentlich hoch und unzweifelhaft und unleugbar. Sonst gnade Gott Amerika.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute

Nero an D-Day

Ich werde fast täglich gefragt, ob ich immer noch der Meinung sei, dass Trump am kommenden Dienstag verlieren werde. Ja, ich bin noch immer der Meinung, der ich seit ungefähr einem Vierteljahr bin. Ich hoffe nur darauf, dass ihn eine unzweideutige Niederlage ereilt, damit er nicht quengeln kann, dass die Briefwahl krumm ist oder das Wetter zu gut oder zu schlecht war. Fällt die Wahl knapp aus, ist alles möglich. Dieser Mann ist wie Nero. Er könnte Washington, er könnte das ganze Land in Brand stecken.

Zwiesprache mit der Kanzlerin

Bei Lichte besehen, hätten die CDU schon früher Zweifel beschleichen können, ob es klug ist, einen Parteitag in Stuttgart mit 1001 Delegierten durchzuführen. Das erste Zugeständnis bestand im Zusammenschnurren von drei Tagen auf einen einzigen Tag. Der zweite Schritt erfolgte, als es gar nicht mehr anders ging. Da war die Bundeskanzlerin den Entscheidungsträgern in ihrer Partei wieder mal weit voraus.

Der Kanzlerin genau zuzuhören, hätte genügt. Uns beschwört Angela Merkel, daheim zu bleiben, möglichst wenige Leute zu treffen, vorsichtig zu sein. Ihre Parteifreunde hätten sich bemüßigt fühlen können, die Konsequenzen zu ziehen. Haben sie nicht. Wollten sie vielleicht auch nicht. Ließen sie laufen. Die ganze letzte Woche ging es hin und her: Sollen wir, sollen wir nicht, können wir uns das überhaupt leisten, wahrscheinlich nicht, was werden die Leute sagen.

Was die Leute sagen, das ist immer eine gute Frage in der Politik. Auf wen die Leute hören, ist die wichtigere Frage. Auf die Kanzlerin hören sie offenbar noch und interessant ist die Zwiesprache, die sich da abspielt und aus der alle drei Kandidaten etwas lernen können.

Auf jeden einzelnen kommt es an, beschwört uns die Kanzlerin immer wieder. Wir können dazu beitragen, die rasante Verbreitung einzudämmen, wie es uns schon mal gelungen ist. Soweit man sieht, ist der Appell bei der übergroßen Mehrheit angekommen, mal abgesehen von 600 Fetisch-Partygängerin in Berlin und der kleinen Ansammlung von maskenfreien Corona-Leugnern, die es in diesen Tagen schwer haben, beim Leugnen zu bleiben. 

Für uns Einzelne ist der Alltag die größtmögliche Ansteckungsquelle. Alltag ist Anarchie. Wen wir treffen, suchen wir uns nicht aus. Uns treffen wir in Bussen und Bahnen, Regional- und Fernzügen. Je voller sie sind, desto näher rücken wir uns auf die Pelle. Je mehr Züge fahren und je mehr von uns drinnen sind, desto voller sind die Bahnhöfe. Da kann jeder von uns nur hoffen, dass die anderen nicht vorher auf Fetischpartys oder heimlichen Zusammenballungen waren und uns anstecken, trotz Maske, aber eben ohne Sicherheitsabstand, der sich in größeren Menschenansammlungen nun mal nicht einhalten lässt.

Corona hält uns im Bann. Corona bestimmt unser Leben. Schränkt natürlich auch unsere Demokratie ein, indem die Exekutive bestimmt und die Legislative meistens nur zuschauen kann. Parteitage in regelmäßiger Folge dienen der internen Demokratie. Die CDU braucht einen neuen Vorsitzenden, das weiß sie nicht erst seit gestern. Ist schon verdammt lange her, dass AKK gesagt hin, ich will nicht mehr Vorsitzende sein, ihr müsst euch jemand anders suchen. Und nun vermasselt Corona auch noch die Selbstfeier samt Wahl eines neuen Vorsitzenden, der zugleich, jedenfalls der Theorie nach, der nächste Kanzler sein kann.

Deutschland ist in vergleichbarer Lage wie Amerika. Ich gehe davon aus, dass Trump geht und Biden kommt. Von Biden wissen wir, dass er ein netter Mensch sein soll und ein Produkt des alten politischen Systems. Trump werden nur seine Fans vermissen, das ist der Unterschied zu Angela Merkel, die viele von uns noch bitter vermissen werden, wenn sie auf ihre Datsche entschwunden ist und ihren Nachfolger machen lässt, was sie 16 Jahre lang gemacht hat. 16 Jahre.

Ein netter Mensch wie Biden ist Armin Laschet auch. Nett ist aber kein besondereres Kriterium für Kanzlerschaft. Friedrich Merz wirkt nicht nett, sondern markig, aber vor allem wie von gestern. Norbert Röttgen bemüht sich um Nettigkeit, ist aber der ewige Klassensprecher, der alles weiß und den keiner richtig mag.

