Zwiesprache mit der Kanzlerin

Bei Lichte besehen, hätten die CDU schon früher Zweifel beschleichen können, ob es klug ist, einen Parteitag in Stuttgart mit 1001 Delegierten durchzuführen. Das erste Zugeständnis bestand im Zusammenschnurren von drei Tagen auf einen einzigen Tag. Der zweite Schritt erfolgte, als es gar nicht mehr anders ging. Da war die Bundeskanzlerin den Entscheidungsträgern in ihrer Partei wieder mal weit voraus.

Der Kanzlerin genau zuzuhören, hätte genügt. Uns beschwört Angela Merkel, daheim zu bleiben, möglichst wenige Leute zu treffen, vorsichtig zu sein. Ihre Parteifreunde hätten sich bemüßigt fühlen können, die Konsequenzen zu ziehen. Haben sie nicht. Wollten sie vielleicht auch nicht. Ließen sie laufen. Die ganze letzte Woche ging es hin und her: Sollen wir, sollen wir nicht, können wir uns das überhaupt leisten, wahrscheinlich nicht, was werden die Leute sagen.

Was die Leute sagen, das ist immer eine gute Frage in der Politik. Auf wen die Leute hören, ist die wichtigere Frage. Auf die Kanzlerin hören sie offenbar noch und interessant ist die Zwiesprache, die sich da abspielt und aus der alle drei Kandidaten etwas lernen können.

Auf jeden einzelnen kommt es an, beschwört uns die Kanzlerin immer wieder. Wir können dazu beitragen, die rasante Verbreitung einzudämmen, wie es uns schon mal gelungen ist. Soweit man sieht, ist der Appell bei der übergroßen Mehrheit angekommen, mal abgesehen von 600 Fetisch-Partygängerin in Berlin und der kleinen Ansammlung von maskenfreien Corona-Leugnern, die es in diesen Tagen schwer haben, beim Leugnen zu bleiben. 

Für uns Einzelne ist der Alltag die größtmögliche Ansteckungsquelle. Alltag ist Anarchie. Wen wir treffen, suchen wir uns nicht aus. Uns treffen wir in Bussen und Bahnen, Regional- und Fernzügen. Je voller sie sind, desto näher rücken wir uns auf die Pelle. Je mehr Züge fahren und je mehr von uns drinnen sind, desto voller sind die Bahnhöfe. Da kann jeder von uns nur hoffen, dass die anderen nicht vorher auf Fetischpartys oder heimlichen Zusammenballungen waren und uns anstecken, trotz Maske, aber eben ohne Sicherheitsabstand, der sich in größeren Menschenansammlungen nun mal nicht einhalten lässt.

Corona hält uns im Bann. Corona bestimmt unser Leben. Schränkt natürlich auch unsere Demokratie ein, indem die Exekutive bestimmt und die Legislative meistens nur zuschauen kann. Parteitage in regelmäßiger Folge dienen der internen Demokratie. Die CDU braucht einen neuen Vorsitzenden, das weiß sie nicht erst seit gestern. Ist schon verdammt lange her, dass AKK gesagt hin, ich will nicht mehr Vorsitzende sein, ihr müsst euch jemand anders suchen. Und nun vermasselt Corona auch noch die Selbstfeier samt Wahl eines neuen Vorsitzenden, der zugleich, jedenfalls der Theorie nach, der nächste Kanzler sein kann.

Deutschland ist in vergleichbarer Lage wie Amerika. Ich gehe davon aus, dass Trump geht und Biden kommt. Von Biden wissen wir, dass er ein netter Mensch sein soll und ein Produkt des alten politischen Systems. Trump werden nur seine Fans vermissen, das ist der Unterschied zu Angela Merkel, die viele von uns noch bitter vermissen werden, wenn sie auf ihre Datsche entschwunden ist und ihren Nachfolger machen lässt, was sie 16 Jahre lang gemacht hat. 16 Jahre.

Ein netter Mensch wie Biden ist Armin Laschet auch. Nett ist aber kein besondereres Kriterium für Kanzlerschaft. Friedrich Merz wirkt nicht nett, sondern markig, aber vor allem wie von gestern. Norbert Röttgen bemüht sich um Nettigkeit, ist aber der ewige Klassensprecher, der alles weiß und den keiner richtig mag.

Von Joe Biden will niemand wissen, wie er seine Partei definieren will und wohin er das Land zu führen beabsichtigt. Von unseren drei Matadoren wird das Selbstverständliche auch nicht abgefragt. Das Selbstverständliche wären Antworten auf solche Fragen: Welche Art von Konservatismus vertretet ihr? Wie sozial soll die Marktwirtschaft sein und wie national soll sie werden, damit die CDU auf Dauer der AfD das Wasser abgräbt, oder soll es einfach so weitergehen, als wäre Angela Merkel noch da? Und was sagt ihr eigentlich zu Wirecard, der großen Luftnummer, die gestern noch die große Dax-Nummer war? Und sollte die Anklage gegen den Audi-Chef Rupert Stadler und seine drei Mitangeklagten eigentlich Schule machen, zum Beispiel im Fall VW? Mal abgesehen von Fragen wegen Konsequenzen im Giftfall Nawalny – und sollte die Nord Stream 2 gestoppt werden?  

Corona verhindert leider auch solche naheliegende Fragen an Kandidaten, die sich um das eine Amt bewerben und das andere Amt, in dem noch Angela Merkel waltet, fest im Auge haben. Die Drei scheinen das nicht zu bedauern. Das wirkliche Trauerspiel besteht darin, dass wir alle unterfordert werden, wir Wähler, die wir uns im September entscheiden müssen, nicht nur die CDU, in der es wegen der lauen Kandidaten grummelt und rumort.

Kanzler müssen keine Intellektuellen sein. Sie mögen nett sein oder nicht, vor allem müssen sie wirklich wollen, was sie anstreben: ohne ein bisschen Machtmenschentum geht es nicht. Und es wäre angemessen, wenn sie ernsthaft darüber reden würden, wohin sie ihre Partei und das Land führen wollen, in Europa, in der Nato. Die Bewerbungsrede auf dem Parteitag muss auch eine Bewerbungsrede für die Kanzlerschaft sein, damit wir wissen, was wir von diesem Vorsitzenden, der Angela Merkel beerben will, halten sollen.

Nun haben sie den Parteitag verschoben. Auf das Frühjahr. Als Präsenzveranstaltung, was man ja gut versteht. Dann sind auch zwei Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Dann schön was los. Mal schauen, ob Corona am Ende mitspielt oder wieder alles durcheinander bringt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute