Wolfgang Ischinger, 74, verbrachte viele Jahre seines Lebens in den USA und ist ein herausragender Kenner der Weltmacht und ihrer Akteure. Joe Biden ist ein steter Gast der Münchner Sicherheitskonferenz gewesen, die Ischinger seit 2008 leitet.
T-online: Herr Ischinger, Sie kennen Joe Biden seit vielen Jahren. Was ist er für ein Mensch?
Ischinger: Ein typisch offener herzlicher Amerikaner. Ein großer Networker, aber einer mit guten Manieren. Und jemand, der gelernt hat, mit tragischen Schicksalsschlägen umzugehen.
Was sind seine Stärken, was seine Schwächen?
Seine Erfahrung, seine Sachkompetenz aus über 40 Jahren ist eine Riesenstärke. Ihm muss man weder die Nato noch den Weg ins Oval Office erklären. Seine Schwächen? Vielleicht doch das Alter. Kann er mit fast 80 Jahren auf die Erwartungen und das Lebensgefühl der 25Jährigen Amerikaner eingehen, sie inspirieren? Das stelle ich mir als schwierig vor – ich bin selbst ja nur wenige Jahre jünger!
Was für ein Präsident kann er sein – der gütige Großvater, dem nichts Menschliches fremd ist und der am liebsten alle mit allen versöhnt?
Das wird er versuchen wollen und versuchen müssen, ja. Aber er wird sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch Härte zeigen müssen.
Auf Joe Biden ruhen jetzt fast übergroße Hoffnungen, er selber spricht davon, er wolle Amerika heilen. Kann das mehr sein als ein frommer Wunsch, da Amerika in zwei Teile zerfällt und Trump die Gegensätze bis zum letzten Tag verschärfen dürfte?
Er kann sicher wichtige Anstöße zur Heilung geben, aber die Überwindung der Polarisierung Amerikas ist eine Generationenaufgabe. Das kann Joe Biden nicht, das kann überhaupt niemand innerhalb von vier Jahren schaffen.
Amerikas Demokratie hat Trump überlebt, stand im „New Yorker“. Ist das eine Übertreibung?
Nein, aber die Gefährdungen populistischer, spaltarischer Politik bleiben natürlich. Fast die Hälfte der Amerikaner, 70 Millionen, hätte ja gerne vier weitere Jahre Trump gehabt!
Nicht erst Trump hat Hass gesät, aber er hat ihn verschärft. Wie lange kann es dauern, bis Versöhnung in Amerika möglich wird – eine Generation, zwei Generationen?
Es wird lange dauern und zur Zeit verschärfen sich die Gegensätze ja eher noch. Wir werden noch viel Schmutz und Hass erleben bis zur Inauguration Joe Bidens am 20. Januar. Und hinterher womöglich auch noch.
Die schwärende Wunde Amerikas ist der Rassismus. Warum hört er nicht auf?
Der Rassismus ist die überragende soziale Frage Amerikas. Der Rassismus sitzt tief. Aber wir sollte dabei auch mal an uns denken und uns fragen, wieso der Antisemitismus bei uns auch immer wieder hochkocht. Immerhin hat sich in Amerika in den letzten 60 Jahren viel verändert. 1960 gab es in den Südstaaten noch eine umfassende Segregation: keine gemeinsamen Schulen für schwarze und weiße Kinder, Abtrennung in den Restaurants, in sämtlichen öffentlichen Einrichtungen, eine grundsätzliche Benachteiligung in allen Belangen.
Trump muss damit rechnen, nach der Präsidentschaft angeklagt zu werden. Vor 46 Jahren ist Richard Nixon, dem genau das bevorstand, von seinem Nachfolger amnestiert worden. Sollte Biden auch Trump vor einer Anklage bewahren?
Nein, auf keinen Fall. Wir sollten jetzt erst einmal abwarten, ob Trump vielleicht sogar einen eigenen Weg findet, sich selbst zu begnadigen. Darüber wird zur Zeit in Amerika spekuliert.
Die Erleichterung, dass Biden gewonnen hat, ist im demokratischen Teil Amerikas riesengroß. Wie lässt sich die Obama-Falle vermeiden – schale Ernüchterung nach großer Hoffnung?
Vor allzu großer Euphorie sollte man schon jetzt warnen. Biden steht vor fast unlösbaren Herausforderungen. Europa sollte ihm entgegenkommen, ihm Angebote zur Zusammenarbeit unterbreiten. Er braucht ein Europa, das mit ihm weltpolitisch an einem Strang zieht und nicht Däumchen dreht.
Kennen Sie Kamala Harris?
Nein, nicht persönlich. Aber sie hat sich in Kalifornien einen tollen Ruf erarbeitet. Sie ist eine knallharte Anwältin und natürlich auch eine erfahrene Politikerin.