Von Joe Biden will niemand wissen, wie er seine Partei definieren will und wohin er das Land zu führen beabsichtigt. Von unseren drei Matadoren wird das Selbstverständliche auch nicht abgefragt. Das Selbstverständliche wären Antworten auf solche Fragen: Welche Art von Konservatismus vertretet ihr? Wie sozial soll die Marktwirtschaft sein und wie national soll sie werden, damit die CDU auf Dauer der AfD das Wasser abgräbt, oder soll es einfach so weitergehen, als wäre Angela Merkel noch da? Und was sagt ihr eigentlich zu Wirecard, der großen Luftnummer, die gestern noch die große Dax-Nummer war? Und sollte die Anklage gegen den Audi-Chef Rupert Stadler und seine drei Mitangeklagten eigentlich Schule machen, zum Beispiel im Fall VW? Mal abgesehen von Fragen wegen Konsequenzen im Giftfall Nawalny – und sollte die Nord Stream 2 gestoppt werden?  

Corona verhindert leider auch solche naheliegende Fragen an Kandidaten, die sich um das eine Amt bewerben und das andere Amt, in dem noch Angela Merkel waltet, fest im Auge haben. Die Drei scheinen das nicht zu bedauern. Das wirkliche Trauerspiel besteht darin, dass wir alle unterfordert werden, wir Wähler, die wir uns im September entscheiden müssen, nicht nur die CDU, in der es wegen der lauen Kandidaten grummelt und rumort.

Kanzler müssen keine Intellektuellen sein. Sie mögen nett sein oder nicht, vor allem müssen sie wirklich wollen, was sie anstreben: ohne ein bisschen Machtmenschentum geht es nicht. Und es wäre angemessen, wenn sie ernsthaft darüber reden würden, wohin sie ihre Partei und das Land führen wollen, in Europa, in der Nato. Die Bewerbungsrede auf dem Parteitag muss auch eine Bewerbungsrede für die Kanzlerschaft sein, damit wir wissen, was wir von diesem Vorsitzenden, der Angela Merkel beerben will, halten sollen.

Nun haben sie den Parteitag verschoben. Auf das Frühjahr. Als Präsenzveranstaltung, was man ja gut versteht. Dann sind auch zwei Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Dann schön was los. Mal schauen, ob Corona am Ende mitspielt oder wieder alles durcheinander bringt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute

Die Macht füllte ihn nicht aus

Einer aus dem Betrieb, den jeder kannte und viele mochten, stirbt ganz plötzlich. Thomas Oppermann wollte tun, was er so oft getan hatte, ein Interview geben. Nichts Besonderes, ein paar Minuten lang, daheim in Göttingen. Zusammenbruch und Tod. Aus dem Nichts, keine Vorwarnung. Mitten aus dem Leben gerissen, wie es jetzt in den Nachrufen seiner Kollegenfreunde, die nicht nur in der SPD saßen, sondern auch in anderen Parteien, jetzt heißt.

Es ist nun mal so: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Jeder von uns weiß das, jeder von uns verdrängt es, was denn sonst. Politik verschlingt mehr als andere Berufe die Menschen, weil sie ständig auf dem Präsentierteller stehen und begutachtet werden: Noten für Aussehen und Auftreten, für Intelligenz und Charakter, für Reden oder Schweigen, ob sie souverän wirken oder schnell beleidigt sind. Sie sollen professionell sein, aber auch souverän. Uns regieren, aber auch einer von uns sein.

Wenn dann jemand aus dem Leben gerissen wird, halten die anderen Politikerinnen und Politiker für einen Augenblick inne. Die Bekundungen der Trauer und Betroffenheit sind dann oft genug sogar ehrlich gemeint. Solidarität ist ein schönes, aber rares Gut, im Angesicht des Todes leichter verfügbar. Die Anteilnahme, die Thomas Oppermann parteiübergreifend zuteil wird, gilt dem fairen und sympathischen Kollegen und sie folgt dem Gedanken: Oh Gott, das könnte mir genau so passieren, auf den Einsatz bei „Bonn direkt“ warten und peng, aus ist es.

Vor ein paar Wochen saß ich in einer kleinen Runde mit Thomas Oppermann. Er war entspannt und wirkte distinguiert, was bei Sozialdemokraten nicht die Norm ist. Er war mit sich im Reinen, er wollte im nächsten Jahr nicht mehr antreten, er war 66, es war genug. Gerne wäre er mehr als zweite Reihe geworden, Innenminister zum Beispiel, aber vor ihm waren etliche Machtmenschen, die auch aus Niedersachsen kamen: Schröder, Stuck, Gabriel. Ab nächstem Jahr wollte er noch mal etwas anderes machen, wie man eben so sagt, wenn man sich zum Gehen entschlossen hat.

Oppermann war kein Machtmensch. Er war belesen und bedacht. Schlank und sportlich. Er trank nicht, er sah erheblich jünger aus, als er war. Im Harz rannte er gerne den Brocken hinauf. Ein angenehmer Gesprächspartner, gerade weil er sich nicht aufpumpte. Ich hätte ihm gegönnt, wenn er noch viele Spiele seiner BG Göttingen hätte schauen können, denn Basketballfan war er seit seiner Jugend.

Natürlich wusste Thomas Oppermann, was Macht ist, aber sie füllte ihn nicht aus. Das Menschliche war stärker, deshalb verlor er sich nicht in dreißig Jahre Politik. Wie schön für ihn und wie schade, dass ihm das Leben nach der Politik verwehrt bleibt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.