Welche Rolle sollte sie spielen?
Sie sollte die Hoffnungen und Erwartungen der Jüngeren und der Nichtweißen repräsentieren! Sie sollte den Präsidenten ergänzen und seine Schwächen ausgleichen.
Was halten Sie von der Spekulation, dass Biden nur zwei Jahre Präsident sein wird und dann zurücktritt, zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen, und sie dann Präsidentin wird?
Davon halte ich nichts. Denn dann wäre Biden schon jetzt ein Lame Duck, er würde sich selber von Anfangen schwächen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit Kamala Harris einen derartigen Deal eingehen wird.
Würden Sie in diesem Fall den Obama-Effekt erwarten – Aufruhr im Trump-Amerika, das sich mit einer schwarzen Präsidentin nicht abfinden will?
Dadurch würden sich sicherlich die Gegensätze noch weiter verschärfen. Sie wäre ja nun mal die erste Frau im Weißen Haus. Für manche Machos in Amerika ist die bloße Vorstellung, dass Kamala Harris in vier Jahren Biden beerben könnte, leider immer noch so gut wie unvorstellbar, eine unerträgliche Zumutung.
Biden wird Präsident in einem Land, das von der Pandemie versehrt ist und auf absehbare Zeit bleibt. An wem kann er sich ein Beispiel nehmen: an Deutschland oder Neuseeland?
Weder noch. Die USA stehen als kontinentales Riesenland vor anderen Herausforderungen als zum Beispiel Deutschland. Als Präsident wird Joe Biden hart durchgreifen müssen, da Donald Trump versucht hat, die Pandemie zu leugnen, herunterzuspielen. Bis zu Bidens Amtseinführung im Januar werden in Amerika noch sehr viele Menschen sterben!
Was bleibt von vier Jahren Trump, worin besteht sein Erbe und was lässt sich davon zurückdrehen?
Es bleibt eine Verrohung der Gesellschaft, jedenfalls in weiten Teilen. Aber nicht alles muss Biden in nächster Zeit zurückdrehen. Den Antischmusekurs gegenüber China zum Beispiel wird er fortführen wollen.
Erwarten Sie, dass der Konflikt mit Iran entschärft wird?
Ja, und ich hoffe, dass Iran bereit ist, den neuen Präsidenten als Chance zu begreifen, um über das Atomabkommen hinauszugehen.
Ist es im Interesse Amerikas, den Handelskrieg mit China abzubauen?
Ja, es ist besser, über die Handelspolitik knallhart zu verhandeln als eine strategische Konfrontation anzustreben.
Amerika ist eine Weltmacht, deren Einfluss schrumpft, das bleibt. Welche strategischen Entscheidungen erwarten Sie von Biden?
Biden weiss, dass Amerika Allianzen und Partner benötigt. Allein wird’s nicht gehen. Deshalb wird er in Asien und Europa nach Verbündeten suchen – zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union, mit der Stärkung der Nato. Für uns sind das gute Nachrichten, für uns ist Joe Biden eine gute Nachricht!
Die Hauptkonflikte der Welt spielen sich künftig in Asien ab. Europa rückt an den Rand des Geschehens, das wissen wir seit längerem. Was muss passieren, damit Europa endlich Konsequenzen daraus zieht?
Die Europäische Union muss lernen, selbst europäische Interessen weltpolitisch zu verteidigen und zu formulieren. Voraussetzung dafür ist es, dass die EU mit einer Stimme spricht, anstatt zum Beispiel gegenüber China mit 27 Einzelstimmen aufzutreten.
In einem Jahr tritt Angela Merkel ab. Schwächt das den Einfluss Deutschlands in einem Moment, da Europa gestärkt werden müsste?
Das hängt von ihrem Nachfolger ab, egal wer es wird. Allerdings sollten wir auch nicht vergessen, dass Angela Merkel bei ihrer ersten Wahl im Jahr 2005 beileibe nicht die angesehene Führungsfigur war, die sie heute ist. Dafür brauchte sie Zeit, dafür braucht der nächste Kanzler seine Zeit.
Gesetzt dem Fall, Biden bleibt vier Jahre Präsident: Was meinen Sie, wie sieht dann die Welt im besten Fall aus?
Der Westen bleibt eine stabile Größte, die Pandemie ist längst besiegt, es hat keinen neuen Krieg gegeben. Das Verhältnis zu China und Russland ist ordentlich.
Und im schlechtesten Fall?
Den schlechtesten Fall male ich mir lieber gar nicht erst aus. In der Außenpolitik muss man Optimist sein und bleiben!
Herr Ischinger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Veröffentlicht auf t-online, heute.